Das liest man in Deutschland
Der Dichter und sein Doppelgänger
War William Shakespeare nur der Strohmann eines aristokratischen Poeten, der anonym bleiben wollte? Ein deutscher Autor tritt mit einer aufregenden neuen Biografie für den «anderen Shakespeare» ein – und beflügelt einen alten Verdacht.
Als William Shakespeare 1616 in dem Städtchen Stratford-upon-Avon stirbt, wo er 1564 geboren wurde, ist er ein reicher Mann. Er hat gut zwanzig Jahre lang in London – zwei Tagesreisen entfernt – bescheiden gewohnt und all das schöne Geld, das er am Theater verdiente, zu Hause in Stratford, wo seine Frau mit den Kindern lebt, in Immobilien investiert. Er stirbt mit 52 Jahren, kein schlechtes Alter zu jener Zeit. Vier seiner fünf jüngeren Geschwister, von denen keines durch besondere Talente auffiel, hat er überlebt.
Das herrschaftliche Haus samt «Scheunen, Ställen, Obstgärten, Ländereien, Wohnhäusern» sowie einträgliches Pachtland – all das ist in Shakespeares Testament von 1616 akkurat aufgeführt. Seine Verfügungen sind darauf angelegt, diesen Reichtum im Großen und Ganzen (aber auch «Tafelgeschirr und Haushaltsgegenstände») der älteren Tochter Susanna und deren Erben zukommen zu lassen.
Die jüngere Tochter Judith, die mit einem Taugenichts verheiratet war, wird nur knapp bedacht. Der einzige Sohn Hamnet ist früh gestorben. Drei alten Freunden in London spricht das Testament Geld zum Kauf von Erinnerungsringen zu. Von Büchern, Manuskripten oder Kunstwerken ist keine Rede. Seiner Ehefrau vermacht Shakespeare das «zweitbeste Bett» im Haus.
Wer sich von einem der größten Dichter der Menschheit ein Bild zu machen versucht, betrachtet das Lebensfazit in diesem Testament einer Krämerseele mit Fassungslosigkeit. Nichts außerhalb des wahrhaft überwältigenden Werks bringt einem die Person Shakespeare menschlich näher. Man muss sich damit abfinden, dass zwar die Londoner Aktivitäten des Theaterunternehmers Shakespeare aktenkundig sind, dass aber nach strengen Kriterien kein Zeugnis, keine Handschrift eindeutig seine Urheberschaft an den Werken beweist, die unter seinem Namen in jedem Lexikon stehen. Es scheint fast, als hätte der Dichter Shakespeare als Mensch gar nicht existiert.
Oder war der Dichter ein anderer?
Der vernünftigste Grund, an das einzigartige Genie des Mannes aus Stratford zu glauben, ist die Tatsache, dass ein paar hundert Jahre lang kein Mensch daran gezweifelt hat. Aber spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts ließen die Bemühungen, seine Biografie zu erforschen, eine gewisse Ratlosigkeit aufkommen.
So gut wie sicher durfte gelten, dass der als Sohn eines eher glücklosen Aufsteigers aus bäuerlichen Verhältnissen geborene William wie jeder Bürgerjunge im damaligen Stratford die kostenlose Lateinschule besuchte, in der vermutlich außer Latein wenig höhere Bildung vermittelt wurde. Für ein Studium war kein Geld da, von einer Berufslehre ist nichts bekannt. Fest steht, dass er Ende 1582, noch minderjährig, im Eilverfahren eine acht Jahre ältere Frau heiratete, die sechs Monate später die Tochter Susanna gebar. Nach zwei Jahren folgten die Zwillinge Judith und Hamnet. Und was dann?
Welches Mirakel hat im Lauf von ein paar Jahren, über die man nichts weiß, den Autodidakten aus der Provinz nicht nur in einen äußerst umtriebigen Londoner Theatergeschäftsmann verwandelt, sondern auch in einen Dramatiker von unvergleichlicher Sprachmacht, Fantasiefülle und höchstem Kunstverstand, von abgründiger Menschenkenntnis und weitgespannter Bildung in klassischer Literatur, Juristerei, in Naturwissenschaften und höfischen Manieren?
Die Antwort kann nur heißen: Das Genie ist inkommensurabel, das Genie ist eine Singularität.
Wer daran nicht glauben mag, muss andere Erklärungen suchen. So haben sich Spekulationen darüber, dass der Theaterunternehmer womöglich nur als Strohmann eines anonymen Dichters fungiert habe, zu einer Spezialsparte der Shakespeare-Forschung entwickelt: Aus vergilbten Papieren tauchte die Vorstellung erregender Kulissenverschwörungen auf, und sie fasziniert immer noch.
Nun können sich auch deutsche Leser ein fundiertes und farbiges Bild machen: Auf fast 600 Seiten erzählt eine Biografie, für die das Verlagshaus Suhrkamp/Insel sein Prestige einsetzt, die Geschichte des Mannes, der einem Kreis von Wissenschaftlern als Favorit für die Rolle des wahren Autors gilt, und breitet die bekannten sowie überraschend neue Argumente für dessen literarisches Doppelleben als «William Shakespeare» aus: Edward de Vere, Earl of Oxford (1550 bis 1604).
