Wissenschaft und Technik
Geheimnis des antiken Computers
Der Mechanismus von Antikythera gilt als ältester Computer der Welt – und er ist so komplex, dass Forscher ihn bis heute nicht vollständig verstehen. Ein großer Kongress soll nun dabei helfen, der Uraltmaschine ihre letzten Geheimnisse zu entreißen.
So könnte die Maschine ausgesehen haben: In weltweit einer Handvoll Museen gibt es Nachbauten des Mechanismus von Antikythera, darunter auch im Astronomisch-Physikalischen Kabinett in Kassel. Das hier gezeigte Exemplar steht in Athen.
Es war die wohl erste Unterwasser-Archäologieexpedition aller Zeiten, doch das wichtigste Fundstück blieb fast unbeachtet. Rund ein Jahr, nachdem der griechische Schwammtaucher Elias Stadiatis im Frühjahr 1900 nahe der kleinen Insel Antikythera ein versunkenes römisches Schiffswrack entdeckt hatte, durfte er auch bei der Hebung der vermuteten Schätze mitarbeiten. Aus rund 40 Metern Tiefe bargen Stadiatis und seine Kollegen Statuen aus Marmor und Bronze sowie andere Kunstschätze aus dem 300-Tonnen-Handelsschiff. Auch Alltagsgegenstände wie Amphoren und Münzen kamen ans Tageslicht – und ein schuhkartongroßer Klumpen, der unter der Archivnummer 15087 katalogisiert und anschließend vergessen wurde.
Während vor allem die Statuen die Wissenschaftler faszinierten°– nur wenige griechische Bronzeplastiken hatten die Wirrungen von zwei Jahrtausenden an Land überstanden –, kümmerte sich kaum jemand um den deformierten Klumpen. Im Mai 1902 bemerkte der griechische Archäologe Valerios Stais dann, dass das Artefakt aufgesprungen und in mehrere Teile zerbröselt war. Das Gerät, das später als Mechanismus von Antikythera bekannt werden sollte, war zerstört – und Forscher versuchen seitdem mühevoll, den Überbleibseln ihre Geheimnisse zu entlocken.
Erst seit einigen Jahren ist klar, dass der mysteriöse Mechanismus unter anderem ein Kalender zur Vorhersage von Mond- und Sonnenfinsternissen war – und, wie man seit vergangenem Sommer weiß, auch eine Art Terminplaner für die Wettbewerbe in den Zeiten zwischen den Olympischen Spielen. Doch längst sind noch nicht alle Fragen geklärt. Der antike Computer, dessen Präzision mehr als tausend Jahre lang unerreicht blieb, gibt den Forschern noch immer Rätsel auf. Ende Juli haben sich mehrere hundert Antikythera-Forscher in Budapest zu einem mehrtägigen Kongress getroffen, um einige von ihnen zu besprechen.
Insgesamt 82 Fragmente des Mechanismus gibt es, drei davon sind öffentlich zu sehen in der Bronzesammlung des Archäologischen Nationalmuseums in Athen. Mehrfach sind die Überbleibsel bisher mit Röntgenstrahlen durchleuchtet worden. Mit modernsten Methoden der Computertomografie stellten Forscher die Bauteile der Maschine Schicht für Schicht am Rechner dar – und kamen einer Rekonstruktion damit sehr nahe.
Doch das Bild der Maschine ist noch immer unvollständig, weil Bruchstücke fehlen. «Ich vermute, dass wir etwa zwei Drittel des Mechanismus kennen», sagt der Astronom Mike Edmunds von der Cardiff University in Wales. Er arbeitet beim Antikythera Mechanism Research Project mit, einem Zusammenschluss von Universitäten und Firmen aus Großbritannien, Griechenland und den USA.
Fundamentale Dinge sind noch immer ungeklärt, wie Edmunds erklärt: «Hatte das Gerät auch eine Anzeige für die Planeten? Und wenn ja, wie sah diese aus?» Hinweise auf eine entsprechende Funktion gibt es: Die griechischen Namen der Himmelskörper Merkur (Hermes) und Venus (Aphrodite) werden in den Inschriften erwähnt, die wie eine Mischung aus schriftlicher Gebrauchsanweisung und Astronomielehrbuch auf Bronzeplatten graviert wurden.
