Sonderthema
Robert Walsers Werke
Kurzinhalt
Geschwister Tanner (1907)
Geschwister Tanner ist Robert Walsers erste Romanveröffentlichung und zugleich sein heiterstes Werk. Hauptfigur ist der moderne Taugenichts Simon Tanner, der unbeschwert seines Weges zieht. Hier und da nimmt er eine Arbeit an, die er ebenso bald wieder aufgibt, um seine Jugendjahre nicht mit mühseligem Broterwerb zu vergeuden. Mit großer Freude lässt er sich auf jede Plauderei ein und sieht sich von seinen täglichen Erlebnissen zu allerausführlichsten Grübeleien veranlasst – die allerdings niemals zur Folge haben, dass er seinen unbedarften Lebensstil ändert. Geschwister Tanner ist ein Entwicklungsroman ohne Entwicklung: Wie im Genre üblich, wird ausführlich davon erzählt, wie der Held seine Erfahrungen macht und bewältigt, trotzdem ist er am Ende des Buchs aber noch immer derselbe Simon wie zu Beginn. Er ist mittellos, er weiß nicht, was die Zukunft ihm bringen wird; aber er lässt sich davon nicht unterkriegen und bleibt bis zum Schluss unangepasst und eigenwillig. Sämtliche Ansprüche, die von Freunden, Familienmitgliedern oder seinen zahlreichen Vorgesetzten an ihn gerichtet werden, scheinen nicht wirklich bis zu ihm durchzudringen. Simon Tanner ist zwar ein klassischer Taugenichts, aber er ist auch ein Rebell, dem die Verlockungen der Gesellschaft nichts anhaben können.
Auffällig ist, wie oft die Romanfigur Simon Tanner auf der Suche nach einer neuen Wohnung ist. Als die Vermieterin Klara Agappaia ihm ihre vornehmen Zimmer zeigt, kann er sein Glück kaum fassen: Ein armer Schlucker wie er wird fortan ein Leben in derart herrschaftlichen Räumen führen! Später, bei einem Besuch auf dem Land, malt er sich aus, wie es wohl wäre, dort zu leben und von jedem auf der Straße gegrüßt zu werden. Jeder im Dorf würde ihn kennen und lieben! Deutlich wird, dass für Simon jede Bleibe auch mit dem Versuch eines neuen Selbstentwurfs verbunden ist. Die Figur ist den Roman hindurch auf der Suche nach der eigenen Identität. Warum diese Suche unvollendet bleibt und Simon keine abgeschlossene, erwachsene Persönlichkeit entwickelt, lässt sich wiederum im Anschluss an einen Wohnortwechsel ablesen. Als der Winter kommt, mietet er sich in einem kleinen Zimmer ein und gibt sich sehnsüchtig seinen Kindheitserinnerungen hin, die er sogar auf kleinen Papierstreifen festzuhalten beginnt. Er denkt daran, dass er nie krank war und seine Geschwister Hedwig und Klaus beneidete, die mit Fieber stets wohlig verhätschelt wurden. Er denkt an seine guten Leistungen in der Schule und wie schön es war, sich vor den Eltern zu beweisen. Simon will nicht erwachsen werden; er ist auf der Suche nach der Geborgenheit seiner von den Eltern und Geschwistern behüteten Kindheit.
Die Geschwister begleiten Simon dann auch auf seinem seltsam orientierungslosen Weg durchs Leben. Viel Zeit verbringt er mit seinem Bruder Kasper, dem Maler, mit dem er zeitweise sogar zusammenwohnt. Von seiner Schwester Hedwig lässt er sich eine Weile aushalten; mit seinem strengen Bruder Klaus gibt es deswegen Streit. Robert Walser hat sich im Nachhinein zu seinem Roman geäußert und bedauert, ihn so distanzlos dem Leben seiner eigenen Geschwister nachempfunden zu haben. Tatsächlich standen wohl nicht nur seine sieben Geschwister Pate für die Figuren im Roman, sondern auch Walser selbst lässt sich erahnen: in der Hauptfigur und ihrer unbedarften Hartnäckigkeit, mit der sie jeder Chance auf Anerkennung und gesellschaftlichen Aufstieg erfolgreich aus dem Weg geht.
