Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №2/2010

Sonderthema

Fantast von Gottes Gnaden – Wilhelm II. im Porträt

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Wilhelm II.
als Student in Bonn

Schon die Geburt war ein Kampf: Als Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preußen am 27. Januar 1859 in Berlin zur Welt kam, wurde sein linker Arm so schwer verletzt, dass er lebenslang verkrüppelt blieb. Der Auftakt zu einer, laut Wilhelm, «recht unglücklichen Kindheit», in der er nur während der Schulzeit an einem städtischen Gymnasium so etwas wie Normalität erlebte. Nach Studium und Militärdienst blieb Wilhelm kaum Zeit zur Einarbeitung in die Amtsgeschäfte: Im «Drei-Kaiser-Jahr» 1888 starben innerhalb von 100 Tagen der greise Wilhelm I. und Friedrich III., Wilhelms Vater. Zunächst ging der Thronfolger soziale Reformen an – Stichwort Rentenversicherung, Aufhebung der Sozialistengesetze, progressive Einkommenssteuer. Er entließ Otto von Bismarck und versuchte durch sein «persönliches Regiment», die Reichspolitik nach eigenen Vorstellungen zu gestalten.

Ein Schwachpunkt von Wilhelms Staatsführung waren die auswärtigen Beziehungen: Es verprellte sowohl England als auch Russland und provozierte halb Europa durch protzige Paraden und die Aufrüstung der deutschen Flotte. Während des Ersten Weltkriegs nahm Wilhelms Einfluss stetig ab, seine Abdankung im November 1918 setzte unter den stetigen Machtverlust den Schlusspunkt. Wilhelm II. starb am 4. Juni 1941 im Exil in Doorn.
«An das deutsche Volk. Seit der Reichsgründung ist es schon über 40 Jahre... An das deutsche Volk, seit der Reichsgründung ist es nun 43 Jahre meiner und meiner Vorfahren... aber die Gegner neiden uns den Erfolg unserer Arbeit... An das deutsche Volk, seit der Reichsgründung ist es...»
Majestät suchen das richtige Pathos. Wilhelm II. übt seine Ansprache. Es ist 1918. Der deutsche Kaiser spricht den zu Beginn des Ersten Weltkriegs formulierten «Aufruf an die Deutschen» in ein Mikrofon. Dies soll – wie vier Jahre zuvor – den Patriotismus der Deutschen anstacheln. Nach mehreren Anläufen findet der Hohenzoller den richtigen Ton.
Politisch gesehen, ist es allerdings zu spät. Noch im November muss Wilhelm II. abdanken. Wer war dieser Mann, der Deutschland 30 Jahre lang regierte und zu dessen Ehren überall im Land «Kaiserlinden» gepflanzt wurden, die zum Teil noch stehen?
«Seine Kindheit war natürlich total überschattet durch diesen Geburtsfehler, wobei der linke Arm verkrüppelt war und gar nicht wachsen wollte, sodass er im Vergleich zum restlichen Körper immer kürzer wurde», so der Historiker Professor John C. G. Röhl, Biograf Wilhelms des Zweiten. Er sagt, Kindheit und Jugend des letzten deutschen Kaisers seien schwierig gewesen – wegen seiner körperlichen Behinderung und des gut gemeinten Ehrgeizes der Eltern: «Die Mutter war ja Engländerin, wurde in der Berliner Hofwelt mit großem Misstrauen betrachtet. Also diese beiden Sachen, die dann noch dazu führten, dass die Eltern von Wilhelm einen besonders strengen Erzieher ernannt haben, um ihn wenigstens geistig, wie sie meinten, zum Thronfolger heranzugestalten, obwohl er diesen körperlichen Makel hatte. Das sind die drei Faktoren, die ihn seit seiner Jugend bestimmten und ihn bestimmt nicht glücklich werden ließen.»
