Das liest man in Deutschland
Die Ich-Frage
Thomas Glavinics rätselhafte Romane «Die Arbeit der Nacht» und «Das Leben der Wünsche»
Ich bin nicht Thomas Glavinic, obwohl ich dieselben Initialen habe. Das muss gesagt werden, denn in seinen Werken spielt der österreichische Autor gerne und geschickt mit Namen, auch mit dem eigenen. In Glavinics letztem Roman, Das bin doch ich (2007), heißt der Erzähler wie der Verfasser, ist Autor und hat soeben das Buch Die Arbeit der Nacht abgeschlossen. Dieser Titel ist keine Erfindung, Die Arbeit der Nacht kein Buch-im-Buch, sondern eins, das man kaufen kann, und geschrieben hat es – Thomas Glavinic.
Die Arbeit der Nacht beginnt an einem Morgen in einer leeren Stadt. Jonas, 35 Jahre alt, schaltet den Fernseher ein, kein Bild. Die Zeitung, die er abonniert hat, ist nicht da. Als Jonas seine E-Mails lesen möchte, lässt sich keine einzige Internetseite aufrufen. Niemand begegnet ihm auf dem Weg zur Arbeit, niemand ist im Büro. Alle Menschen, alle Tiere sind verschwunden, nur Jonas ist übrig, allein in Wien.
Für Jonas’ Leben in der Leere fehlt in Die Arbeit der Nacht jegliche Erklärung. Damit steigert Glavinic die Faszination des Unheimlichen, weil es kein Erwachen aus einem Albtraum gibt, keinen Ausbruch aus einem Menschenexperiment, keine Krankheitsdiagnose, die das Rätsel als Wahn offenbaren würde. Das einzige Menschenexperiment ist das Dasein selbst. Indem der Roman Jonas der Einsamkeit ausliefert, zeigt er, was von einem Menschen bleibt, der nur sich allein hat. Erzählerisch bedeutet das ein großes Wagnis: Allzu leicht könnte sich der Leser langweilen (was soll ein Einsamer schon erleben?) oder an die Philosophie verloren gehen (Solipsismus, qu’est-ce que c’est?).
Langweilig wird Die Arbeit der Nacht indes nie. Jonas sorgt schon selbst dafür, dass genug geschieht. «Hallo, Jonas», begrüßt er sich auf einer Audiokassette. «Fast eine Dreiviertelstunde sprach er. Er bemühte sich, gleich wieder zu vergessen, was er gesagt hatte.» Vom Telefon in seiner Wohnung aus ruft er sich dann auf dem Handy an, stellt den Rekorder neben den Hörer, startet das Band von vorn und steigt ins Auto. «Hallo, Jonas», hört er sich nun sagen, bevor Anweisungen zu einem Weg folgen, von dem er nicht weiß, wohin er ihn führen wird. Im Einfallsreichtum solcher (Selbst-)Erkundungen erweist sich auch die Unrast, die die Tagseite einer Existenz in Einsamkeit bestimmt.
Die Arbeit der Nacht ist zunächst die Leerstelle des Buchs, dessen Kapitel wieder und wieder damit einsetzen, dass Jonas wach wird. Die Stunden davor fehlen dem Leser, aber auch Jonas, der sich fragt, warum er noch müde ist, egal wie lange er geschlafen hat. Erst als aufgezeichnete Zeit gelangt die Nacht in den Roman, nachdem Jonas eine Videokamera auf sein Bett richtet, die ihn im Schlaf filmen soll. Neben den wachen Jonas tritt fortan die Figur des «Schläfers», der ihm äußerlich gleicht und doch seltsam fremd wirkt, wie er auf den Videos zu sehen ist: «Nach neunundfünfzig Minuten murmelte der Schläfer einige Sätze. Ihr Wortlaut war nicht zu verstehen. Er ruderte mit den Armen. Drehte sich von der Kamera weg.»
Jonas und der Schläfer führen einen Zweikampf, den keiner von beiden gewinnen kann. Einmal schreibt Jonas in einem weiteren Selbstversuch beliebige Worte auf dreißig Karten, die er einsteckt, um immer dann eine zu ziehen, wenn er Rat braucht. «Blau» liest er auf einer, «Laut schreien!» auf einer anderen, später auch «Schlaf». Da mischt Jonas den Stapel, zieht neu, liest wieder «Schlaf». Das Wort steht auf allen dreißig Karten.
Wider die Einsamkeit und das Ringen mit dem Schläfer weiß Jonas nur die Erinnerung und die Liebe zu setzen. Die frühere Wohnung der Eltern richtet er so her, dass sie aussieht wie in seiner Kindheit. Er besucht noch einmal den Urlaubsort, an dem die Familie ihre Ferien verbrachte. Stets denkt er an Marie, die er liebt. Sie war zu Verwandten nach England gereist, bevor alles begann. Dort wird Jonas sie suchen.
Mit der Doppelfigur Jonas/Schläfer findet Glavinic eine literarische Gestalt für die ewige Frage nach dem Ich. Jonas selbst ist der Schläfer, aber der Schläfer ist auch ein anderer. Wenn nun Glavinics neuester Roman Das Leben der Wünsche erscheint, stellt sich abermals die Ich-Frage. Die Hauptfigur Jonas ist 35 Jahre alt und liebt Marie. Klingt bekannt?
