Das liest man in Deutschland
Schauspieler im falschen Stück
Eva Baronskys Debütroman «Herr Mozart wacht auf» versetzt den berühmten Komponisten ins Jahr 2006
Mehr als zwei Jahrhunderte nach seinem Tod wird das Gedenken an den großen Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart weiterhin weltweit aufrechterhalten, was beweist, dass klassische Musik auch heutzutage noch große Popularität genießt. Zwar lebt Mozarts Musik insbesondere durch die Aufführungen in den Opernhäusern und Konzertsälen weiter, doch darin erschöpft sich die Beschäftigung mit seinem Leben und Werk keineswegs. Längst bildet Mozart nicht nur den Gegenstand zahlreicher musikwissenschaftlicher Publikationen, sondern das Interesse an dem Musiker findet seinen Ausdruck ebenso in Fernseh- und Radiosendungen. Zudem wurde die Figur Mozart vielfach belletristisch verarbeitet. Exemplarisch sei an dieser Stelle lediglich auf Eduard Mörikes Künstlernovelle Mozart auf der Reise nach Prag (1856) und Hermann Hesses Roman Der Steppenwolf (1927) verwiesen.
Als im Jahre 2006 der 250. Geburtstag des Komponisten gefeiert wurde, eroberte Mozart abermals im Sturm die deutschsprachigen Verlagshäuser. Standen damals vor allem Biografien, Monografien, Gesamtinterpretationen und Briefausgaben im Vordergrund, liegt nun – drei Jahre später – ein neuer Mozart-Roman vor. Besonders bemerkenswert an Eva Baronskys originellem Werk Herr Mozart wacht auf ist, dass die Autorin den klassischen Musiker mit unserer heutigen Welt konfrontiert. So macht dieser – zunächst unwissentlich – eine Zeitreise vom Jahr 1791 ins Jahr 2006. Das Werk ist aber kein zukunftsorientierter Science-Fiction-Roman im Sinne H. G. Wells’, sondern ein Buch über unsere gegenwärtige Gesellschaft, die aus der Perspektive eines Fremden geschildert ist.
Wer Franz Kafka gelesen hat, erinnert sich bestimmt noch an den Eingangssatz der Verwandlung: «Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.» Ob auch Baronsky diese Novelle gelesen hat, sei dahingestellt. Ihr Debütroman beginnt jedenfalls mit einem ähnlichen Aufwachen, das das Leben des Betroffenen auf ungeheuerliche Art und Weise verändert. Erwachte Kafkas zum Insekt mutierter Held aber nur aus dem Schlaf, handelt es sich bei Mozarts Aufwachen um eine regelrechte Auferstehung von den Toten. Nachdem zunächst auf zwei Seiten sein Sterben in einem sogenannten «Präludium» geschildert wird, kommt der Komponist gleich danach – und wie im Buchtitel angekündigt – wieder zu Bewusstsein. Im Gegensatz zu Gregor Samsa betrifft die Verwandlung in Baronskys Roman nicht die Hauptfigur selbst, sondern deren Umgebung. Nichts ist mehr, wie es vor Mozarts Tod war.
Angesichts dieses völlig unbekannten Umfelds glaubt der Protagonist nach seiner Ankunft in unserer Zeit zunächst, er befände sich in einem Zwischenreich und müsste sein Fragment gebliebenes Requiem vollenden, um Zutritt zum Reich der Toten gewährt zu bekommen. Auch als er allmählich realisiert, dass er in der Zeit gereist ist, bleibt in seinem Kopf die fixe Idee haften, er müsse seine eigene Totenmesse komponieren – schon allein aus dem Grund, weil er sich über die posthume Vervollständigung des Requiems durch seinen Schüler Süßmayr – beziehungsweise «das mutlose Gestümpere dieses Dummkopfs» – echauffiert.
Das Requiem ist der rote Faden der Geschichte, was vor allem deutlich wird, wenn man sich die Titel der einzelnen Kapitel vor Augen führt. Man liest beispielsweise «Kyrie», «Sequenz», «Offertorium» oder «Sanctus», um nur einige zu nennen. Mit anderen Worten: die Bucheinteilung entspricht genau der Werkgestalt der Mozart’schen Totenmesse. Der Glaube an den göttlichen Auftrag der Vollendung durchzieht das gesamte Werk, bis Mozart schließlich am Ende des Buches eine Epiphanie erlebt, die ihn die Grenzen der Musik übersteigen lässt und ihn somit für die große Aufgabe wappnet, das noch fehlende «Lacrymosa» endlich niederzuschreiben.