Wilhelms Eltern haben liberale Vorstellungen von Politik und Erziehung – eine Seltenheit in Preußen: Sie lassen ihren erstgeborenen Sohn von einem Privatlehrer erziehen und einige Jahre ein normales Gymnasium in Kassel besuchen. Auch darf Wilhelm eine Art «Grundstudium» in Bonn absolvieren, ehe er in die Armee eintritt und zum Offizier ausgebildet wird. 1888 dient er, 29-jährig, als Generalmajor in Berlin – da ändert sich sein Leben abrupt binnen weniger Wochen.
Zunächst stirbt sein Großvater, Kaiser Wilhelm I. – und hundert Tage später auch sein Vater, Kaiser Friedrich III. Aus dem begeisterten Soldaten wird plötzlich ein Staatsoberhaupt – Kaiser Wilhelm der Zweite: «Man muss es auch so sehen: Man ist damals davon ausgegangen, dass nach dem Tod von Wilhelm I. eine lange Regierungszeit von Fried­rich III. stattfinden würde. Und da haben die preußischen Hofmilitärs, Hoferzieher am Hof Wilhelms I. gedacht: Wir müssen den jungen Wilhelm als Gegengewicht gegen diese vermeintlich liberale Regierung seiner Eltern aufbauen.»
Der ‹Ernstfall› der Regentschaft zeigt rasch, wie ungenügend Wilhelm ausgebildet ist für sein Amt. Der 73-jährige Reichskanzler Bismarck täuscht sich und hält den Monarchen deswegen für leicht steuerbar.
Wider Erwarten verschieben sich im Reich die Machtverhältnisse rasch und unwiderruflich: Nicht mehr der Reichskanzler, sondern der Monarch bestimmt die großen Richtlinien der Politik. Dabei pflegt Wilhelm, wie seine Umgebung bald erkennt, einen merkwürdigen Arbeitsstil: «Wilhelm war hyperaktiv... Er stand früh auf und hatte immer was zu tun: reiten, jagen, Paraden abnehmen, sich umziehen. Also das geht von morgens früh bis abends spät und so weiter... Aber er hat sich nicht in dieser ganzen Zeit auf die Regierungsgeschäfte konzentriert, sondern hat gemeint, also von Gott eingegeben: Ich entscheide alles, ich kann auch alles, ich kann mich überall einmischen. Die ganzen Strukturen, die nie stark waren in Preußen-Deutschland, weil Bismarck auch schon keine Rivalitäten geduldet hat, die werden aufgelöst und hintergangen. Die gibt es einfach nicht.»
Aus dem Zusammenprall der Temperamente geht Wilhelm als Sieger hervor: Im März 1890 muss der alte Lotse Bismarck das Staatsschiff verlassen. Wilhelm leugnet seine Rolle als Initiator der Ablösung jedoch. So schreibt er dem mit Preußen eng verbundenen Kaiser Franz Joseph in Wien einen Brief, der die wirklichen Umstände verschleiert – aber charakterlich viel sagt: «Der Mann, den ich mein Leben lang vergöttert hatte, für den ich allein nach dem Tode Großpapas mich in die Bresche geworfen, um ihn zu halten, wofür ich den Zorn meines sterbenden Vaters und den unauslöschlichen Hass meiner Mutter auf mich lud, der achtete das alles nicht und schritt über mich hinweg. Welch ein Dolchstoß für mein Herz! Seine grenzenlose Menschenverachtung... spielte ihm hier einen schlimmen Streich, indem er auch seinen Herrn für nichts achtete und ihn zu seinem Trabanten herabwürdigen wollte.»