Dieser Jonas lebt allerdings unter Menschen, geht seiner Arbeit nach, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Seine Frau heißt Helen. Marie, seine Geliebte, ist auch verheiratet und hat einen Sohn. All das weiß der Unbekannte, der Jonas im Park anspricht. Jonas denkt an einen Erpressungsversuch, aber der Mann sagt nur: «Jonas, ich erfülle Ihnen drei Wünsche.» Es ist ihm Ernst damit. Viele Wünsche fallen Jonas ein, etwa einem Unglück knapp zu entgehen, aktiver zu sein, mehr zu wissen. Schließlich wünscht er sich schlicht, dass sich alle seine Wünsche erfüllen, und gibt die beiden übrigen Wünsche zurück.
Auf den starken Auftakt folgt der Alltag. Daheim erwartet Jonas ein Streit mit Helen, weil er vergessen hat, vor dem Kindergarten mit den Söhnen zum Impfen zu fahren. Seine Arbeit in einer Werbeagentur beschränkt sich auf wenig anspruchsvolle Produkte wie den Prospekt einer Autowäscherei. Einmal in der Woche sieht er Marie, zu der er zwischendurch vor allem per SMS Kontakt hält. Das ist Jonas’ Leben. Dann werden seine Wünsche Wirklichkeit.
«Sie können sich keine anderen Wünsche wünschen», hatte der Fremde im Park Jonas gewarnt. Warum sollte er auch? Die Kurse seiner Aktien entwickeln sich überraschend gut. Schon lange steht er in der Schuld seines Kollegen Werner, dem er seinen Job verdankt. Endlich kann Jonas ihm einen Gefallen tun, als er sich in den Rechnerraum der Agentur schleicht, um eine von Werner versehentlich versandte E-Mail zu löschen. Erfolg an der Börse, ein mutiger Freundschaftsdienst – schon sind zwei Wünsche erfüllt.
Der Fremde hatte aber auch gesagt: «Geben Sie Ihren Wünschen Zeit, sich zu entfalten.» Je mehr Zeit vergeht, desto einschneidender werden die Veränderungen. Helen stirbt an Herzversagen, und Jonas sieht sich in einem Albtraum leben statt in einer Wunschwelt: «Er war erfüllt von schlechtem Gewissen, von Schuldgefühlen, von Angst.» Kann er sich Helens Tod gewünscht haben? Andererseits findet Jonas als Witwer rasch Ablenkung. Eine Kollegin steckt ihm ihre Handynummer zu, eine andere geht mit ihm aus und schläft mit ihm, Werner und seine Frau Evie laden ihn zu einer Nacht zu dritt ein. Jonas lebt sich aus und bleibt doch unglücklich, solange er nicht mit Marie zusammen ist.
Wie sich Jonas in Die Arbeit der Nacht mit dem Schläfer auseinandersetzen muss, so sind es hier seine uneingestandenen Wünsche, die ihn erschrecken lassen, weil sie mehr über ihn verraten, als ihm lieb ist. Er identifiziert sich ja sehr mit der Rolle als Vater, der beim Anblick der schlafenden Söhne «Milde, Schwäche, Kapitulation, das Gefühl bedingungsloser Liebe» empfindet und der ihnen beibringt, wie man mit einem Glas und einem Stück Papier Spinnen lebendig aus dem Fenster befördert: «Man darf nichts und niemanden töten! Man darf niemandem etwas zuleide tun! Versteht ihr das?»
Nur wie verträgt sich diese Sanftmut damit, dass Helens Liebhaber tot im Wald gefunden wird, wo er gestürzt sein muss und noch gelebt haben könnte, «als sich Waldtiere über seinen Körper hergemacht haben»? War auch das Jonas’ Wunsch? Welches ist dann sein wahres Ich, der fürsorgliche Vater oder der rachsüchtige Gehörnte? Kann er beides sein?
Neben der Ich-Frage als zentralem Link stellt Glavinic noch mehr Bezüge her, über Bilder, Töne und Sätze, die einem in beiden Büchern begegnen. In Die Arbeit der Nacht erinnert sich Jonas an ein Urlaubsfoto, das ihn als Kind mit einem Tigerjungen auf dem Arm zeigt. In Das Leben der Wünsche ist es Marie, die ein solches Foto aus ihrer Kindheit erwähnt. Die Romane ergänzen einander nicht um ein Vorher oder Nachher; durch Spiegelungen und Verschiebungen erzählt Glavinic die Geschichte einer anderen möglichen Gegenwart.
Das erste Buch, Die Arbeit der Nacht, ist das gewaltigere, das fesselndere Werk. Der Schläfer macht den Unterschied, er ist so schrecklich und so wunderbar. Das Grauen, das von ihm ausgeht, wirkt lange nach. Aus der Leere der Welt hat dieses Grauen seine Kraft. In der auseinanderbrechenden Alltagswelt von Das Leben der Wünsche ist die Geschichte hingegen weniger bei sich. So überwiegt der Eindruck eines Episodenreigens, der an Themen und Ideen aus Die Arbeit der Nacht andockt, ohne dass davon solch ein Sog ausginge wie von diesem großen Roman.
Von Thorsten Gräbe
Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht. Roman. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2008.
Thomas Glavinic: Das Leben der Wünsche. Roman. München: Carl Hanser Verlag, 2009.
Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de