Bildung und Erziehung
Frau, ich hab Dings!
Ein Verlag hat mir sein neues Lexikon geschickt: «Jugendsprache – begeistern Sie sich und Ihre Schüler für zeitgemäßen Deutschunterricht!» Ich kenne natürlich kaum eins der Wörter. Vielleicht werden sich meine Schüler über Berater-Pommes, Gesäßhusten, Blechpickel und Weizenspoiler amüsieren? Aber sie reagieren nur verständnislos, fast gereizt: «Murmelschuppen für Kirche? Trachtengruppe für Polizei? Fußhupe für kleine Hunde? Wo haben Sie denn diesen Quatsch her? So redet doch kein Mensch! – Wir wollen lieber Fontane lesen!» Wir begleiten also Frau Jenny Treibel weiter bei ihren Lebenslügen. Im gepflegten Deutsch des Realismus.
Als es klingelt, fragt Mandy im Rausgehen ihre Freundin Sarah: «Gehst du U-Bahn?» – «Nein, erst Mensa, Päckchen. Außerdem bin ich Fahrrad.» Niemand fragt nach. Alle wissen, was das bedeutet: «Gehst du zur U-Bahn?» – «Nein, erst in die Mensa. Ich will mir noch ein Trinkpäckchen holen. Außerdem bin ich heute mit dem Fahrrad unterwegs.»
Es gibt nämlich in unserer Republik nicht nur Denglish, Deutsch-Englisch, sondern auch «Tütsch», Türkisch-Deutsch. Jugendliche benutzen diese praktische Kurzsprache und freuen sich, wenn Erwachsene darüber die Stirn runzeln. Auf indigniertes Nachfragen des Erziehungspersonals kann meist der korrekte deutsche Satz formuliert werden. Aber das ist zeitraubend und umständlich. Wozu lang, wenn es kurz und prägnant viel besser geht?
Auf einer Klassenfahrt wandert die Lehrerin durch den Reisebus und notiert die Wünsche der Schülerinnen und Schüler. Heute werden zwei Gruppen gebildet. Eine besucht das Schmetterlings-Gehege, die andere das Heimatmuseum. Vier Abiturientinnen sitzen zusammen, die Sprecherin erklärt: «Yasmin Schmetterling. Die anderen alle auch Schmetterling!» Die Lehrerin fühlt sich akut vom Verfall deutscher Kultur und Sprache bedroht und fragt entsetzt: «Wie bitte?» (Obwohl sie genau verstanden hat...) Yasmin sagt entnervt: «Ich möchte gern das Schmetterlingshaus besuchen, die anderen drei auch.»
Manchmal klappt es nicht, die Schüler durch gezieltes Nachfragen zum korrekten Sprechen zu bringen. Ein Junge entschuldigt sich für seine Verspätung: «Ich war Sekretariat.» Der Lehrer fragt: «Wie heißt das?!» Ein Mitschüler springt hilfreich ein: «Der war wirklich Sekretariat!»
Nicht immer ist Jugendsprache allerdings so leicht zu entschlüsseln wie in diesen Beispielen. Ein Kollege tadelt vor dem Schulparkplatz einen Jugendlichen, weil der raucht. Der Schüler antwortet herablassend: «Ich bin aber Martin Luther.» Der Lehrer trollt sich. Das verstehen Sie nicht, oder? Der Raucher ist von der benachbarten Bildungsanstalt. Beide Schulen teilen sich Hof und Parkplatz. Die volljährigen Schüler der Martin-Luther-Oberschule dürfen vor dem Parkplatz rauchen. «Ich bin Martin Luther» heißt übersetzt: «Ich bin mindestens 18. Nach den Regeln meiner Schule, der Martin-Luther-Oberschule, darf ich hier rauchen. Sie sind ein Lehrkörper der anderen Anstalt. Sie haben mir gar nichts zu sagen!»
Zwei Jungen streiten sich im Schulflur. Der eine zischt: «Pass auf, ich mach dich Urban!» Der Aufsicht führende Lehrer stellt sich sofort dazwischen, denn er hat ganz richtig gehört: «Pass auf, wenn du mich weiter reizt, schlage ich so zu, dass du im Urban-Krankenhaus landest!» Ein Synonym für diesen Sachverhalt ist auch «Schnauze, sonst Bombe!»
Mit Aussagen wie «Frau, ich hab Dings!» kann aber auch das kurzsprachkundige Lehrpersonal nicht viel anfangen. Selbst wenn die Schülerin dabei klagend die Hand auf dem Rücken hält. Nach intensivem Nachfragen wird folgende Information zu Tage gefördert: «Frau Grabert-Nötzel, ich verspüre heftige Rückenschmerzen und kann deshalb leider nicht an Ihrem Sportunterricht teilnehmen!»
«Das ist Jugendsprache», erklärt Vanessa ungerührt. «Das hat mit Ausländerdeutsch gar nichts zu tun. So reden wir alle. Das ist bequemer.»
Wenn man den ganzen Tag «Kurz-Sprak» hört, erwischt es einen selber irgendwann. Abends fragt die Lehrerin ihren Sozialpartner: «Gehen wir heute China?» – «Nein, ich hab’Abi.» Hier die Übersetzung für hochdeutsch sprechende Menschen: «Wollen wir heute Abend gepflegt essen gehen? Vielleicht in das neue chinesische Restaurant am Stadtpark? Ich lade dich ein!» – «Nein, das geht leider nicht, ich muss noch die Abiturvorschläge ausarbeiten! Morgen ist der Abgabetermin!»
Mittlerweile nutze ich die enormen Vorteile der Kurzsprache ganz bewusst in meinem pädagogischen Alltag. Statt umständlicher Aufforderungen wie: «Würdest du bitte an deinen Platz gehen, Fee Nike? – Hör sofort damit auf, Max-Adam deinen Atlas auf den Kopf zu hauen! – Quirin, der Unterricht hat angefangen. Setz dich endlich auf deinen Stuhl!» sage ich nur noch: «Platz! – Aus! – Sitz!» Das funktioniert fantastisch!
Erklärungen
Berater-Pommes: Sushi
Gesäßhusten: Na ja … kann man sich ja wohl denken
Blechpickel: Piercing
Weizenspoiler: Bierbauch
Gabriele Frydrych
Der Text ist entnommen aus: http://www.teachersnews.net