Das liest man in Deutschland
«Boah, ist das langweilig gewesen!»
Sarah Kirsch verzeichnet Miniaturen ihres Alltagslebens im Erzählband «Sommerhütchen»
Was passiert, wenn eine der beliebtesten deutschen Schriftstellerinnen sich an ihren Laptop setzt und zu schreiben beginnt? Sarah Kirsch legt mit Sommerhütchen einen kuriosen Band vor, der eine ideelle Fortführung von Regenkatze (2007) sein will. Dieses Buch macht uns unter anderem auf die mediale Revolution und ihre Bedeutung für die Literatur aufmerksam: Auf dem Bildschirm aus Flüssigkristall werden Gedanken sichtbar gemacht, bevor sie sich auf Papier niederschlagen, und aus der Unmittelbarkeit der neuen Kommunikationsmittel ergibt sich eine gewisse Reduktion in der Ausdrucksweise, die auch die literarische Sprache affiziert. Kirsch speichert in ihrem Computer manche triviale Ereignisse ihres – gar nicht so spannenden – Alltagslebens und listet sie neben den großen Begebenheiten der Gegenwart auf, von denen sie meistens durch das Fernsehen erfährt.
In der Grundschule sagten einem die Lehrer, man sollte eine halbe Seite pro Tag schreiben, kurze Aufsätze über den Alltag verfassen. Wo bin ich gewesen, was hab ich gemacht, wie bewegt sich die Welt um mich? Man hat bei einer ersten Lektüre dieser Tagebücher der Dichterin den Eindruck, sich vor solchen Seiten zu befinden. Kirsch berichtet lakonisch, dass sie fast jeden Tag «spazoren» geht und die Post holt, dass sie Tuareg- oder Sufi-CDs, Scarlatti-Sonaten oder Sinti-Geigenmusik hört, Banana Yoshimotos Romane liest und Geschenke von ihren Fans sowie Bücher von Amazon zugeschickt bekommt. Sie putzt das Haus gründlich («Ich bin der Manager des Hauses. Es ist mein Spinnennetz»), trinkt heißen Rotbuschtee und kocht Schwein mit Pilzen, im Fernsehen werden «Der Kommissar» und die EM-Fußballspiele gesendet, im Radio «hoffentlich was anders als Gottesdienste». Die unspektakulärsten Dinge werden bei ihr mit Bedeutung aufgeladen.
Auf ein ähnliches poetisches Verfahren setzte die 1935 im thüringischen Limlingerode geborene und 1996 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnete Schriftstellerin schon in ihren Gedichten. Karl-Heinz Jakobs hat mit Recht eine Abwendung vom metaphorischen oder philosophischen Sprechen in der Lyrik von Sarah Kirsch festgestellt: «Stuhl war Stuhl und nicht Bild für etwas anderes». Und Harald Hartung sieht in der Thematisierung der einfachen Dinge des Lebens – Natur, Landschaft, Reisen, Liebe, Freizeitbeschäftigungen und «so urtümlich sinnliche Genüsse wie Essen und Trinken» – eines der auffälligsten Kennzeichen ihrer Dichtung.
Wie in ihren Gedichten – die oft als Ökolyrik bezeichnet werden – wird auch in diesen kurzen Prosanotizen der Natur eine zentrale Rolle beigemessen. Die Landschaften des Dorfes Tielennahme in Schleswig-Holstein, in dem sie seit 1983 wohnt, begleiten die trockenen Beschreibungen des verregneten Sommers 2004. Das Buch fängt mit der Eintragung vom 16. April – dem 69. Geburtstag der Dichterin – an, als die Bäume die ersten Blätter hervorbringen, und endet am 16. September mit einer auf den Winter vorbereitenden Stimmung. Innerhalb dieser fünf Monate registriert Kirsch die Bewegungen der Natur: Die Glyzinie vor ihrem Schreibzimmerfenster, die blühenden Mirabellen auf dem Deich, die Pappeln und die Kastanienbäume auf den Pfaden, die lebhaften Stare und Schwalben sowie die auf einer Silberweide nistenden Krähen. In ihren Beobachtungen, geführt mit naturwissenschaftlich geschultem Blick, ist die Schriftstellerin Sarah Kirsch zugleich die Diplom-Biologin Ingrid Bernstein, die 1963 eine Abschlussarbeit Über Ektoparasiten bei Muriden in und in der Umgebung von Halle an der Universität Halle präsentierte. Minutiöse Beschreibungen von Tieren, Vögeln, Pflanzen, Bäumen und Wetterphänomenen beherrschen ihre Seiten. In der Einsamkeit der Natur führt Kirsch sogar profane Gespräche mit Emily, ihrer ‹seelenverwandten› Katze.