Der Gehülfe (1908)
Deutlicher noch als in den anderen beiden Romanen Walsers lassen sich in Der Gehülfe die autobiografischen Spuren des Autors nachvollziehen. Walser selbst hat vom Juli 1903 bis zum Jahresanfang 1904 als Buchhändler und Sekretär für den Maschinentechniker Dubler in Wädenswil am Zürichsee gearbeitet. Ähnlich wie der 24-jährige Joseph Marti im Roman hat Walser den Ruin seines Chefs beobachten können, bei dem es sich, dem Ingenieur Tobler im Buch entsprechend, wohl um einen prahlerischen, aber erfolglosen Erfinder gehandelt hat.
Mit der Einführung des kaufmännischen Gehilfen als Romanhauptfigur – zudem noch mit dem Verweis auf dessen vorherige Arbeitslosigkeit und der Beschreibung seines wenig heldenhaften Arbeitsalltags – entwirft Robert Walser ein vollkommen neues literarisches Genre: den Angestelltenroman. Von seinen Zeitgenossen hat Walser damit vor allem Franz Kafka beeinflusst, der in seinen Romanen ebenfalls das Arbeitsleben der niederen Angestellten beschreibt und, wie Walser, zu Beginn des 20. Jahrhunderts damit zunächst auf wenig Interesse bei seinen Lesern stößt.
Wiederentdeckt werden Robert Walser und sein Gehülfe dann in den 60er und 70er Jahren, als sich moderne Autoren vermehrt mit den Folgen des Spätkapitalismus und demzufolge auch mit dem Schicksal der arbeitenden Bevölkerung beschäftigen.
Walsers Hauptfigur Joseph Marti zeichnet sich vor allem durch ihre große Sprunghaftigkeit aus. Kaum je findet der Gehilfe ein konstantes Verhältnis zu seiner eigenen Person, geschweige denn zu seiner Umwelt im Haus des Erfinders Tobler. Macht Joseph sich in einem Moment noch schwere Selbstvorwürfe, weil er das strauchelnde Unternehmen Toblers beim besten Willen nicht zu retten weiß, steht er dem Niedergang im nächsten Augenblick mit geradezu atemberaubender Gleichgültigkeit gegenüber. Joseph schwankt ständig zwischen Auflehnung und Unterwürfigkeit, zwischen guten Vorsätzen und faktischer Untätigkeit. Er nimmt sich vor, ein gutes Wort für Silvi, die von allen Haushaltsmitgliedern stets misshandelte Tochter Toblers einzulegen. Seinen Bemühungen fehlt es jedoch wieder einmal an Hartnäckigkeit: Joseph kann den Erfinder so wenig zu einem freundlichen Umgang mit der eigenen Tochter bewegen, wie er selbst den zunehmenden Wutanfällen Toblers etwas entgegenzusetzen hat.
Je weiter sich Tobler dem Ruin nähert, desto deutlicher wird aus dem kaufmännischen Angestellten des Hauses ein schnöder Diener, der sich um die Privatangelegenheiten der Familie kümmern muss und dafür bestenfalls noch ein Taschengeld erhält. Auch wenn Joseph sich die Erfindungen Toblers lange Zeit noch schönzureden versucht, weiß er insgeheim längst, dass es sich bei den Ideen seines Chefs um ausgemachten Humbug handelt und der wirtschaftliche Niedergang nicht aufzuhalten ist. Die Reklame-Uhr ist nicht wirklich eine Neuheit, der Krankenfahrstuhl ist unbequem und zu klein. Das Ende des Romans ist typisch für Walser: Joseph verlässt das Tobler’sche Anwesen und wendet sich einer berufslosen und ungewissen Zukunft zu.
