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Sonderthema

Emilie Kempin, die erste deutschsprachige Juristin

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Emilie Kempin
http://kempin-spyri.uzh.ch

Gelehrte Frauen waren vielen Männern die längste Zeit ein Dorn im Auge, sie waren meist schlimmsten Diskriminierungen und Anfeindungen ausgesetzt. Eine von ihnen war die Schweizer Juristin Emilie Kempin, die im Jahr 1887 als erste Frau im Fachbereich Jura an der Zürcher Universität promovierte. Ihr Leben lang kämpfte sie um berufliche Anerkennung, scheiterte in ihrer Heimat an der starren und frauen­feindlichen Bürokratie und ging schließlich in die USA, wo sie schon bald eine erfolgreiche und angesehene Juristin wurde. Mit ihrer Rückkehr in die Schweiz war diese kurze Zeit der Anerkennung schnell vorbei, wieder kämpfte sie gegen behördliche Restriktionen, wieder gelang es ihr nicht, als Juristin den Unterhalt für ihre Familie zu verdienen. Als dann noch private Probleme hinzukamen, schien ihr Kampf endgültig verloren...

«Basel, Irrenanstalt, den 18.12.1899

Sehr geehrter Herr!
In No. 50 Ihres geschätzten Blattes suchen Sie für einen größeren Haushalt ein Fräulein oder Witwe von zuverlässigem Charakter. Ich erlaube mir ergebenst, mich um diese Stelle zu bewerben. Ich bin seit Februar dieses Jahres in hiesiger Anstalt ... ich sehne mich vor allem nach nützlicher Arbeit und Bewegung, wie die mannigfachen Pflichten in einem Haushalt sie bieten. Dann aber bin ich auch vollkommen existenzlos, mein Bureau, das ich in Berlin gehalten habe, ist natürlich geschlossen, meine Clientel kennt mich nicht mehr, mein Name ist mit dem Odium der Geisteskrankheit behaftet.»
Als die Schweizerin Emilie Kempin diesen Brief schreibt, ist sie 46 Jahre alt und seit über zwei Jahren in verschiedenen Nervenheilanstalten interniert. Ihre Situation ist hoffnungslos: «Ich bin vollkommen mittellos und allein stehend; von meinem Manne schon seit Jahren getrennt, meine Kinder sind in der Welt herum zerstreut, meine Beziehungen zu den Freunden und Verwandten abgebrochen. Die Letzteren haben sich meines Studiums der Jurisprudenz wegen schon seit 15 Jahren von mir gewandt.»
Eine bittere Bilanz. Am Ende ihres Lebens – nur zwei Jahre später stirbt Emilie Kempin an Krebs – bleibt ihr nichts als die Hoffnung auf eine Stelle als Dienstmädchen. Als erste deutschsprachige Juristin hatte sie Vorträge gehalten, Artikel geschrieben, an der Universität unterrichtet und in New York eine eigene Rechtsschule gegründet.
«Sooft ich zurückdenke – die Erinnerung beginnt immer da, wo wir als Schulkinder, ohne zu erkennen, worum es eigentlich ging, fühlten, dass es etwas Besonderes mit unserer Mutter sein musste», schreibt ihr Sohn Walter in einem Zeitungsbericht aus dem Jahr 1923. «Meine Mutter studierte nämlich! Jedoch studierte sie eben nicht als junges Mädchen, das heutzutage in solchem Falle nur geregelte Bahnen zu betreten braucht, nein, sie war eine Frau Pfarrer, hatte drei kleine Kinder und ließ sich von ihrem Mann Latein und die sonst notwendigen Maturitätskenntnisse beibringen, damit sie als Kandidatin der Jurisprudenz an der Universität Zürich zugelassen und immatrikuliert werde.»
Emilie Kempin war 32 Jahre alt, als sie 1885 ihr Studium begann. Damals waren Frauen an der Universität noch eine Seltenheit, auch wenn Zürich diese Neuerung als erste europäische Stadt bereits 1867 eingeführt hatte. Doch die Vorurteile gegen gelehrte Frauen hatten eine lange und ehrwürdige Tradition. Sie waren vielen Männern die längste Zeit ein Dorn im Auge: «Es ist kein Rock noch Kleid, das einer Frau oder Jungfrau übeler anstehet, als wenn sie klug sein will», fand der Reformator Martin Luther. Der Philosoph Immanuel Kant war der Meinung, dass «mühsames Lernen oder peinliches Grübeln» die Reize des schönen Geschlechts schwächt, sein Kollege Arthur Schopenhauer meinte, dass sich die «instinktartige Verschlagenheit» der Frauen und «ihr unvertilgbarer Hang zum Lügen» nicht mit der Wissenschaft verträgt.
