Literatur
Rolf Schneider
Bodensee oder Das Paradies
Fortsetzung aus Nr. 14, 15, 16/2009
Opulenz herrscht noch in der kleinsten Kapelle mit ihrer drei- oder fünfhundert Jahre alten geschnitzten Madonna, die selbst bei Trauerhaltung das sinnlichste Lächeln zeigt. Der Katholizismus ist dieser Gegend so selbstverständlich angemessen wie der Weinbau; was denn, um des Himmels willen, suchte hier der Protestantismus, diese nordöstliche Religion der Magerkeit und der sinnenfeindlichen Introversion? Wer hier Jesuit ist, kann sich unmöglich intrigant benehmen, er ist vielmehr damit beschäftigt, Geschichte, Kultur, Weisheit und Menschlichkeit zu tradieren. Es ist alles da. Es ist alles im Überfluß da. Es ist alles selbstverständlich und von daher nicht außerordentlich. Das aber heißt: wo die Kultur derart alltäglich ist, kann sie nicht zugleich außerordentlich sein. Das heißt auch: dies ist nicht die Landschaft autochthoner Genies. Hiesige Künstler sind freundliche, fleißige Talente von regionalem Zuschnitt. Das Genie mußte zureisen: Annette aus dem schwerfälligen Westfalen.
Gilt das aber noch?, höre ich zurufen. Wie denn, bittesehr, steht es mit unserem Martin Walser?
Gemach. Ich will nicht ausschließen, daß Martin Walser ein Genie ist, aber darüber wird die Nachwelt befinden müssen und sich dann auch ihre Theorie darauf machen.
Walsers Epik ist ironisch und von einer sprachlichen Opulenz, die eine direkte Entsprechung hiesiger Landschafts-Opulenz zu sein scheint. Walsers Epik enthält zumeist Geschichten, welche zwischen schwäbischer Hauptstadt und schwäbischem Meer verlaufen. Einer von Walsers großen Romanen, vermutlich nicht sein bester, aber sein (für mich) rührendster und in seinem rührenden Scheitern ergreifendster, ist ein reines Bodensee-Epos: «Das Einhorn». Es handelt sich hierbei um den Versuch, dieser Topographie poetisch gerecht zu werden, indem, was ja nicht unsinnig ist, von der Vollkommenheit immer nur betont und wiederholt wird, daß und wie sie vollkommen ist. Aber, ach: es gerät dies poetisch in die Nähe der Peinlichkeit und manchmal geradezu in dieselbe hinein.
Da goß Martin Walser Vitriol in die Süßigkeit und verfaßte «Das fliehende Pferd», und damit ist nun endlich und endgültig der Bodensee für die zeitgenössische deutsche Belletristik literabel geworden als ein unverwechselbarer poetischer Topos.
Martin Walser kommt von dieser Landschaft nicht los, auch in seinem privaten Sosein nicht. Ich habe mir sein Domizil in Friedrichshafen zeigen lassen und habe es mir betrachtet: mit viel Respekt und gänzlich ohne Neid, denn ich bin ein ostelbisches Gewächs und gehöre, das weiß ich, zu meinen Kiefern, Kartoffelbauern und Schnapsbrennern; ins Paradies gehöre ich bloß per Stippvisite.
Gebürtig ist Martin Walser aber zu Wasserburg, wo seiner Familie ein Gasthof gehört, freilich ist es nicht jener in der alten Burg, sondern ein mit demselben konkurrierendes Etablissement.
Wir wären damit wieder bei jenem zweiten Aufenthalte meiner Person, von der ich noch nachtragen darf, daß wir uns damals einen Leihwagen nahmen und die Ufer entlangfuhren und ein wenig in das Hinterland. Wir haben den Wagen abgestellt und sind über träumerische Hügel gewandert, zwischen Marillenbäumchen und hüfthohem Gras, und der späte Spätsommer blieb milde. Wir tranken uns voll mit Geschichte, Kultur und auch Spätherbst, der inzwischen im Zenit seiner allgemeinen Konjunktur sich befand; wir aßen Felchen, von denen uns zugewispert wurde, die stammten aus dem Zürcher See, denn der Bodensee kippe gerade biologisch um. In Wasserburg sollte ein riesiges Appartementhaus errichtet werden. Unser Wirt sorgte sich um die Zukunft seines Hotels; das Nachbarhotel hatte schon geschlossen. Es hatte sich eine Art Bürgerinitiative gebildet, die den Baulöwen hindern wollte, das Ufer mit Beton zu verschandeln. Der Ausgang des Konflikts war völlig ungewiß.