Was Joseph trotz allem so lange im Haus des Erfinders hält, ist seine Sehnsucht nach bürgerlicher Sicherheit. Seine Schüchternheit und die damit einhergehende berufliche Erfolglosigkeit, zudem wohl auch seine soziale Herkunft, haben ihn bisher von einem Wohlstand ausgeschlossen, wie er ihn im Hause Tobler jetzt allzu sehr genießt. Joseph freut sich über die verschwenderischen Mahlzeiten der Familie, selbst die Zigarrenstumpen seines Chefs raucht er noch mit Stolz und Genuss. Hierin liegt vielleicht die Tragik des Gehülfen: Joseph sehnt sich nach dem Schutz des bürgerlichen Wohlstands – und muss doch dessen Untergang mit ansehen.
Jakob von Gunten (1909)
Es gibt unzählige Versuche, Robert Walsers höchst eigenwilligen und letztlich wohl eigenständigen Roman einem literarischen Genre zuzuordnen. Martin Walser etwa bezeichnete Jakob von Gunten als den «Entwicklungsroman einer verhinderten Entwicklung» und als einen «Erziehungsroman». Oftmals wird der Text auch seiner Form entsprechend als «Tagebuchroman ohne Daten» eingestuft, dann wieder ist von einem «Institutionen-Roman» die Rede. Denkt man an den Inhalt des Buchs, lässt sich Jakob von Gunten vor allem als negativer Bildungsroman begreifen. Jakob wird im ersten Kapitel im Institut Benjamenta aufgenommen und, wie sich im Folgenden herausstellt, dort der letzte Schüler überhaupt sein. Im Laufe des Romans wohnt er dem Niedergang der Knabenschule bei; die strengen Institutsregeln werden zunehmend lascher, die Autorität der Lehrer wird so weit aufgeweicht, dass Jakob am Ende gar Hand in Hand mit dem Institutsvorsteher ins Leben hinauszieht. Gelernt hat er auf dieser Schule, so wie er es im ersten Satz des Romans angekündigt hatte, «sehr wenig». Das am Institut vermittelte Wissen war belanglos, die Lehrer lagen meist «totähnlich» schlafend herum. Im Gegensatz zum herkömmlichen Bildungsroman, der die Entwicklung des Helden zum klugen und zivilisierten Menschen zum Thema hat, sind in Walsers Roman also von Beginn an die Vorzeichen umgekehrt.
Durch und durch widersprüchlich ist die Hauptfigur der Geschichte. Schon bei der Namensgebung hat Robert Walser seinen seltsamen Schüler als wandelndes Paradoxon angelegt: Er ist ein «von Gunten», was zunächst auf eine Abstammung aus gutem Hause schließen lässt. Im Laufe des Romans entpuppt sich Jakob jedoch als vollkommen mittellos, womit der Name sich umgekehrt auch als spielerischer Verweis auf eine eher unspektakuläre Herkunft anbietet: Jakob von ganz unten.
Jakob ist einerseits verwöhnt und legt eine geradezu adlige Blasiertheit an den Tag. Auf keinen Fall will er mit den anderen Zöglingen gemeinsam im engen Schlafsaal untergebracht werden; er besteht auf sein eigenes Zimmer und macht eine derart jämmerliche Szene, dass ihm die Bitte vom Fräulein Benjamenta schließlich gewährt wird. Er beschwert sich beim Institutsvorsteher Herrn Benjamenta über den fehlenden Unterrichtsinhalt und kündigt wütend an, das Institut verlassen zu wollen, da ein solcher «Ort der Finsternis und Umnebelung» seinem guten Elternhaus nicht angemessen sei. Gleichzeitig hat Jakob sich jedoch die Bescheidenheit selbst zum obersten Lebensziel gesetzt. Er will sich unbedingt zum Diener ausbilden lassen und in diesem Beruf seine Unterwürfigkeit trainieren; er hat sich vorgenommen, «eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben» zu sein; und Reichtum, selbst wenn er ihn einmal erlangen würde, sollte ihm nichts bedeuten. Er stellt sich vor, dass er weiterhin zu Fuß gehen würde, «ganz wie gewöhnlich, in der unbewusst-geheimen Absicht, es mich nicht so sehr merken zu lassen, wie fürstlich reich ich wäre».