Man könnte sich fragen, ob diese Beschäftigung mit der Umwelt und der zauberhaften Natur eine Art Eskapismus oder Refugismus darstelle, besonders wenn die Autorin vom Wetterbericht zur Geiselnahme von Beslan, von den Schießereien im Gazastreifen zum netten Spaziergang ohne große Probleme zu schwanken scheint. Besonders kühle Textstellen irritieren den Leser zutiefst: «Im Irak wurde ein Dolmetscher, ein Südkoreaner gekidnappt und vor laufender Kamera enthauptet. Ich muss Post machen, 2000 Abdrucksersuchen liegen an. Lauter Quarkanthologien wie üblich. Ostwind und Regen an die Fenster vom Karpathenzimmer, das ist selten genug. Und abends Folgendes: die Deutschen haben gegen die B-Auswahl der Tschechen glorreich verloren»; «Blüht ein herrlicher Seeigelkaktus, hellviolett. Die Buchfinken sind wieder beim Füttern. [...] Skandale um hunderte Fotos amerikanischer Soldaten beim Umgang mit irakischen Gefangenen. Die kolossale Fototechnik hat es verraten. Zu Hause beim Drogisten flog alles auf. [...] Psychoterror und Folter. Soldatinnen, die sich hervortun. Weiterhin Anschlag auf Anschlag. Täglich 10 tote Amerikaner und dreimal so viele einheimische Tote. Auch britische Soldaten haben Gefangene gefoltert. War spazoren bei lediglich 12 Grad. Emily sprang mit Maurice im Garten herum, als er die Fahnen tauschte.»
Man empört sich vor dem schreienden Kontrast zwischen den grausamsten Nachrichten aus der Welt und der scheinbaren Idylle der Natur und des Mikrokosmos der Autorin. Es wird jedoch damit jene Indifferenz hervorgehoben, mit der wir täglich Meldungen von Terroranschlägen und Menschheitsverbrechen flüchtig verschlucken und nicht verdauen, um mit unseren insignifikanten Beschäftigungen weiterzumachen. Hinter dem Gerede über die Natur, hinter dem «Gespräch über Bäume», das für Bertolt Brecht «in finsteren Zeiten» ein Verbrechen ist, steckt also ein Gespräch über und für die Gesellschaft, das über den Rand der Zeilen dieser Tagebuchnotate hinausgeht.
Was noch schließlich zu bemerken bleibt, neben den schönen Zeichnungen von Dieter Goltzsche, die die schlichten Tagesberichte der Dichterin in sowohl stilistischem als auch thematischem Einklang begleiten, ist das ständige Spiel mit der Sprache. Die Namen der Monate und der Wochentage werden metamorphisiert, sodass quasi ein neues Kalendar entsteht: «Junius» statt Juni, «Julius» statt Juli, «Mayen» statt Mai; April wird zu «Mandril», Mittwoch zu «Mistwoch», Donnerstag zu «Donner». Und dann der sprachgeografisch nicht zu lokalisierende Dialektmischmasch, den Kirsch unter anderem aus dem Österreichischen, dem Plattdeutschen und dem Berlinerischen schafft – eine Art Esperanto-Deutsch. Das Ganze drückt die Schriftstellerin in einer familiären Umgangssprache aus, mit nüchtern poetischen Formulierungen gewürzt, die an den typischen «Sarah-Ton» (Peter Hacks) ihrer Gedichte erinnern.
Man mag gelegentlich gähnen beim Lesen dieses Buches. Schuld muss die Langweile sein, die in diesen knappen Erzählungen über die «durchschnittliche Exotik des Alltags» (Hans Magnus Enzensberger) trotz ihrer Poetizität aufsteigt.
Von Daniele Vecchiato
Sarah Kirsch: Sommerhütchen. Mit Zeichnungen von Dieter Goltzsche.
Steidl Verlag, Göttingen 2008.
Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de