Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №14/2009

Das liest man in Deutschland

Wenn der Sinn im Irrsinn liegt

Zu Kerstin Hensels Roman «Lärchenau»

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Welche Rolle spielen Welt- und Landesgeschichte in der märkischen Provinz? Glaubt man Kerstin Hensel, nur eine untergeordnete. Im Mikrokosmos der kleinen märkischen Gemeinde «Lärchenau» wird nur wahrgenommen, was sich vor der eigenen Haustür abspielt, und so kehrt die Autorin den Dreck der letzten sechzig Jahre hervor und zeichnet ein Sittengemälde, das von Gewalt, Ignoranz, Verblendung und Schuld geprägt ist, in dem aber auch Verrat, Verlust und Vergeblichkeit ihren Platz haben.
Lärchenau hat wenig zu bieten: «kein Schlachtendenkmal, keine alte Feldsteinkirche, kein berühmtes Restaurant, nicht einmal ein Storchennest.» Aber Wälder, Heideflächen, einen See und den Landsitz derer von Lärchenau. Der alte Graf war kurz vor Kriegsende westwärts gezogen, im Gepäck nazistisches Rassedenken und die Verantwortung für den Abtransport und die Ermordung von Rochus Lingott – Landarzt, Dandy und Liebhaber der jungen Krankenschwester Rosie Konarske. Rosie bekommt ihren Sohn Gunter ledig und muss sich von dem sie sexuell missbrauchenden Vater öffentlich durchs Dorf jagen lassen. Als der Vater erkrankt, lässt sie ihn mit Schlaftabletten betäubt im Mennichesee ertrinken. Dort wird auch sie sich später vergiften und noch später ihr Enkel ertrinken. Der Mennichesee, dessen Dialektfärbung an bleirotes Mennige denken lässt, bleibt im Roman ein zwar Heilung versprechender, aber letztlich todbringender Ort.
Rosies Sohn Gunter zeigt sich schon als Kleinkind fasziniert von Spritzen, Sezierwerkzeug, Messern und anderen spitzen Gegenständen und führt an seinem Spielzeug chirurgische Eingriffe durch. Er ist überzeugt, dass sein Vater ein Zauberer war, und so steht der verstorbene Doktor Lingott auch für den positiv konnotierten «Halbgott in Weiß». Gunter Konarske mutiert dagegen im Verlauf der Geschichte immer mehr zu einem Wissenschaftler ohne Gewissen, erfüllt also den Gegenpart des seelenlosen Forschers, der ohne moralische Skrupel experimentiert und anstelle von Mitgefühl und Mitleid höchstens Neugierde empfindet oder aus Angst Lust schöpft.
Adele Möbius wird in Katz­grün, das schon in seinem Anklang an Katzengold und Grünspan auf die Verwirrungen von Schein und Sein hinweist, geboren. Ihre Mutter Liese ist überzeugt, sie sei das Kind des Führers, die Zwillingsschwester Lotte hält eher den hinkenden Dorfdeppen für den Erzeuger. Adele jedoch glaubt wie ihre Mutter an den «Fiehror» (Führer). Nach dem Tod von Liese und Lotte kommt das Mädchen ins Heim und träumt sich dort fort, sicher, durch Herkunft und Anspruch zu Höherem bestimmt zu sein. Bei der Heirat mit dem aufstrebenden Arzt Gunter Konarske sieht sie sich dem Ziel ihrer Träume nahe und dient ihm willig als anatomisches Anschauungsmaterial und schreckbeflügeltes Lustobjekt.
Währenddessen wird, nur eine Autostunde entfernt, die Mauer gebaut, doch abgesehen von der vagen Vermutung, dass der LPG-Leiter sicher auch hier seine Finger im Spiel habe, betrifft dies die Dorfbewohner wenig. Nach Lärchenau kommt man über Philadelphia, heraus jedoch kommt man selten.