Oft wurde den Frauen überhaupt die Fähigkeit zu höherer geistiger Tätigkeit abgesprochen. Ein Hauptargument war ihr angeblich zu kleines Gehirn. Als der Arzt Paul J. Möbius im Jahr 1900 ein Werk Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes veröffentlichte, sprach er schon im Titel aus, was viele Männer insgeheim dachten. Oder hofften? Die Widerstände gegen Frauen, die in die männlichen Domänen des Geistes und der Wissenschaft eindringen wollten, waren jedenfalls groß. Während ihres ganzen Studiums blieb Emilie Kempin die einzige Frau an der juristischen Fakultät. Kein Wunder, sie hatte sich ja auch in ein ganz spezielles Gebiet vorgewagt. Ihr Sohn: «Ausgerechnet das Rechtsstudium, das war bei Frauen nie vorgekommen, also unerhört.»
Medizinstudentinnen hatte es in Zürich schon gegeben, sogar eine Ärztin praktizierte seit 1875 in der Stadt. Diese eher soziale Tätigkeit entsprach noch einigermaßen dem traditionellen Frauenbild. Juristen dagegen wirkten in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Politik mit, in Lebensbereichen also, die den Frauen Ende des 19. Jahrhunderts noch verschlossen waren. Mit der Wahl dieses Studienfaches signalisierte Emilie Kempin, dass sie früher oder später Einlass in diese Männerdomänen begehren würde. Ein nicht nur unweibliches, auch ein dreistes Ansinnen. Der Bruch mit der Familie blieb nicht aus – zumal schon Emilies Heirat mit dem liberal eingestellten Pfarrer Walter Kempin gegen den Willen des Vaters, Johann Ludwig Spyri, geschah. Der, ehemals selbst Pfarrer und inzwischen als Stadt- und Kantonsrat tätig, wetterte sogar gegen weibliche Lehrkräfte an den Schulen: «In der Natur des Weibes nimmt das Geschlechtsleben ... einen so bedeutenden Platz ein, dass die Erfüllung der hohen Bestimmung als Gattin und Mutter nicht durch anderweitige Aufgaben gehemmt werden darf.»
Aber warum überhaupt ein Studium – mit 32 Jahren und als Mutter von drei kleinen Kindern?
Kempin: «Da inzwischen der Ernst des Lebens an mich herangetreten war, wurde ich mit Entsetzen gewahr, dass meine Bildung mich im Notfalle auf keinem einzigen Gebiete menschlicher Tätigkeit befähigen würde, etwas zu leisten. Überall halbes Können und weniger als halbes Wissen.»
Der «Ernst des Lebens», das waren Existenzsorgen, die Emilie Kempin nie mehr loslassen sollten. Schon früh zeichnete sich ab, dass ihr Mann wegen Schwierigkeiten mit der Kirchenbehörde seine Pfarrei verlieren und die Familie nicht mehr länger würde allein ernähren können. Ein Studium war die einzige standesgemäße Lösung, um Emilie in ihrem Alter noch zu einem Beruf und damit zu einer Einkommensquelle zu verhelfen. Doch als sie unter schwierigsten Umständen 1887 nach nur zwei Jahren ihre Promotion machte – mit drei Kindern allein lebend, Walter Kempin arbeitete inzwischen als Journalist in Berlin –, wurde ihr das Anwaltspatent verweigert: «Anlässlich einer Prozesssache meines derzeit in Deutschland lebenden Ehemannes habe ich denselben vor Gericht vertreten wollen, wurde aber vom Bezirksgericht Zürich von den Schranken gewiesen mit der Begründung, das Aktivbürgerrecht komme mir nicht zu.»
Nicht ein Jurastudium, sondern das Aktivbürgerrecht war damals im Kanton Zürich Voraussetzung für den Anwaltsberuf – und das besaßen nur die Männer. Emilie Kempin war die erste Frau, die dagegen protestierte – mit einer staatsrechtlichen Beschwerde vor dem Höchsten Schweizer Gericht: «Ich stütze mich dabei in erster Linie auf Art. 4 der Bundesverfassung: ‹In der Schweiz gibt es keine Vorrechte des Orts, der Geburt, der Familien oder Personen.›»
Emilie war der Auffassung, dass daraus auch die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter folgen müsse. Das Gericht war anderer Meinung. Es hielt diese Auffassung für «ebenso neu als kühn; sie kann aber nicht gebilligt werden». Die Beschwerde wurde abgewiesen.
