Das liest man in Deutschland
Aus Leben und Werk von Alfred Döblin
Günter Grass’ Lesebuch über seinen Lehrer
Wird der Name Alfred Döblin erwähnt, dann denkt jeder, der sich in der Literatur auskennt, sofort an dessen Roman Berlin Alexanderplatz, einerlei ob er diesen gelesen hat oder nicht. Dabei hat Döblin sehr viel mehr und über sehr unterschiedliche Themen geschrieben und nimmt in der Literatur des 20. Jahrhunderts den gleichen Rang ein wie Franz Kafka und Thomas Mann. Bedauerlicherweise hat das Œuvre dieses so scharfsichtigen Autors, der sich auch politisch immer wieder zu Wort meldete, in Deutschland wenig Resonanz gefunden. Auch heute gehört Döblin nicht unbedingt zu den meistgelesenen deutschen Autoren. Ob das jetzt von Günter Grass zu Ehren dieses Schriftstellers zusammengestellte Lesebuch daran etwas zu ändern vermag, bleibt abzuwarten. Zumindest bietet es eine gute Gelegenheit, einen vielseitigen Autor, der an den Geschehnissen seiner Zeit stets regen und kritischen Anteil genommen hat, kennenzulernen.
Eingeleitet wird der Band mit Grass’ berühmter Rede Über meinen Lehrer Döblin, mit der sich der Dichter 1967 in der Akademie der Künste Berlin zu Döblins 10. Todestag erstmals öffentlich zu seinem Vorbild bekannt hat und in der er betont, dass er sich seine eigene Prosa ohne diesen Autor nicht vorstellen könne. Grass stiftete übrigens auch den Alfred Döblin-Preis, der alle zwei Jahre verliehen wird.
Der Band beginnt mit autobiografischen Skizzen und Rückblicken, in denen Döblin wissen lässt, dass er von den sogenannten Autobiografien nichts hält. Als er jedoch sein Buch Schicksalsreise geschrieben habe, sei er «deutlicher, direkter, offener und entschlossener» vorgegangen als in seinen früheren Werken.
Unter der Aufforderung «Heran an das Leben! Dichter! Dichter!» wird der Leser durch geschickt gewählte Ausschnitte aus Döblins Romanen, Erzählungen und Erfahrungsberichten mit dem Werk des Schriftstellers vertraut gemacht, zum Beispiel mit der 1913 erschienenen Erzählung Die Ermordung einer Butterblume. Mit ihr wurde er zu einem der führenden Vertreter der expressionistischen Literatur. Es folgten Romane, die hier ebenfalls in charakteristischen Auszügen vorgestellt werden, wie etwa der Roman Die drei Sprünge des Wang-lun, der 1916 mit dem Theodor-Fontane-Preis ausgezeichnet wurde. Es folgen neben weiteren Ausschnitten aus anderen Texten Skizzen aus Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine und Wallenstein. Anlass für diesen Roman waren Döblins Erfahrungen im Ersten Weltkrieg. Die furchtbaren Folgen hoch gezüchteter Technik schildert der Schriftsteller in seinem schwer konsumierbaren Zukunftsroman Berge, Meere und Giganten.
Wichtig ist auch Döblins Bericht Reise in Polen aus dem Jahr 1926. Dazu muss man wissen, dass sich in der ersten Hälfte der 1920er Jahre in Berlin pogromartige Vorgänge ereignet hatten, die Döblin zu der Frage veranlassten, wo heutzutage eigentlich noch Juden lebten. Denn seine Bekannten vermochte Döblin nicht mehr als Juden zu erkennen. «Sie waren es dem Glauben nach nicht, ihrer Sprache nach nicht, sie waren vielleicht Reste eines untergegangenen Volkes, die längst in die neue Umgebung eingegangen waren. Ich fragte also mich und fragte andere: Wo gibt es Juden? Man sagte mir: In Polen. Ich bin darauf nach Polen gefahren.» Was Döblin dann dort erfahren und erlebt hat, das eben verrät sein Buch Reise in Polen. Es bietet ein facettenreiches Bild der ostjüdischen Lebenswelt. Döblin besuchte Warschau, Krakau sowie die Städte Lemberg und Wilna, die damals polnisch waren. Er begegnete Juden, «die es dem Glauben und der Sprache nach waren und die an einer geistigen Welt festhielten, die sich seit dem späten Altertum nicht wesentlich verändert hatte». Der Anblick dieser Menschen in mittelalterlicher Tracht, mit eigener Sprache, Religion und Kultur, erschüttert Döblin und wühlt ihn auf. Er geht auf die alten jüdischen Friedhöfe, besucht die Gräber der Heiligen und nimmt begierig die Legenden auf, die man ihm erzählt. Zuweilen kommt es ihm vor, als sei er unter ein exotisches Volk geraten. Alles mutet ihn fremd an, übt aber gerade dadurch eine große Anziehungskraft auf ihn aus. Er begreift Ostjuden als widersprüchliche, dennoch in sich geschlossene kulturelle Größe, die alles aufweist, was das westliche Judentum durch Aufklärung und wissenschaftlichen Fortschritt zum großen Teil verloren hat: Zusammenhalt, Selbstbewusstsein, geschichtliche und kulturelle Selbstdefinition. Joseph Roth nannte Döblins Reise in Polen in seiner Besprechung eine «Pilgerreise zum östlichen Judentum». Wir freilich können heute Döblins Buch nicht mehr unbefangen lesen, sondern müssen unweigerlich daran denken, was später geschah. Zwanzig Jahre nach Döblins Besuch lebten in Warschau keine Juden mehr.