Während der junge Arzt die Karriereleiter immer weiter hinauf steigt, stagniert Adeles Leben. Sie versinkt in Langeweile und Selbstüberdruss und träumt sich mit Hilfe von Likör und Opernmusik aus der engen Welt in ein triviales Märchen. Als ihr Sohn geboren wird, stellt sein Vater enttäuscht fest, dass es an ihm keinen Makel, keine Verwachsung, keine irgendgeartete Missbildung gibt, die sein wissenschaftliches Interesse wecken könnte, und er überlässt Frau und Kind der Wohlstandverwahrlosung. Konarske hilft lieber der Schweinezucht des Ortes durch potenzsteigernde Mittel zu neuer Blüte und lässt sein Mittel auch Menschen angedeihen. Ohne deren Wissen und ohne Erfolg; die lebensunfähigen Föten enden in den Formaldehyd-Gläsern des Professors.
Konarske avanciert in dieser Zeit zu einem der angesehensten Wissenschaftler des Landes. Als Mitglied des Reisekaders empfängt er die Nachricht vom Fall der Mauer in New York. Seine Frau Adele kann, da der Fernseher kaputt und sie selbst sturzbetrunken ist, die Meldung nicht bestätigen. Die Zeit der Wende und unmittelbaren Nachwendezeit wird im Buch auffallend kurz und bündig abgehandelt. In kurzen Absätzen wird verknappt, was sich zuvor vielfältig und verwoben darstellte. Erst später nimmt die Autorin das Fabulieren wieder auf, spinnen sich Geschichten anstelle der Aufzählung fiktiver Fakten.
So rechnet sich Gunter Konarske im neuen Jahrtausend Chancen auf den Nobelpreis aus. Seine Frau ist weiterhin gefügiges Versuchsobjekt für seine Forschungsbemühungen, die inzwischen von Fortpflanzung zu Verjüngung gewechselt haben. Adele, die ihren Sohn im Mennichesee verloren hat, ist der Zeit- und Lieblosigkeit und der Affären ihres Mannes überdrüssig. Nach einem Besuch ihres Geburtsortes, bei dem sie den Irrtum über ihre Herkunft einsehen muss, befreit sie sich von der Bevormundung durch den Gatten. Sie spritzt sich das von ihm verordnete Serum nicht länger subkutan, sondern intravenös und entwickelt sich von einer Sechzigjährigen zurück zum Mädchen. Bei ihrem Tod trägt sie Kniestrümpfe und Glaskirschen an den Zöpfen.
So wie Adeles Mörder den gleichen Namen trägt wie jener Retter, der sie zu Beginn ihrer Geschichte nach Hause bringt, gibt es im ganzen Buch kaum blinde Motive. Mit großer Konsequenz werden hier Erzählstränge verknüpft, Personen oder Namen wieder aufgegriffen, begonnene Geschichten zu Ende geführt. Das Spektrum der Persönlichkeiten umfasst alle charakterlichen Spielarten, weniges ist undenkbar und Wirklichkeit erhält im Unwirklichen Gestalt. Das Panoptikum skurriler Gestalten und bizarrer Geschehnisse bietet im Zerrspiegel der Groteske eine Art Nische für durchaus authentische Akteure.
Auch wenn Kerstin Hensel in der «FAZ» eine hasserfüllte Menschendarstellung vorgeworfen wird und durchaus eine Art «Vergiftung» fast aller Charaktere und Beziehungen konstatiert werden muss, begegnet die Autorin ihren Figuren zwar schonungslos, aber keinesfalls ablehnend. Die apersonale Art der «Berichterstattung» schildert Täter und Mitläufer, Opfer und Geopferte gleichermaßen distanziert, aber nie gleichgültig.
Lärchenau ist weder eine Umkehrung des landläufigen Arztromans noch billige Kolportage, sondern ein Schelmenstück der neuen Welt, das alle Teilnehmenden den Irrsinn des Lebens in Geschichte und Gegenwart durchspielen lässt.

Von Juliane Schöneich

Kerstin Hensel: Lärchenau. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2008.

Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de