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Das Kaiserpaar

Mit den gefügigen Reichskanzlern Caprivi, Hohenlohe-Schillingsfürst, Bülow und Bethmann-Hollweg baut sich Wilhelm II. in den Folgejahren eine von ihm als «persönliches Regiment» bezeichnete Staatsspitze auf – auch diese Wortwahl ist verräterisch. Wilhelm hat das Sagen von Personalfragen bis zur Auswahl der Minister, in ästhetischen Dingen, in Architektur und Malerei, in wehrtechnischen Details wie dem Schiffbau. Mit geradezu fantastischer Überheblichkeit greift er in das politische Tagesgeschehen ein, ohne zuvor den Reichskanzler zu informieren. So herrschen in Berliner Regierungskreisen bereits lange vor der Jahrhundertwende Verzweiflung und Ratlosigkeit. Der Historiker und Publizist Sebastian Haffner hat die Wilhelminische Ära daher als Zeit des Niedergangs Preußens skizziert.
Zur Melodie des preußischen Reitermarsches gibt es den Text: «Wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm wieder haben...» Mit «Wilhelm» ist aber nicht Kaiser Wilhelm der Zweite gemeint, sondern sein Großvater. Der Enkel verehrt den Vorfahren, dessen Popularität erlangt er nie: «Die Welt ist so groß und wir Menschen sind so klein, da kann sich doch nicht alles um uns alleine drehen.»
Für seinen Biografen John C.G. Röhl steht fest: protestantisch-klerikal im engeren Sinne ist Wilhelm nicht: «Diese protestantische Religiosität stammt weniger von seinem Großvater als von seiner Großmutter, der Kaiserin Augusta. Und dann vor allem von seiner Frau, Wilhelms Frau. Der hat ja früh geheiratet, und sie war eine sehr pietätvolle Bibelverehrerin, die geglaubt hat: Alles, was in der Bibel steht, ist wirklich wahr. Aber das kommt etwas später.»
1881 als 22-Jähriger heiratet Wilhelm Prinzessin Auguste Viktoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg – Kosename «Dona». Sie haben sieben Kinder. Die Ehe ist nicht immer glücklich. Nachweisbar sind Seitensprünge Wilhelms und Alimente-Zahlungen für mindestens zwei uneheliche Töchter.
Röhl: «Als Wilhelm zum Throne gekommen war, gibt es eine Zeit der relativen Stille in dieser Beziehung. Man lebt relativ glücklich zusammen; und es gibt dann keine Liebesaffären mehr. Aber: Wilhelm verliebt sich trotzdem in eine junge Engländerin, namens Lady Mary Montague, im Jahr 1905. Und mit dieser Frau schreibt er sich bis zum Kriegsausbruch 1914. Die Briefe haben wir, also: Insofern ist das alles aktenkundig.»
Erstaunlich, wie offen Wilhelm bei Begegnungen mit ausländischen Diplomaten und Staatsoberhäuptern spricht. Denn die Nachbarstaaten sind seit dem Deutsch-Französischen Krieg misstrauisch gegenüber Berlin. Ein besonders freimütiges Gespräch mit dem britischen Außenminister Lansdowne im Januar 1901 gibt Wilhelm selbst in indirekter Rede zu den Akten: «Die Zeichen der Zeit deuteten darauf hin, dass die Zukunft der slawischen oder der germanischen Rasse gehören werde. Die lateinischen Völker schritten nicht mehr voran und würden in Europa und der Welt nicht mehr den Ausschlag geben können. Deshalb hielte ich dafür, dass die germanische Rasse umso fester zusammenstehen müsste ... Mir komme es darauf an, den Frieden zu erhalten, damit das Mosaikgebilde des Deutschen Reiches Zeit habe, sich zu einer festen Masse zu verdichten ... Das Gleiche wünschte ich für England ... Die balance of power in Europa sei ich, dem die Bestimmung über die auswärtige Politik nach der Verfassung des Reiches zufalle.»
«Wilhelms Verhältnis zu Großbritannien» – das Thema zieht sich wie ein «roter Faden» durch die drei Jahrzehnte der Regentschaft Wilhelms. Subjektiv fühlt sich der Hohenzoller als Freund der Briten: Seine Erinnerungen an Queen Victoria als Kind und junger Mann sind positiv. Aber spätestens mit dem Tod der Queen und der Thronbesteigung ihres Sohnes Edward entwickelt sich offene Rivalität. John Röhl: «Ich würde sagen, dass Edward ... mit seinen Beratern und dem ‹Foreign Office› – das Spiel Wilhelms II. durchschaut haben. Sie haben’s durchschaut und haben Gegenmaßnahmen getroffen, sehr effektive. Die lauteten: Wir machen erst mal ein Bündnis mit Japan, damit wir Schiffe aus dem Pazifik hierhin zurückholen können. Dann sehen wir zu, dass Amerika unser Freund ist und auch bleiben wird im Falle eines Krieges, damit die Zufuhr über den Atlantik kommen kann. Und in Europa suchen wir uns einen Freund, einen Verbündeten – und das wäre Frankreich.»
Das «Spiel Wilhelms», von dem der Historiker Röhl spricht, ist die maritime Aufrüstung des Deutschen Reiches, verbunden mit dem Versuch, Weltmacht-Status zu erlangen – und zwar auf Kosten Großbritanniens. Seit 1897 lässt Wilhelm unter der Regie des Admirals Tirpitz in immer schnellerem Tempo eine Hochseeflotte bauen.