Vor der finalen Offenbarung darf der Leser aber auf mehr als 300 Seiten nicht nur Baronskys breites Wissen über die historische Gestalt Mozarts bestaunen, der sich Amadé statt Amadeus nannte und der durch den Gebrauch von stark stilisierter Sprache charakterisiert wird, sondern sich zugleich durch das große erzählerische Talent der Autorin verzaubern lassen. Durchaus humorvoll und mit großer Leichtigkeit erzählt Baronsky, wie der «Compositeur» die von technischen Errungenschaften gekennzeichnete Welt des 21. Jahrhunderts entdeckt. Dabei läuft das Sich-Zurechtfinden in der modernen Großstadt Wien alles andere als problemlos ab. Immer wieder wird der Protagonist vor neue Herausforderungen gestellt. Unterstützt wird er dabei durch
Piotr Potocki, einen polnischen Straßenmusiker, mit dem er sich gleich am ersten Tag seiner Ankunft anfreundet und in dessen Wohnung, die eigentlich einem Bekannten Piotrs gehört, er sich einquartiert. Ohne seinen treuen Gefährten
Piotr wäre Mozart hilflos verloren, kommt er sich doch vor wie «ein Schauspieler, dem jemand inmitten des Theaterstückes die Kulissen gewechselt hatte» und der sich daher urplötzlich in einer «Aufführung» wiederfindet, «deren Sprache er nicht verstand und deren Staffage fremd und wunderlich war». Abgesehen vom Stephansdom, der noch an vergangene Zeiten erinnert, erscheint dem Musiker an diesem bizarren Ort alles fremd. So gerät er nicht nur ins Staunen, als er Autos («Fuhrwerke ohne Pferde») erblickt, sondern unter anderem auch bei der ersten Bekanntschaft mit elektrischem Licht, Computern, Handys, Radios, CDs, Jeanshosen, Öfen ohne Feuer, Kugelschreibern oder aber der U-Bahn.
Der Autorin gelingt es, Mozarts fremde Wahrnehmung von Alltäglichem in einer Welt «voller Wunder» süffisant zu beschreiben. Dass er ständig aufgrund schlichter Unkenntnis sonderbare Fragen stellen muss, lässt ihn nicht nur in Piotrs Augen als «seltsamen Kauz» erscheinen. Oftmals werden seine Entdeckungen amüsant und mit Situationskomik gepaart dargestellt. So muss der Leser zum Beispiel schmunzeln, als der Titelheld zum ersten Mal in ein Auto steigt und dem Fahrer die ernst gemeinte Frage stellt: «Aber – wie fährt es? So ganz ohne Pferde?» Die Antwort des beleidigten Fahrers ist äußerst gesalzen: «Wenn dir fünfzig Pferde nicht reichen, kannst du ja nach Hause zu deinem Ferrari laufen.» Unterhaltsam ist auch die Episode, in der sich Mozart den Kopf zerbricht über die rätselhafte T-Shirt-Aufschrift AC/DC und schließlich hinter diesem Kürzel die Bedeutung «Adorate, Cherubim, Dominum Cantu! Betet an, ihr Engel, den Herrn mit eurem Gesang» vermutet.
Trotz aller komödienhaft wirkenden Anekdoten spart das Buch Tragik nicht aus. Birgt die Tatsache, dass Mozart – der Schauspieler im falschen Stück – in unserer Welt immer fremd bleiben wird, nicht schon genug tragisches Potenzial, so kommt noch hinzu, dass er sich ständig selbst verleugnen muss. Aus Angst, man würde ihn verspotten und ihm in Bezug auf die Zeitreise keinen Glauben schenken, gibt er seine wahre Identität lange Zeit nicht preis und nennt sich stattdessen Wolfgang Mustermann, weil er diesen Namen zufällig auf einem Papier gelesen hat. Als er sich schließlich doch als Mozart zu erkennen gibt, stellt er die Liebe zu seiner Geliebten Anju, die ein Kind vom ihm erwartet, auf eine harte Probe und landet – als geistig vollkommen gesunde Person – in der Psychiatrie.
Das große Thema des Romans bildet aber die Musik, die Mozarts eigentlich traurigem Leben den nötigen Sinn verleiht: «Solange es nur Musik gab, war er bereit, in jeder Welt zurechtzukommen.» Gemeinsam mit dem Geiger Piotr tritt Mozart in verschiedenen Lokalen auf, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dabei erweist sich Letzterer als äußerst unzuverlässig, versäumt er doch regelmäßig Auftritte, weil er lieber viel Zeit ins Komponieren investiert. Mozart lebt nicht nur Musik, nein er ist Musik: «Tief in seinem Herzen, tief in seinem Innern war Musik, nichts als Musik, und würde nie etwas anderes sein». Betritt er als Klavierspieler eine Bühne, so vermag er das Publikum mit seiner Musik stets aufs Neue zu begeistern. Interessant ist aber insbesondere, wie sich der als musikalisches Genie beschriebene Mozart mit all jener Musik auseinandersetzt, die erst nach seinem Tod komponiert wurde und ihm daher vollkommen unbekannt ist – etwa mit Franz Schubert, Frédéric Chopin und Pjotr Iljitsch Tschaikowski. Großen Gefallen und «wohlfeiles Vergnügen» findet er dann aber an Jazz-Musik, die ihm erlaubt, «Stücke nach der Phantasie freiweg zu spielen» – Stücke, die er oft am Flügel der Jazz-Bar «Blue Notes» improvisiert.
Mit Herr Mozart wacht auf hat Eva Baronsky einen feinfühligen Musikroman vorgelegt, der den Mozart-Kenner wie den Laien gleichsam fesselt. Nach diesem äußerst gelungenen Debüt, dem man nur viele Leser wünschen kann, darf man auf weitere Werke aus der Feder Baronskys sehr gespannt sein.
Von Christian Palm
Eva Baronsky: Herr Mozart wacht auf. Roman. Berlin: Aufbau Verlag, 2009.
Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de