Noch ein knappes Jahr lang kämpft Emilie um eine berufliche Zukunft in der Schweiz. Doch auch an der Universität will man sie nicht haben: Ihre Bewerbung um eine Stelle als Dozentin für römisches Recht wird 1888 abgelehnt, obwohl zwei Professoren sie dafür vorgeschlagen hatten. Gegen ihre fachliche Qualifikation ist nichts einzuwenden – nur ist sie eben eine Frau: «Der Senat ist der Ansicht, dass Paragraph 132 des Unterrichtsgesetzes die Zulassung weiblicher Privatdozenten durchaus ausschließt und dass auch, hiervon abgesehen, dieselbe unter den gegenwärtigen Verhältnissen inopportun ist.»
Walter Kempin junior: «Auf diese Weise gleichsam von der heimatlichen Scholle vertrieben, richteten sich die Blicke meiner Mutter immer verlangender nach Amerika, woher schon Kunde von weiblichen Rechtsanwälten gedrungen war. Bald siedelte unsere Familie nach New York über.»
Ein neues, in beruflicher Hinsicht sehr erfolgreiches Kapitel beginnt. Erstaunlich, was Emilie Kempin in kürzester Zeit leistet: Sie wird als erste Frau an der Rechtsfakultät der New Yorker Universität als Studentin zugelassen, arbeitet sich in das amerikanische Recht ein, findet eine Stelle als Volontärin in einem Anwaltsbüro, gründet eine private Rechtsschule für Frauen – die «Emilie Kempin’s Law School» –, lehrt am «Medical College & Hospital for Women» Gerichtsmedizin, verfasst ihre Habilitationsschrift und bekommt schließlich einen Lehrauftrag an der New Yorker Universität im Fach Römisches Recht und Geschichte des amerikanischen Rechts. Damit ist sie die erste Frau, die an einer amerikanischen Universität Recht doziert. Und das alles in nur zweieinhalb Jahren.
Walter Kempin junior: «In unserem Besitz befindet sich noch eine kleine Fotografie, die meine Mutter in schwarzem Talar mit einem Barett bedeckt darstellt, wie sie inmitten ihrer Schülerinnen Rechtskunde doziert.»
Trotzdem gibt es für Emilie Kempin keine Zukunft in New York – aus familiären Gründen: Ihr Mann kann sich in der Fremde nicht einleben – wegen seiner schlechten Sprachkenntnisse gelingt es ihm nicht, als Journalist zu arbeiten. Vielleicht befindet sich das Ehepaar auch schon in einer Krise. Jedenfalls kehrt Walter bereits im Frühjahr 1890 mit den Kindern nach Zürich zurück und eröffnet unter dem Namen seiner Frau ein deutsch-amerikanisches Rechtsbüro. Hin- und hergerissen zwischen Beruf und Familie bleibt Emilie vorerst in New York, folgt dann für einige Monate und kehrt schließlich 1891 ebenfalls in die Schweiz zurück. Der familiäre Zusammenhalt war ihr immer wichtig gewesen. Jahre später – kurz vor ihrem nervlichen Zusammenbruch – wird sie Bilanz ziehen und zu einem bitteren Ergebnis kommen: «In einem Vortrag habe ich unlängst darauf aufmerksam gemacht, dass die Ausübung eines Berufes für die verheiratete Frau nicht wohl angehe, indem entweder der häusliche oder der geschäftliche Beruf leiden müsse. Beides zu vereinigen sei unmöglich. Diese durchaus nicht auf Neuheit Anspruch machende Bemerkung wurde von einigen Führerinnen der Frauenbewegung mit Hohn aufgegriffen und mir zurückgeschleudert mit der Frage: und das sagt die Frau, welche selbst Berufsfrau, Hausfrau und Mutter ist? ... Jawohl, das sage ich selbst, und zwar nicht trotzdem, sondern weil ich es am eigenen Leibe erfahren habe, wie unmöglich es ist, den verschiedenen Ansprüchen bei solchem Doppelberuf gerecht zu werden.»
Zurück in der Schweiz entwickelt Emilie die gleiche Betriebsamkeit wie in New York – nur mit weniger Erfolg. Zwar wird ihr nach zähen Kämpfen die Venia Legendi für römisches, englisches und amerikanisches Recht erteilt, aber ihre Vorlesungen werden anfangs nur spärlich und nach einigen Semestern schließlich gar nicht mehr besucht. Eine Züricher Zeitung schreibt: «Es ist eine Demütigung für männliche Studierende, sich von einer Frau belehren lassen zu müssen.»