Derart widersprüchlich, dass sich letztlich ein Handlungsbogen des Romans aus der entstehenden Spannung entwickelt, ist Jakobs Verhältnis zu Herrn Benjamenta. Zunächst wirkt der Institutsvorsteher riesenhaft, unerreichbar und mürrisch. Als Jakob eine Quittung für das von ihm gezahlte Schulgeld verlangt, weist ihn Herr Benjamenta lediglich autoritär zurück: «Schlingel wie du erhalten keine Quittung.» In die Privaträume Benjamentas, die «inneren Gemächer», wird Jakob schon gar nicht vorgelassen. Von Herrn Benjamenta einmal ausdrücklich dazu aufgefordert, seine Meinung über das Institut zu äußern, hält Jakob sich zurück, weil jede Kritik an der Knabenschule gegen die Hauptregel der unbedingten Unterwürfigkeit verstoßen würde. Letztendlich ist Jakob aber doch aufmüpfiger, selbstständiger und wohl auch ein wenig anspruchsvoller als die anderen Schüler und gewinnt genau mit dieser Besonderheit das Herz des Vorstehers. Benjamenta gibt seine Zuneigung offen zu, und als Jakob die Vertrautheit erwidert, ist die Annäherung vollzogen und der Roman endet mit dem gemeinsamen Auszug der beiden in die Welt außerhalb des Instituts.
Eine Möglichkeit zur Deutung von Jakobs eigentümlichen Widersprüchlichkeiten bieten die regelmäßigen Träume der Figur. Von den sechs Träumen des Textes treten allein vier die Regeln der Knabenschule mit Füßen. In einem Traum möchte Jakob reich sein, im nächsten ein schlechter Mensch, dann wäre er gern mächtig, und schließlich will er ein fester, undurchdringlicher Soldat unter Napoleon sein. Jakob rebelliert unbewusst gegen die Wirklichkeit der Schule, in der er zu lebenslanger Armut und Unterwürfigkeit ausgebildet werden soll. Tagsüber gesteht Jakob sich diesen unterschwelligen Wunsch jedoch nicht ein, denn es gibt Regeln im Institut, denen er sich wohl oder übel anpassen muss. Und um das tun zu können, muss er wiederum seine inneren Bedürfnisse ausblenden. Jakob erliegt den gesellschaftlichen Zwängen der Schule und wird darüber zu einem widersprüchlichen Menschen.
Dementsprechend kann der Roman unter gesellschaftskritischen Aspekten gelesen werden und die Knabenschule als Spiegel einer sozialen Wirklichkeit, wie sie Robert Walser empfunden hat. Wie die Schüler im Institut Benjamenta sieht auch der Autor und mit ihm ein nicht unerheblicher Teil der Gesellschaft sich vermutlich der Gewissheit ausgeliefert, ein Leben lang in untergeordneter sozialer Stellung ausharren und arbeiten zu müssen. Das soziale Gefüge in Walsers Knabenschule ist in zwei Klassen zerteilt und ähnelt den Verhältnissen in den Fabriken und Behörden des wilhelminischen Deutschland: Während die adlige und reiche Oberschicht sich den Freuden des Lebens hingibt und weiterhin Geld verdient, fügt sich die Unterschicht folgsam in ihre Untertanenrolle. Jakobs Schulkameraden sind als typisierte Figuren der sozialen Unterschicht angelegt, die niemals in die Oberschicht überwechseln werden: der dümmliche Dorfjunge Hans, der übereifrige Kraus. Besonders perfide ist allerdings, dass in Walsers Welt der Mensch durch die ihm aufgezwungene Unterwürfigkeit wie Jakob zu einem widersprüchlichen Charakter wird.
Der Text ist entnommen aus:
http://www.xlibris.de/Autoren/Walser/Werke/Der%20Geh%C3%BClfe
http://www.xlibris.de/Autoren/Walser/Werke/Geschwister%20Tanner
http://www.xlibris.de/Autoren/Walser/Werke/Jakob%20von%20Gunten