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Wilhelm II.
mit seiner Familie, 1896

John Röhl: «Die Flottenmanie, die ja wirklich verrückt wurde, die kommt aus seinen Erfahrungen in England. Er sieht ja das allmächtige England, das wirklich damals die Supermacht in der Welt gewesen ist, und diese Macht war gegründet auf der Seemacht ... Und so ähnlich wollte er auch eine deutsche Flotte bauen. Bloß: die Flotte sollte bestehen aus mindestens 60 Schlachtschiffen, die alle unter einem Kommando in der Nordsee stationiert waren. Da brauchte man ja nicht die Landkarte erst zu nehmen, um zu sehen, gegen wen diese Flotte gerichtet war.»
Trotzdem hält der Kaiser fest an seinem «Lieblingsspielzeug» Flotte: Als britische Diplomaten darauf hinweisen, eine deutsch-britische Annäherung sei unter diesen Umständen undenkbar, schreibt er erstaunliche, weil impulsive und wenig überlegte Äußerungen in offizielle Akten – so im August 1908: «Wenn England uns nur seine Hand in Gnaden zu reichen beabsichtigt unter dem Hinweis, wir müssten unsere Flotte einschränken, so ist das eine bodenlose Unverschämtheit ... Die Deutsche Flotte ist gegen niemand gebaut ... das ist ganz klar im Flottengesetz gesagt … Dies Gesetz wird bis ins letzte Tüttelchen ausgeführt, ob es den Briten passt oder nicht, ist egal! Wollen sie den Krieg, so mögen sie ihn anfangen, wir fürchten ihn nicht!»
In Wilhelms Herrscherjahren entwickelt sich Deutschland zu einer hoch industrialisierten Nation: Erfindungen, funktionierende Technik sind der Stolz der Nation. Ferdinand Graf Zeppelin berichtet im Jahre 1908 über die Chancen seiner Luftschiffe: «Meine Luftschiffe werden bald zu den betriebssichersten Fahrzeugen gehören ... Mit froher Zuversicht darf das deutsche Volk daher annehmen, dass es aufgetan hat.»
Doch die politische und gesellschaftliche Entwicklung hält mit der wirtschaftlichen nicht Schritt. Sie ist anachronistisch, weil im Machtanspruch des Monarchen spät-absolutistisch.
Majestät werden nervös, wenn – was zunehmend geschieht – Kritik an den Zuständen im Reich laut wird. So erklärt Wilhelm in einer berühmten Rede im September 1906: «So wollen wir ein neues Gelübde aus dem schönen Schatz der Erinnerungen prägen: Uns von nun an mit Aufbietung aller geistigen und körperlichen Kräfte nur der einen Aufgabe zu widmen, unser Land vorwärts zu bringen, ein jeder in seinem Stande, gleichviel, ob hoch oder niedrig. Schwarzseher dulde ich nicht, und wer sich zur Arbeit nicht eignet, der scheide aus, und wenn er will, suche er sich ein besseres Land.»
Schon Jahre vor 1914, so meint der Wilhelm-Biograf John C.G. Röhl, habe das Regime Wilhelms die Ausweglosigkeit aus der inneren und äußeren Krise gespürt und einen Krieg als Möglichkeit erwogen, um den ‹gordischen Knoten› aus antiquierter Staatsideologie, innerer Reformunfähigkeit und außenpolitischer Umzingelung zu durchschlagen: «Ab 1908 spätestens ist eine gewaltige Krise da. Keiner weiß mehr, was man machen soll. Die Parteiverhältnisse im Reichstag sind auch so verfahren, dass praktisch nichts mehr durchgeht. Und ich will nicht ganz so weit gehen und sagen, dass die­se innere Krise Ursache des Entschlusses war, einen Krieg auszulösen. Aber es liegt irgendwie doch in der Luft, wenn alles so verfahren war, dass das vielleicht doch mitspielt als Gedanke: Wenn man ohnehin einen Krieg auslösen will – na ja, damit lösen wir dann auch die inneren Probleme.»
Im Ersten Weltkrieg selbst schwindet Wilhelms Einflussmöglichkeit jedoch rasch. Seine Rolle wird binnen weniger Monate sehr stark eingeschränkt – wie er selbst in einem Brief schreibt: «Der Generalstab sagt mir gar nichts und fragt mich auch nicht. Wenn man sich in Deutschland einbildet, dass ich das Heer führe, so irrt man sich sehr. Ich trinke Tee und säge Holz und gehe spazieren, und dann erfahre ich von Zeit zu Zeit, das und das ist gemacht, ganz wie es den Herren beliebt. Der Einzige, der ein bisschen netter zu mir ist, ist der Chef der Feldeisenbahnabteilung, der erzählt mir alles, was er macht und beabsichtigt.»