Natürlich fehlen auch Passagen aus dem Roman Berlin Alexanderplatz nicht, der Döblin 1929 zu einem der populärsten Autoren in der Weimarer Republik gemacht hat. Die Großstadt erscheint hier als modernes Babylon, als Heimat von Gaunern, Huren, Hehlern und Zuhältern. Die Handlung kreist um Verbrechen und Unzucht, um das Elend der Slums, um Prostitution, Krankheit, Hunger und Sorge.
Berlin Alexanderplatz – Döblins einziger Publikumserfolg zu Lebzeiten – wurde 1930 als Hörspiel gesendet und zweimal verfilmt: 1931 mit Heinrich George und 1980 von Rainer Werner Fassbinder. Doch während der berühmte Schauspieler Heinrich George, der den Biberkopf in der ersten Verfilmung des Romans 1931 gespielt hatte, zum Star der nationalsozialistischen Propagandafilme aufstieg, wurde der Schriftsteller Döblin als «Asphaltliterat» und wegen seiner jüdischen Herkunft angefeindet und verfolgt.
Die Babylonische Wanderung (1934) hatte Döblin noch in Berlin begonnen und dann im Pariser Exil abgeschlossen. Beim Schreiben dieses Romans, bekannte Döblin hernach, sei ihm das Gefühl seiner verlorenen Situation klar geworden. Auch im Exil blieb Döblin literarisch aktiv, mit Pardon wird nicht gegeben und dem vierteiligen Roman November 1918. Eine Deutsche Revolution, in dem Döblin versucht hat, aus der Vergangenheit eine Erklärung für die Gegenwart zu finden, eine Antwort auf die Frage, wie Hitler möglich war, mit oft satirisch wirkenden Schilderungen, scharfen Urteilen und sprachlicher Vehemenz.
Nach dem Krieg erschien ferner die schon erwähnte eindrucksvolle, sehr persönlich gehaltene Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis über Döblins Flucht nach Amerika. Der Dichter schreibt hier nicht nur über Angst und Entbehrungen, sondern auch von seinen Zweifeln und mannigfaltigen Überlegungen. Wichtig war Alfred Döblin am Ende seines Lebens allerdings einzig und allein sein letztes, 1956 erschienenes Buch Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende (1956). Es erschien zuerst, durch die Fürsprache von Peter Huchel, in der DDR, und erst nach Döblins Tod auch in der Bundesrepublik. Warum fand sich für das Werk lange Zeit im Westen kein Verleger? Lag es daran, dass der Inhalt des Buches, die Aufdeckung einer verdrängten Vergangenheit im westlichen Deutschland nicht gerade populär war? Kein Verleger wagte es, so kurz nach dem Krieg ein Buch herauszubringen, in dem sich der Verfasser kritisch mit dem Krieg auseinandersetzt und das Heldentum als Unmenschlichkeit entlarvt.
Hamlet oder die lange Nacht hat ein Ende handelt von der Geschichte des englischen Soldaten Edward Allison, der mit seinem Schiff im Pazifik in die Luft gesprengt wurde und schwer verwundet aus dem Krieg ins Elternhaus zurückkehrt. Mit diesem Roman hat Döblin verschlüsselt sein Verhältnis zu seinem zweitältesten Sohn Wolfgang (Jahrgang 1915) aufgearbeitet, um mit seinem Schuldgefühl ihm gegenüber ins Reine zu kommen. Denn er und seine Frau Erna waren ohne die beiden Söhne Wolfgang und Klaus in die Vereinigten Staaten gereist. Während Klaus den Krieg überlebt hat, hatte Wolfgang, der sich im Krieg freiwillig zur französischen Armee gemeldet hatte, beim Heranrücken der deutschen Truppen am 21. Juni 1940 in Housseras Selbstmord verübt.
Das Lesebuch enthält auch Briefe aus der Feder Döblins. Diese beginnen mit einem Schreiben an Fritz Mauthner aus dem Jahr 1903, dem Döblin seinen Roman Worte und Zufälle zur Beurteilung anbietet. Andere Briefe sind an Herwarth Walden, Bertolt Brecht, Thomas Mann und weitere Freunde und Schriftstellerkollegen gerichtet. Die letzten Briefe stammen von seiner Ehefrau Erna Döblin, in denen sie Freunden vom Tod ihres Mannes am 26. Juni 1957 berichtet und davon schreibt, dass er seine letzte Ruhe in Lothringen neben seinem Sohn Wolfgang gefunden habe. Sie selbst nahm sich drei Monate später im September in ihrer Pariser Wohnung das Leben.
Das von einem versierten Döblin-Kenner und Verehrer zusammengestellte Lesebuch, das auch mit einigen Bildern ausgestattet ist, die Döblin in verschiedenen Lebensphasen mit Freunden und Verwandten zeigen, dürfte gewiss den einen oder anderen anregen, sich mit Leben und Werk des Schriftstellers Alfred Döblin näher zu befassen.
Von Ursula Homann
Alfred Döblin: Das Lesebuch. Herausgegeben von Günter Grass. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2009.
Der Text ist entnommen aus:
http://www.literaturkritik.de