Das liest man in Deutschland
Positionslichter setzen
In seinen gesammelten Essays, Reden und Skizzen aus 13 Jahren erweist sich Ingo Schulze als so genauer wie kritischer Beobachter unserer Gegenwart.
1995 erschien Ingo Schulzes Debütband, 33 Augenblicke des Glücks, vor einem knappen Jahr sein bisher letzter Roman, Adam und Evelyn. Dazwischen liegen unter anderem jene beiden Texte, die immer aufgerufen werden, wenn man den 1962 in Dresden Geborenen in die erste Reihe jener deutschen Gegenwartsautoren rückt, die sich um die sogenannte «Wendeliteratur» verdient gemacht haben: Simple Storys (1998) und Neue Leben (2005). Ersterer entführt den Leser im den Short-Story-Schreibern Ernest Hemingway und Raymond Carver abgelauschten Ton in die Altenburger Provinz der 1990er Jahre. Mit Letzterem, einem mehr als 700 Seiten starken Briefroman, beendet Schulze mehr das Bemühen um den ultimativen Wenderoman, wie es Autoren in Ost und West seit Grass und Brussig zehn Jahre lang umgetrieben hatte, als dass er die Thematik fortschreibt. Und richtig: Der nächste Höhepunkt in der gesamtdeutschen Literatur, Uwe Tellkamps aufsehenerregendes Romanprojekt Der Turm (2008), beschäftigte sich schon nicht mehr mit den Transformationsprozessen des Jahrzehnts nach 1989/90, sondern kam als historisierender Rückblick auf die DDR-Gesellschaft der 1980er Jahre daher.
Fast in der gesamten bisherigen Zeit seines schriftstellerischen Wirkens – von einer breiteren Öffentlichkeit wohl erst seit den Simplen Storys bewusst wahrgenommen – begleiteten kleinere Arbeiten, «Essays, Reden, Skizzen», wie der jetzt erschienene Sammelband jene Texte kategorisiert, Schulzes Hauptwerk. Sie als Gelegenheitsarbeiten zu bezeichnen, wäre sicher nicht falsch, zumal die entsprechenden Gelegenheiten aus vielen Untertiteln der insgesamt 27 Einzelbeiträge einfach zu erschließen sind. Da gibt es Dankesreden und Laudationes, Vor- und Nachworte, Nachrufe und Vorlesungstexte. Andererseits: Wenn man das «Gesamtpaket» jener mehr als dreihundert Seiten füllenden Arbeiten nun zum ersten Mal geschlossen vor sich liegen hat, wird auch ziemlich schnell klar, dass man weder den denkerischen Anstrengungen – vom reinen Lesepensum, wie es sich etwa hinter zwölf Seiten Redetext zu Alfred Döblin verbirgt, ganz zu schweigen – noch der kritischen Zeitgenossenschaft Ingo Schulzes wirklich gerecht wird, wenn man sie dem Hauptwerk per definitionem unterordnet. Freuen wir uns also lieber darüber, dass bis dato weit Verstreutes hier zum ersten Mal zwischen zwei Buchdeckeln für alle Leser zugänglich ist und nehmen wir es an als wichtige Informationen zu Person, Werdegang, Poetik und öffentlichem Engagement eines Mannes, ohne die seine schriftstellerische Entwicklung nur unvollkommen zu verstehen ist.
Die Binnengliederung des Bandes Was wollen wir? ordnet die 27 Beiträge drei thematischen Bereichen zu. In der ersten Abteilung finden sich biografische und poetologische Texte, kulminierend in Schulzes Leipziger Poetikvorlesung vom Herbst 2007, Tausend Geschichten sind nicht genug, in der er Schritt für Schritt über seinen zurückliegenden Weg zum Schriftsteller Auskunft gibt. Zweifellos ein Schlüsseltext zum Verständnis eines Werks, dessen Credo sich ganz einfach anhört: «Ich will etwas über einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit sagen.» Allein das Wie ist natürlich entscheidend – und hier bekennt sich der Autor von Beginn an zu unterschiedlichen Stillagen und Einflüssen, vertraut ganz auf die «Resonanz zwischen Idee und Sprache», wie er sie in Alfred Döblins gigantischem Œuvre beispielhaft vorgebildet findet.