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Wilhelm II.
in Zivil, 1933

Der Oberste Kriegsherr, der vor 1914 darauf besteht, jedes Manövergefecht der Armee zu gewinnen, schrumpft zur Marionette der Generalität. Dass er im Großen Hauptquartier, dem Sitz der kommandierenden Generäle, bleibt, ist militärisch bedeutungslos. Es entfernt den Monarchen nur von der zivilen Innenpolitik, die weiterhin in Berlin agiert. Gipfel dieser schleichenden Entmachtung ist im November 1918 die Art, wie Wilhelm zur Abdankung gezwungen wird. Die höchsten Generäle, Ludendorff und Hindenburg, erklären ihm: Anderenfalls gebe es keinen Frieden mit den Alliierten, auch sei seine Autorität im Volk verloren.
John Röhl: «Er wird dann wie ein Kind weggeführt. Und versteht das gar nicht – versteht es auch später nicht. Und macht eine ganze Reihe von Bösewichten, wie er meint, für seinen Sturz verantwortlich: es sind die Juden, es sind die Freimaurer, es sind die Jesuiten, es sind die Österreicher, es sind die Amerikaner, es sind Hindenburg und Groener, es ist Max von Baden – ich meine: es sind eine ganze Reihe von Leuten, die alle eine Verschwörung gegen ihn durchgeführt haben. Aber er selber, der Krieg usw. sind nicht schuld.»
Am Morgen des 10. November 1918, einem Sonntag, reist der Kaiser per Auto und Zug vom belgischen Kurort Spa, wo sich das letzte deutsche Hauptquartier befindet, ins Exil in die Niederlande. In aller Eile wird ein kleines Wasserschloss in der Nähe von Utrecht für ihn gefunden, später kauft der Ex-Monarch ein Anwesen in Doorn. Der Hofstaat besteht in den folgenden Jahrzehnten nicht mehr – wie in Berlin – aus mehreren tausend Personen, sondern nur noch aus 30. Die Kaiserin ist zu diesem Zeitpunkt bereits schwer krank – sie stirbt 1921. Wilhelms Trauerphase währt jedoch nur kurz. Einem Vertrauten erzählt er ein paar Monate später: «Die Kinder schreiben immer, ich dürfe nicht so einsam bleiben. Aber wenn ich nun noch einmal heiraten will, wer kommt dann überhaupt in Frage? Warum soll ich nicht eine Frau aus unserem Adel nehmen? Am besten doch eine etwa Gleichaltrige, mit der ich gemeinsame Erinnerungen an die Jugendzeit habe, und eine Frau, die für mich etwas tut.»
Tatsächlich heiratet Wilhelm bereits im November 1922 die verwitwete Prinzessin Hermine von Schonaich-Carolath. Allerdings erweist sich die Ehe bereits nach kurzer Zeit als wenig glücklich – die beiden gehen sich gegenseitig rasch auf die Nerven. Dessen ungeachtet: Rein gesundheitlich gesehen verlebt der Exilant relativ ruhige Jahre – bis weit in die Ära des Dritten Reiches hinein.
John Röhl: «Sofern man das feststellen kann, fehlte ihm eigentlich sehr wenig in dieser Zeit. Er war oft an der frischen Luft, ist dann etwas dicker geworden. Er hat seelisch gelitten natürlich, hat gesponnen – Weltverschwörungskomplexe sich erdichtet, furchtbares Zeug von sich gegeben. Aber körperlich gesundheitlich ging’s ihm ziemlich gut bis in die letzten Monate seines Lebens.»