Der akademische Misserfolg ist auch aus finanziellen Gründen fatal. Die Familie ist auf das Einkommen der Mutter angewiesen. Denn auch das deutsch-amerikanische Rechtsbüro, das sie mit ihrem Mann führt, läuft nicht besonders gut. Da sie selbst noch immer nicht als Anwältin arbeiten darf, muss er, der gerade erst ein Jurastudium begonnen hat, ihre Mandanten vor Gericht vertreten.
In den insgesamt vier Jahren, die sie in Zürich lebt, ist Emilie unermüdlich. Sie gründet einen privaten «Frauenrechtsschutzverein» und gibt die Zeitschrift «Frauenrecht» heraus, unterrichtet an einer Höheren Töchterschule, schreibt Artikel, hält Vorträge. Und immer wieder erregt sie als einzige Frau in elitären Männerrunden Aufsehen. In einem Zeitungsbericht über die Tagung der kriminalistischen Vereinigung in Bern 1894 heißt es: «Nach Schluss der Tagung wurde ein Ausflug ins Berner Oberland unternommen. Im ‹Thunerhof› wurde getafelt. In dieser Stimmung wurden auch Reden gehalten, wobei man der einzigen Frau in der Versammlung besonders ehrend gedachte. Da erhob sich auch Frau Kempin zu einer Rede. Sie sprach mit Begeisterung, nicht wie eine Frauenrechtlerin gewöhnlich spricht, sondern frei von Phrasen und Deklamation. Und einmütig sagten die Männer unter sich: ‹Das war eine ausgezeichnete Rede, die Kempin ist eine bedeutende Frau.›»
Ende 1895 trennt sich Emilie Kempin von ihrem Mann, verlässt die Schweiz und geht nach Berlin. Vermutlich erhofft sie sich dort bessere berufliche Chancen. Außer­dem will sie dem Gerede entkommen und Abstand gewinnen: Sie hat sich nämlich in den um Jahre jüngeren Schriftsteller und Privatgelehrten Matthieu Schwann verliebt. Eine demütigende Episode: Schwann nimmt nach kurzer Zeit eine Beziehung zu ihrer 19-jährigen Tochter Gertrude auf und polemisiert in einem Artikel Zur Frauenemanzipation gegen die seiner Ansicht nach abstoßende Triebhaftigkeit älterer emanzipierter Frauen: «...die Entwicklung all dieser Frauen steuert auf ein einziges Ziel los: den schranken- und folgenlosen geschlechtlichen Verkehr.»
Emilie reagiert mit der für sie typischen Selbstdisziplin. Sie veröffentlicht eine betont nüchtern gehaltene Entgegnung und unterstützt die beiden sogar finanziell, als ihre Tochter von Schwann ein Kind erwartet.
Beruflich beschäftigt sie sich in Berlin vor allem mit dem Thema «Frauenrecht». Im Auftrag des Reichstagsabgeordneten Freiherr von Stumm arbeitet sie an den Entwürfen zum BGB mit. Ihre eher gemäßigte Position wird innerhalb der deutschen Frauenbewegung immer heftiger kritisiert. Als sie 1896 ein «Rechtsbrevier für deutsche Ehefrauen» herausgibt, heißt es, das Buch wolle «beruhigen und abwiegeln» und die Bestimmungen des BGB «rosig malen». Auf dem Evangelischen Frauenkongress im Juni 1897 wird sie sogar als «entschiedene Gegnerin der Frauensache» beschimpft. Emilie hat kein Verständnis für die allzu radikalen, oft völlig unrealistischen Forderungen der Frauenrechtlerinnen: «Lieber nichts als nur etwas! lautet ihr Wahlspruch... Sie lächeln geringschätzig über die Fortschritte, welche das Gesetzbuch in Bezug auf die Stellung des weiblichen Geschlechts gebracht hat, sie ignorieren sie, weil sie darin nicht alles nach ihren Wünschen geordnet finden.»
Emilies eher realpolitische Einstellung ist für eine Juristin nicht verwunderlich. Erstaunlich allerdings, in wie hohem Maße gerade sie dem traditionellen Rollenbild verhaftet bleibt. Einerseits setzt sie sich dafür ein, dass Frauen in Zukunft eine ebenso gute Schulbildung bekommen wie Männer und ihnen jede Art von Beruf zugänglich gemacht wird: «Wir können und dürfen für die Zukunft nur noch eine Schranke der weiblichen Berufstätigkeit anerkennen, die des individuellen Nichtkönnens.»