Der zweite Teil des Buches ist all jenen unterschiedlichen Quellen gewidmet, aus denen Schulze die Kraft für das eigene Werk gezogen hat. Hier finden sich Anmerkungen zu Anton Tschechow, ohne dessen Einfluss und die Einflüsse anderer Großer der russischen Literatur an der Schwelle zum 20. Jahrhundert die 33 Augenblicke wohl anders ausgesehen hätten, wenn sie denn überhaupt entstanden wären. Hier würdigt Schulze das Werk des heute ganz zu Unrecht fast in Vergessenheit geratenen Daniil Charms (1905–1942), in dem Sprache in der (stalinistischen) Diktatur als etwas Deindividualisiertes wahrgenommen wird, ein Umgang mit dem Arbeitsmaterial des Schriftstellers, der auch noch die ersten Romane, Erzählungen und Theaterstücke von Wladimir Sorokin am Ende des 20. Jahrhunderts kennzeichnen sollte. Auch Carvers wird gedacht und dessen Kunst, Komik und Tragik immer gleichzeitig anwesend sein zu lassen. Und es gibt einen wunderbaren Beitrag anlässlich der Verleihung des Brandenburgischen Literaturpreises an Wolfgang Hilbig (1941–2007) ein paar Wochen vor dessen Tod am 2. Juni 2007, einen Text, aus dem man seitenweise zitieren möchte, weil er es nicht nur grandios imaginiert, sondern sich tatsächlich in ein inneres Zwiegespräch mit jenem Dichter begibt, der eine kleine thüringische Stadt, Meuselwitz, keine zwanzig Kilometer von Altenburg entfernt, wo Ingo Schulze die Wende erlebte, «zur griechischen Provinz erhoben» hat.
Was wollen wir? endet mit jüngeren Arbeiten. Evident wird in ihnen vor allem der über die Zeit gewachsene Wille Ingo Schulzes, sich einzumischen in die brennenden Fragen unserer Gegenwart, nicht beiseitezustehen, sondern Zeitgenossenschaft als etwas Tätiges, Aktives, Mitgestaltung Erforderndes wie Ermöglichendes zu begreifen, die Chance seiner wachsenden Popularität als Autor zu nutzen, um auch in Dingen des öffentlichen Lebens deutlich erkennbare «Positionslichter» zu setzen. In diesen Texten wird sich noch einmal die Zeit genommen, der friedlichen Revolution von 1989/90 zu gedenken und daran zu erinnern, dass es den Demonstranten der ersten Stunde nicht allein um die D-Mark und «blühende Landschaften» auf Kosten einer zigtausende Arbeitsplätze raubenden Deindustrialisierung zu tun war: «Es ging nicht nur um den Westen, es ging um die Welt.» Und jener Prozess, der in den nun zwei Jahrzehnte zurückliegenden Tagen so unerwartet wie Glück versprechend ins Rollen kam, ist für Schulze auch längst noch nicht an seinem Endpunkt angekommen. Denn: «Mein Problem war und ist nicht das Verschwinden des Ostens, sondern das Verschwinden des Westens, eines Westens mit menschlichem Antlitz.»
In diesem Sinne ist es fast symptomatisch, wenn der Autor anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Thüringer Literaturpreis 2007 – die damalige Weimarer Rede unter dem Titel Was wollen wir? hat dem vorliegenden Sammelband zu seinem Titel verholfen – die Aufmerksamkeit darauf lenkt, dass der Rückzug des Staates aus vielen seiner traditionellen Verantwortungen eine Situation befördert, die mehr Freiheit, aber auch weniger Gerechtigkeit mit sich bringt: «Die Gewinne werden privatisiert, die Verluste sozialisiert.» Wenn das Land Thüringen einen Preis vergibt, so Schulze im Saal des Schlosses Belvedere am 4. November 2007, dann spricht es für eine Refeudalisierung des Literaturbetriebs, wenn nicht der Staat, sondern der Energiekonzern E.ON Thüringen die Preissumme aufbringt und den Preisträger damit zum «Werbefaktor» macht, was er durchaus nicht sein will. Der kleine Sturm, der danach durch die Gazetten ging und in einer teils tumultuösen Podiumsveranstaltung in Weimar gipfelte, bewies, dass der Schriftsteller mit seiner bewusst provokanten Wortmeldung voll ins Schwarze getroffen hatte.
Nicht alle Beiträge des Bandes Was wollen wir? kennzeichnet diese die Dinge auf den Punkt bringende, Diskussionen auslösende und – wenn alles in die vorgedachte Richtung läuft – auch Positionen verändernde Wirkung. Viele der versammelten Texte sind stiller, vorsichtiger, nähern sich ihrem Gegenstand tastender an. Aber eine Qualität – außer der vorzüglichen Lesbarkeit, die nicht verschwiegen sei – besitzen sie alle: In enger Verwobenheit mit dem poetischen Werk Ingo Schulzes zeigen sie, dass engagierte Schriftsteller unserer Zeit auch weiterhin versuchen sollten, Einfluss auf die Welt jenseits ihrer Buchseiten zu nehmen.
Von Dietmar Jacobsen
Ingo Schulze: Was wollen wir? Essays. Berlin: Berlin Verlag, 2009.
Der Text ist entnommen aus:
http://www.literaturkritik.de