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Büste Wilhelms II. vor Haus Doorn

Eine Meinungsäußerung Wilhelms aus den letzten Lebensjahren – ihr Tenor: Wenn die Amerikaner nicht eingegriffen hätten, hätte das Deutsche Reich den Krieg gewonnen. Das zeigt nicht nur Wilhelms offenen Revanchismus, sondern deutet auch auf eine mögliche Nähe zum Nationalsozialismus. John Röhl verweist darauf, wie die Führungsriege der NSDAP die Hohenzollern-Familie, vor allem Wilhelms Söhne, umgarnt und welche Nazi-Anhängerin auch die Kaiser-Gattin Hermine ist. Bei Wilhelm selbst sieht dessen Biograf das Problem vor allem im Antisemitismus, der seit den Weltkriegsjahren extrem wird: «Da sagt er Sachen, die sie bei Hitler, Goebbels und Göring zu der Zeit nicht vorfinden bzw. nicht überliefert sind. ‹Die Juden müssen vertilgt und ausgerottet werden. Diese Schmarotzer, dieser Giftpilz an der deutschen Eiche› – sind alles Direktzitate. Später spricht er davon, sie müssten vergast werden wie die Mücken. Es ist einfach nicht zu glauben, was er in dieser Zeit von sich gibt – schriftlich und mündlich.»
Von der sogenannten «Endlösung» – der Vernichtung des europäischen Judentums durch das Dritte Reich – erfährt Wilhelm II. nichts mehr. Er stirbt, 82-jährig, am 4. Juni 1941 in Doorn im Exil. Zur Beisetzung stellt die Wehrmacht, die die Niederlande besetzt hält, ein sogenanntes Ehrenbataillon. Trauergäste sind neben zahlreichen Familienmitgliedern auch mehrere Generäle und Admiräle. So spannt sich bei dem Akt quasi ein Bogen über verschiedene Regimes und Herrschaftsformen. Wahrscheinlich war die Symbolkraft nicht beabsichtigt. Doch verkörpert Wilhelm der Zweite als Person die Brücke von der spätabsolutistischen Form der Monarchie in Deutschland zum Dritten Reich mit seinem verhängnisvollen Führer-Prinzip.