Letzten Sommer fuhr ich von Bregenz aus mit einem österreichischen Dampfer über den See, um meinen Kindern alles zu zeigen. Das Wetter war schlecht, die Sicht war trübe, und meine Kinder maulten. Der Dampfer glitt auch an Wasserburg vorüber; ich sah, und Rührung griff mir ans Herz, die unversehrte Burg, vom Appartementhaus aber war keine Spur, und auch das Wasser schien mir eindeutig sauberer geworden.
Da wußte ich, daß das Paradies die Kraft zur Regeneration besitzt, und also ist am Bodensee die dort erschaffene Welt noch oder wieder in Ordnung.
Aus: Rolf Schneider: Annäherungen & Ankunft.
Hinstorff Verlag, Rostock 1982. S. 220–232.
Fortsetzung folgt
Der Abdruck folgt dem Original von 1982 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.
Opu|lenz, die; - (bildungsspr.): opulente Art. opu|lent <Adj.> [lat. opulentus, zu: ops = Macht, Vermögen] (bildungsspr.): a) (von Essen u. Trinken) sehr reichlich u. von vorzüglicher Qualität: ein -es Mahl; o. speisen; b) mit großem Aufwand [gestaltet]; üppig: ein -er Katalog; die Gage war nicht gerade o.; ein o. ausgestatteter Raum.
an|ge|mes|sen <Adj.>: richtig bemessen; adäquat: ein -er Preis; etw. gegen -e Bezahlung tun; etw. für a. halten.
in|tri|gant <Adj.> [frz. intrigant, zu: intriguer, intrigieren] (bildungsspr.): dazu neigend, Intrigen zu spinnen; ständig auf Intrigen sinnend; Ränke schmiedend, hinterhältig: ein -er Kerl.
tra|die|ren <sw. V.; hat> [lat. tradere (2. Part.: traditum), zu: trans = über - hin u. dare = geben] (bildungsspr.): überliefern; etw. Überliefertes weiterführen, weitergeben: Rechtsnormen t.; tradierte Vorstellungen, Sprachformen.
au|toch|thon <Adj.> [griech. autóchthon]: 1. (von Völkern od. Stämmen) alteingesessen, bodenständig: -e Bevölkerung. 2. (Biol., Geol.) (von Lebewesen, Gesteinen) am Fundort vorkommend.
be|fin|den <st. V.; hat> [mhd. bevinden, ahd. bifindan = erfahren, wahrnehmen, zu finden]: etw. entschieden aussprechen, äußern: sie befand, der Preis sei zu hoch.
Vi|tri|ol, das; -s, -e [mlat. vitriolum, zu lat. vitrum = Glas; nach der Ähnlichkeit kristallisierten Eisensulfats mit (grünem) Glas] (Chemie veraltet): Kristallwasser enthaltendes Sulfat eines zweiwertigen Metalls.
To|pos, der; -, Topoi [griech. tópos, eigtl. = Ort, Stelle] (Literaturw.): festes Schema, feste Formel, feststehendes Bild o. Ä.
Do|mi|zil, das; -s, -e [lat. domicilium = Wohnstätte, Wohnsitz]: (bildungsspr., oft scherzh.) Wohnsitz, Stätte, wo jmd. zu Hause ist: ein vornehmes D.; sich ein anderes D. suchen; bei jmdm. sein D. aufschlagen (sich dort häuslich niederlassen, einrichten).
Stipp|vi|si|te, die (ugs.): kurzer Besuch: [bei jmdm.] eine S. machen.
Eta|blis|se|ment, das; -s, -s u. (schweiz.:) -e (geh.): 1. Unternehmen, Niederlassung, Geschäft, Betrieb, Einrichtung. 2. a) gepflegte [kleine] Gaststätte; b) Vergnügungsstätte, [zweifelhaftes] [Nacht]lokal; c) (verhüll.) Bordell.
ver|schan|deln <sw. V.; hat> [zu Schande] (ugs.): verunstalten, verunzieren: ein Stadtbild v.; der Bau verschandelt die Landschaft; eine durch Schmierereien verschandelte Wand.