Sonderthema
Robert Walser
Der Mensch
Der Mensch ist ein feinfühliges Wesen. Er hat nur zwei Beine, aber ein Herz, worin sich ein Heer von Gedanken und Empfindugen wohlgefällt. Man könnte den Menschen mit einem wohlangelegten Lustgarten vergleichen, wenn unser Lehrer dergleichen Anspielungen erlaubte. Der Mensch dichtet zuweilen und in diesem höchsten edelsten Zustand nennt man ihn einen Dichter. Wenn wir alle wären, wie wir sein sollten, nämlich wie es Gott uns gebietet zu sein, so wären wir unendlich glücklich. Leider geben wir uns mit unnützen Leidenschaften ab, die nur zu bald unser Wohlbefinden untergraben und unserm Glück ein Ende machen. Der Mensch soll in allen Dingen über seinem Kollegen, dem Tier, stehen. Aber sogar ein dummer Schüler kann täglich Menschen beobachten, die sich benehmen, als wenn sie unvernünftige Tiere wären. Die Trunksucht ist eine bildhässliche Sache: warum ergibt sich der Mensch ihr? Offenbar weil er bisweilen die Notdurft verspürt, seinen Verstand in den Träumen zu ertränken, die in jeder Art Alkohol schwimmen. Solche Feigheit ziemt einem so unvollkommenen Ding, wie der Mensch ist. Wir sind in allem unvollkommen. Unsere Unvollkommenheit erstreckt sich auf alle Unternehmungen, die wir betreiben, und die so herrlich wären, wenn sie nicht von der bloßen Habgier ausgingen. Warum müssen wir so sein? Ich habe einmal ein Glas Bier getrunken, aber ich werde nie mehr wieder eins trinken. Wozu führt das? Zu edlen Bestrebungen gewiss nicht. Hier verspreche ich es laut: Ich will ein braver, zuverlässiger Mensch werden. An mir soll alles Große und Schöne einen ebenso warmen Nachahmer wie Beschützer finden. Ich schwärme heimlich für die Kunst. Aber seit eben diesem Augenblick schon nicht mehr heimlich, denn jetzt hat es meine Unbefangenheit ausgeplaudert. Mag ich dafür exemplarisch bestraft werden. Was hindert eine edle Denkungsart am freien Bekennen? Nichts jedenfalls weniger als in Aussicht gestellte Prügel. Was sind Prügel? Vogelscheuchen, die Sklaven und Hunde schrecken. Mich schreckt nur ein Gespenst: die Niedrigkeit. Ach, ich will so hoch steigen, als es einem Menschen vergönnt ist. Ich will berühmt werden. Ich will schöne Frauen kennenlernen und sie lieben und von ihnen geliebt und gehätschelt sein. Nichtsdestoweniger werde ich nichts von elementarer Kraft (Schöpfungskraft) einbüßen, vielmehr werde und will ich von Tag zu Tag stärker werden, freier, edler, reicher, berühmter, kühner und tollkühner. Für diesen Stil habe ich eine Fünf verdient. Aber ich erkläre: Dies ist dennoch mein bester Aufsatz, den ich jemals geschrieben habe. Alle seine Worte kommen aus dem Herzen. Wie schön ist es doch, ein zitterndes, empfindliches wählerisches Herz zu haben. Das ist das Schönste am Menschen. Ein Mensch, der sein Herz nicht zu bewahren weiß, ist unklug, denn es beraubt sich einer unendlichen Quelle süßer, unversiegender Macht, eines Reichtums, den er vor allen Geschöpfen der Erde voraus hat, einer Fülle, einer Wärme, die er, wenn er Mensch bleiben will, nie wird entbehren können. Ein herzlicher Mensch ist nicht nur der beste, sondern auch der klügste Mensch. Denn er hat etwas, was ihm keine noch so geschäftige Klugheit geben kann. Ich wiederhole noch einmal, ich will mich nie betrinken; will mich nicht auf das Essen freuen, denn das ist garstig; will beten und noch mehr arbeiten, denn mir scheint, das Arbeiten ist schon ein Beten; will fleißig sein und denen gehorchen, die es verdienen, dass man ihnen gehorcht. Eltern und Lehrer verdienen es ohne Frage. Dies ist mein Aufsatz.
Aus: Robert Walser: Fritz Kochers Aufsätze.
Der Text ist entnommen aus:
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