Andererseits hat für sie die Mutterrolle unbedingte Priorität. Sie tadelt Frauen, die – Zitat – nur aus «Laune, Bequemlichkeit, Ehrsucht und dergleichen» nach der Eheschließung ihren Beruf fortsetzen. Es sind wohl ihre eigenen bitteren Erfahrungen, die sie so denken lassen. In ihrem Artikel Doppelberufe. Ein Selbstbekenntnis von Dr. jur. Emilie Kempin sagt sie: «Mit bitterem Weh denkt die berufstätige Frau an die Stunden zurück, in denen sie sich ihren Kindern entzogen, diese nicht mit der Wärme ihrer stets gegenwärtigen Liebe umgeben und sich um die reinste Freude eines Frauenlebens gebracht hat. Was verstehen denn davon alle die Kinderlosen und Unverheirateten, die in der Regel an der Spitze der Frauenbewegung stehen?»
Der Artikel erscheint, als sich Emilie bereits in der psychiatrischen Klinik Berlin-Lankwitz befindet. Nach einem Nervenzusammenbruch hat sie sich im September 1897 freiwillig einweisen lassen. Ihre Tochter Agnes notiert in ihren Erinnerungen: «Sie war müde, von jener Müdigkeit befallen, die einen um jeden Preis Ruhe suchen lässt.»
Viele Jahre harte Arbeit, der ständige Kampf um Anerkennung, die großen Geldsorgen – Emilie ist mit ihren Kräften am Ende. Die Diagnose der Ärzte lautet: Schizophrenie. Offensichtlich leidet sie mitunter tatsächlich an Wahnideen und Sinnestäuschungen. Anfang 1899 wird sie entmündigt und in eine Nervenheilanstalt nach Basel verlegt.
Emilie wünscht sich sehnlichst ihre Entlassung, immer wieder schreibt sie Anträge und Briefe, um freizukommen. So hoffnungslos ist ihre Lage, dass sie, die promovierte Juristin, sogar den Versuch unternimmt, sich als Dienstmädchen zu bewerben: «Was meine Befähigung für die nachgesuchte Stelle anbetrifft, so bitte ich Sie zu glauben, dass ich trotz meines Studiums die Künste und Fertigkeiten einer Hausfrau nicht verlernt habe. Meine selige Mutter hat uns darin für das ganze Leben lang tüchtig gemacht. Außerdem habe ich erst studiert, als ich schon in höheren Jahren gestanden und eigene Kinder, damals von 3–8 Jahren, ge­habt habe. ... Ich liebe alle Kinder und beschäftige mich gern mit ihnen und bin überhaupt zu jeder Arbeit, auch Geschirrwaschen und Reinemachen, gerne bereit. ... Meine Ansprüche sind von Hause und Natur aus sehr bescheiden, außerdem aber sehe ich meine mittel- und existenzlose Lage zu klar ein, als dass ich mich nicht allem willig und fröhlichen Herzens unterziehen würde. Ich bin mit einem Monatslohn von 10 Frs. zufrieden, halte aber eventuell auch daran nicht unter allen Umständen fest, wenn Ihre schutzbefohlene Familie vorziehen sollte, mich erst einen Monat auf Probe ohne Lohn zur Hülfe zu nehmen. Wenn Ihnen, wie ich vermute, meine Abstammung und Herkunft nicht unbekannt sind, ich bin die Tochter des Herrn alt Pfarrer Spyri, so bitte ich Sie höflich, mich der betreffenden Familie zu empfehlen.
Hochachtungsvoll ergebenst
Frau Dr. Emilie Kempin»

Emilie erhält keine Antwort auf ihren Brief, die Anstaltsleitung hat ihn nie abgeschickt. Im April des Jahres 1901 stirbt sie an Krebs. In den Büchern der Anstalt wird vermerkt: «12. April 1901 Exitus letalis. Bei der Sektion ergibt sich ein Gehirngewicht von 1 170 Gramm.»

Autorin: Irene Schuck
Redaktion: Rudolf Vogel
© Bayerischer Rundfunk 2002

Emilie Kempin
Zeittafel

1853 Emilie Kempin (geb. Spyri) wird am 18. März 1853 in Altstetten geboren, als drittes von acht Kindern von Maria Elise Spyri-Wild und Johann Ludwig Spyri, Pfarrer der reformierten Kirchgemeinde Altstetten.