Autor: Rainer Volk
Redaktion: Brigitte Reimer
© Bayerischer Rundfunk

Wilhelm II.
Deutscher Kaiser und König von Preußen
Zeittafel

1859 27. Januar: Friedrich Wilhelm wird als erstes Kind des Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen, später Kaiser Friedrich III., und seiner Frau Victoria, Princess Royal of England, im Kronprinzenpalais in Berlin geboren.
Die Erziehung Wilhelms wird dem Calvinisten Georg Hinzpeter übergeben.
1874–1877 Besuch des Gymnasiums in Kassel-Wilhelmshöhe.
1877 Aufnahme des Studiums der Rechts- und Staatswissenschaften in Bonn.
1881 Heirat mit Prinzessin Auguste Viktoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg. Der Ehe entstammen sieben Kinder.
1888 9. März: Tod des Großvaters Kaiser Wilhelms I.
15. Juni: Durch den Tod des Vaters, Kaiser Friedrichs III., wird der Kronprinz als Wilhelm II. Deutscher Kaiser und König von Preußen.
1890 18. März: Aufgrund von innenpolitischen Differenzen und eigenen machtpolitischen Ambitionen verlangt Wilhelm II. den Rücktritt des Reichskanzlers Fürst Otto von Bismarck, den dieser am folgenden Tag einreicht.
1896 3. Januar: Wilhelm II. gratuliert dem Präsidenten der Burenrepublik Paulus Krüger zum erfolgreichen Widerstand gegen englische Angriffe («Krügerdepesche»). In England provoziert dieser Vorfall breite öffentliche Kritik am deutschen Kaiser.
1898 Beginn des Schlachtflottenbaus unter dem Staatssekretär im Reichsmarineamt Alfred von Tirpitz. Die Flottenaufrüstung, als Instrument deutscher Kolonialpolitik konzipiert, wird von Wilhelm II. gefördert. Sie belastet das Verhältnis zu Großbritannien.
1900 Zur Niederschlagung des Boxeraufstands in China hält Wilhelm II. die «Hunnenrede», in welcher er die deutschen Truppen zu massiven Vergeltungsmaßnahmen auffordert.
1905/06 Erste Marokko-Krise: Wilhelm II. protestiert gegen die französische Interessenpolitik in Marokko. Auf der internationalen Schiedskonferenz von Algeciras (1906) findet die deutsche Politik keine Verbündeten.
1907 Eine Artikelserie Maximilian Hardens diskreditiert das persönliche Umfeld des Kaisers, vor allem seinen Berater Philipp Fürst von Eulenburg, als moralisch verwerflich («Eulenburg-Affäre»).
1908 «Daily-Telegraph-Affäre»: Ein in der englischen Zeitung «Daily Telegraph» veröffentlichtes Interview mit Wilhelm II. über die Ziele deutscher Außenpolitik erregt im In- und Ausland Kritik. Die deutsche Öffentlichkeit fordert eine präzise verfassungsrechtliche Einschränkung der monarchischen Kompetenzen.
1911 Zweite Marokko-Krise: Als Reaktion auf die französische Besetzung der Städte Rabat und Fez schickt Wilhelm II. ein Kanonenboot nach Marokko, um Deutschlands weltpolitische Geltung gegenüber konkurrierenden Kolonialmächten notfalls militärisch zu demonstrieren.
1914 6./7. Juli: Wilhelm II. versichert Österreich-Ungarn nach der Ermordung des habsburgischen Thronfolgers Franz Ferdinand durch serbische Nationalisten uneingeschränkte Bündnistreue für den Fall kriegerischer Auseinandersetzung.
4. August: Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs ruft Wilhelm II. im Reichstag zu nationaler Solidarität und Geschlossenheit auf.
1916 Infolge der Berufung Paul von Hindenburgs und Erich Ludendorffs in die 3. Oberste Heeresleitung (OHL) verliert der Kaiser zunehmend Einfluss auf die militärische Kriegführung.
1918 9. November: Reichskanzler Prinz Max von Baden verkündet eigenmächtig die Abdankung des Kaisers.
10. November: Wilhelm II. flieht aus dem Hauptquartier in Spa in die Niederlande.
Die niederländische Regierung gestattet ihm den Aufenthalt unter der Bedingung, dass er auf politische Betätigung verzichtet. Er bleibt allerdings mit zahlreichen politischen und militärischen Persönlichkeiten in Kontakt.
28. November: Unterzeichnung der Abdankungsurkunde.
1919 Kauf von Haus Doorn in der Provinz Utrecht.
1921 11. April: Tod seiner Frau Auguste Viktoria. Ihr Leichnam wird nach Potsdam überführt.
5. November: Heirat mit Hermine von Reuß, verwitweter Prinzessin Schönaich-Carolath.
1931/32 Wilhelm II. empfängt Hermann Göring in Haus Doorn. Er erhofft sich von einer nationalsozialistischen Regierung die Wiedereinführung der Monarchie in Deutschland.
1940 Wilhelm II. gratuliert Adolf Hitler telegrafisch zur Einnahme von Paris.
1941 4. Juni: Tod Wilhelms II. in Doorn. Auf Geheiß Hitlers wird er bei seinem Wohnsitz im Mausoleum Doorn mit militärischen Ehren beigesetzt.

Der Text ist entnommen aus: http://www.br-online.de