Ob diese Platten eine Abdeckung waren oder sich wie eine Tür öffnen ließen, wissen die Forscher nicht. Yanis Bitsakis von der Universität Athen arbeitet gerade daran, die Inschriften zu entziffern. Er hält es für «sehr, sehr wahrscheinlich», dass es eine Planetenanzeige gab. Für seine Arbeit muss er sich aber mit einer entscheidenden Widrigkeit herumschlagen: «Fast die gesamte Oberfläche der Bronzeplatten ist mit Zeichen bedeckt. Doch von beinahe jedem Satz fehlen uns Anfang und Ende», beklagt er. Bisher habe man zwar rund 2300 Zeichen identifizieren können, doch nicht bei allen sei der Zusammenhang klar.
Stolz ist Bitsakis auf ein etwa 200 Zeichen langes Textstück, das quasi komplett erhalten sei. «Es handelt sich um die Beschreibung eines astronomischen Phänomens», sagt der Forscher. Bei der Interpretation des restlichen Textes haben die Wissenschaftler gleich mehrere entscheidende Probleme. Zum einen wissen sie von einigen Textfragmenten nicht, wo sie im Gesamtzusammenhang eingeordnet werden müssen, zum anderen – und das ist weit gravierender – fehlt ihnen schlicht der Großteil des Textes. Irgendetwas zwischen einem Viertel und einem Drittel des Originaltextes habe man, schätzt Bitsakis.
Vergessen auf dem Meeresgrund – oder im Museumsdepot
Der Rest liege entweder irgendwo auf dem Grund des Meeres oder vergessen und unkatalogisiert in einem griechischen Museumsdepot. Und so können die Forscher die wohl wichtigste Frage bis heute nicht beantworten: Wozu wurde die Maschine gebaut? «Wir wissen, was der Mechanismus macht, aber wir wissen nicht, wofür», sagt Edmunds. War das komplizierte Räderwerk ein Repräsentationsobjekt, eine Lernhilfe, ein religiöser Rechenschieber oder eine Orientierungshilfe auf See? Zumindest letztere Möglichkeit glaubt Edmunds ausschließen zu können: «Ich glaube nicht, dass der Mechanismus für die Navigation auf dem Meer genutzt wurde.»
In weltweit einer Handvoll Museen gibt es Nachbauten des Mechanismus von Antikythera, darunter auch im Astronomisch-Physikalischen Kabinett in Kassel. Mit Hilfe eines neuen Modells, hergestellt von Michael Wright, der für das Londoner Imperial College arbeitet, lässt sich die Arbeit der Maschine nachvollziehen. Er hat bereits eine Anzeige eingearbeitet, die neben Sonne und Mond auch über insgesamt fünf den Griechen bekannten Planeten Auskunft erteilt. Wright hat seine Arbeit unabhängig vom Antikythera Mechanism Research Project fertiggestellt.
Hersteller des Mechanismus ist unbekannt
Wer das Original gebaut hat, weiß niemand. Aus der linguistischen Analyse der auf dem Gerät eingravierten Monatsnamen schließen die Forscher, dass die Maschine höchstwahrscheinlich aus einer Kolonie stammt, die von Korinthern gegründet wurde. Dazu gehörte neben dem Nordwesten Griechenlands auch die Stadt Syrakus auf Sizilien, wo unter anderem der berühmte Mathematiker Archimedes lebte. Archimedes selbst dürfte allerdings kaum der Baumeister gewesen sein. Als die Maschine hergestellt wurde – vermutlich um 140 vor Christus –, war er bereits seit mehreren Jahrzehnten tot.
Und doch könnte er die Entwicklung mit inspiriert haben, auch diese These wird in Budapest sicher diskutiert werden. Einer der Schüler des Meisters, so argumentieren manche Antikythera-Experten, könnte die Maschine gebaut haben.
Die Forscher glauben ohnehin, dass es mehr als eine Ausgabe des Mechanismus gab, darunter auch frühere, möglicherweise weniger ausgeklügelte Exemplare. Doch wundersamerweise fehlen bis heute konkrete Hinweise darauf. Selbst der Medienhype nach zwei «Nature»-Veröffentlichungen über den Mechanismus in den Jahren 2006 und 2008 half den Forschern nicht dabei, Tipps zu weiteren antiken Computern zu bekommen. «Man würde erwarten, dass es noch andere ähnliche Maschinen gibt», meint Edmunds. «Bis jetzt wissen wir aber von nichts.»
Von Christoph Seidler
Der Text ist entnommen aus: http://www.spiegel.de