1875 Am 22. Juni heiratet Emilie Spyri den Theologen Walter Kempin.
1876–1879 Emilie Kempin bringt drei Kinder zur Welt.
1885 Emilie Kempin besteht die Maturaprüfungen.
1887 Abschluss des Jura-Studiums an der Universität Zürich, am 16. Juli mit der Dissertation Die Haftung des Verkäufers einer Fremden Sache.
1888 Am 1. Mai bewirbt sich Emilie Kempin um eine Stelle als Privatdozentin für römisches Recht an der Universität Zürich. Das Gesuch wird abgelehnt. Sie wandert im August mit Mann und Kindern nach New York aus.
1889 Emilie Kempin gründet in New York die «Emilie Kempin Law School», eine private Rechtsschule für Frauen, die sie auch selber leitet. Zudem wirkt sie als Dozentin für Gerichtsmedizin am «New York Medical College & Hospital for Women» und amtet als Sekretärin der «New York Medico-Legal Society».
1890 Anstellung an der juristischen Fakultät der Universität der Stadt New York. Daneben unterrichtet Emilie Kempin an der «Women’s Law Class», einer der Universität räumlich angegliederten Privatschule.
1891 Im Frühjahr Rückkehr nach Zürich, wo Kempin ihre Habilitationsschrift fertigstellt und Ende Juni an der Universität Bern einreicht. Im Oktober bewirbt sie sich auch in Zürich ein zweites Mal um die Zulassung als Privatdozentin. An der Universität wird die grundsätzliche Frage der Frauenzulassung wieder diskutiert und beim Erziehungsrat schließlich die Ablehnung des Gesuches beantragt. Dieser jedoch erteilt Kempin am 15. Dezember die Venia Legendi für römisches, englisches und amerikanisches Recht. Ihr gleichzeitig erfolgtes Gesuch um die Zulassung als Anwältin wird vom Zürcher Kantonsrat abgewiesen.
1891/1892 Im Winter erteilt Emilie Kempin in Dresden Rechtsunterricht für Laien.
1892 Am 4. März hält Emilie Kempin ihre Antrittsvorlesung als Privatdozentin an der Universität Zürich. Künftig hält sie bis zum Sommersemester 1895 wöchentlich zwei bis vier Stunden Vorlesungen. Daneben führt sie ein schweizerisch-amerikanisches Rechtsbüro, in dem auch ihr Mann arbeitet. Im September eröffnet sie in ihrer Wohnung und Praxis eine «Rechtsschule für Laien» und erteilt Nicht­juristen zweimal wöchentlich Rechtsunterricht. Fünf Monate später muss sie den Unterricht wegen Raummangels einstellen. An Weihnachten 1892 erscheint die erste Nummer der von Emilie Kempin herausgegebenen Zeitschrift «Frauenrecht».
1893 Emilie Kempin gründet am 12. November in Zürich den «Frauenrechtsschutzverein».
1894 Veröffentlichung einer Schrift über die Rechtsstellung der Frau im künftigen Privatrecht der Schweiz. Kempin tritt als erste Frau dem «Schweizerischen Juristenverein» bei.
1895 Emilie Kempin unterrichtet Handels- und Wechselrecht an der Handelsklasse der Höheren Töchterschule. Sie lässt sich für ein Jahr beurlauben und geht nach Berlin, wo sie sich als Hörerin für Vorlesungen im Familienrecht an der Friedrich-Wilhelm-Universität einschreibt. Daneben arbeitet sie als Übersetzerin am Amtsgericht und publiziert zahlreiche Artikel und eine selbstständige Schrift zur Rechtsstellung der Frau in den Entwürfen zum Bürgerlichen Gesetzbuch.
1896 Kempin doziert an der Humboldt-Akademie Privatrecht und Deutsches Fami­lienrecht. Sie lässt sich definitiv in Berlin nieder.
1897 Bis März setzt Kempin ihre Vorlesungen über Deutsches Familienrecht fort. Mitte September wird sie in die Berliner Heil- und Pflegeanstalt «Berolinum» wegen Geisteskrankheit eingewiesen.
1899 Am 12. März Verlegung nach Basel in die «Irrenanstalt Friedmatt».
1901 Emilie Kempin stirbt am 12. April 1901 in Basel. Sie hatte die Anstalt seit ihrer Einlieferung nie mehr verlassen.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.br-online.de