Der Verfasser Kurt Kreiler, 59, promovierter Germanist, ist kein querköpfiger Privatgelehrter, sondern ein beschlagener und temperamentvoller Forscher. Der kontroversen Shakespeare-These habe er sich, so sagt er, anfangs mit großer Skepsis genähert: «Wenn ich auf einen einzigen unwiderlegbaren Beweis gegen de Veres Autorschaft gestoßen wäre, hätte ich kapituliert.» Doch mit einem Nietzsche-Zitat machte er sich Mut: «Die Unvernunft einer Sache ist kein Grund gegen ihr Dasein, vielmehr eine Bedingung desselben.» So heißt Kreilers Buch nun entschlossen: Der Mann, der Shakespeare erfand.
Edward de Vere als der wahre Autor?
Es lag nahe, nach einem Höfling mit literarischen Interessen Ausschau zu halten, der all die Bildungsvoraussetzungen mitbrachte, die dem Mann aus Stratford abgehen mussten. Denn ein Aristokrat hätte gute Gründe gehabt, seine Theaterleidenschaft zu verheimlichen: Das Drechseln eleganter Sonette galt damals zwar als standesgemäße Freizeitbeschäftigung eines Edelmanns, aber als Stückeschreiber für das ordinäre Volkstheater hätte er sich unverzeihlich kompromittiert. Die Hofbühne hatte ihre eigenen Spielregeln.
Als Erster plädierte der Shakespeare-Forscher J. Thomas Looney 1920 für Edward de Vere als den wahren Autor, und die Diskussion seiner These entwickelte sich zu einem spezifisch britischen Gedankenspiel: In rivalisierenden Zirkeln verteidigen die «Stratfordianer» ihren Shakespeare, und die «Oxfordianer» breiten ihre kunstvollen Argumente gegen sie aus.
Zu den Vorzügen des Grafen von Oxford, der am Hof der Königin Elizabeth I. zu den brillantesten Schöngeistern zählte, gehört eine Kollektion eigener Gedichte, deren besten man gern shakespearesche Qualität zugesteht, dazu sein Enthusiasmus fürs Theater, seine Förderung junger Autoren sowie die Wertschätzung zeitgenössischer Kritiker, die ihn als den besten Komödienschreiber ihrer Tage bezeichnen – wobei wohl vom Hoftheater die Rede ist, nicht von den Schaubühnen fürs gemeine Volk.
Ein Problem der Oxford-Theorie ist der Altersabstand von 14 Jahren zwischen de Vere und Shakespeare, der schlecht zu den üblichen Hypothesen der Werkchronologie passt, die um 1590 herum beginnt. Streng genommen ist jedoch die Entstehungszeit der Stücke unbekannt, nur das Datum der Zensurfreigabe für die Öffentlichkeit ist aktenkundig. Wenn de Vere primär zur königlichen Unterhaltung schrieb, könnten nach einer Hofaufführung oft etliche Jahre vergangen sein, bis – mit seinem stillen Einverständnis – ein Text anonym den Weg auf eine öffentliche Bühne fand.
Kurt Kreiler gewinnt gerade aus der Frage nach der Entstehungszeit ein gewichtiges Argument für de Vere. Seit dem spanischen Invasionsversuch, der 1588 mit der Niederlage der Armada endete, sei – so Kreiler – am Londoner Hof nicht nur alles Spanische, sondern auch alles Italienische oder Katholische verpönt gewesen. Folglich müsse die Reihe der «italienischen» Shakespeare-Stücke, von Der Widerspenstigen Zähmung und Romeo und Julia bis zum Kaufmann von Venedig, schon vor 1588 auf die Hofbühne gelangt sein. Will sagen: Shakespeare, damals erst 24, könne nicht ihr Autor gewesen sein.
Fest steht: Den Reichtum einer humanistischen Bildung auf höchstem Renaissance-Niveau, den Shakespeares Werk entfaltet, genießt Edward de Vere von klein auf. Sein so kunstsinniger wie abenteuerlustiger Vater stirbt, als der Junge zwölf ist, und Edward zieht in den Londoner Palast seines königlichen Vormunds ein, des mächtigen Schatzkanzlers Burghley, der jahrzehntelang als rechte Hand der Queen den Staat durch alle Krisen lenkt und erstaunliche 76 Jahre alt wird. Burghley sorgt für die bestmögliche Erziehung seiner adeligen Mündel durch eine Reihe von Gelehrten; Edwards Tutor wird sein Onkel Arthur Golding, berühmter Übersetzer lateinischer Klassiker, besonders der Metamorphosen des Ovid (zweifellos Shakespeares meistzitierte Lektüre).
Natürlich gehören nicht nur Sprachen und Wissenschaften, sondern auch aristokratische Sportarten zum Pensum. Edwards Volljährigkeit wird 1571 mit einem mehrtägigen Ritterturnier gefeiert, bei dem er sich als Lanzen- oder Speerkämpfer zu Pferd hervortut, und am Ende des Jahres heiratet er, natürlich in der Westminster Abbey, Burghleys 15-jährige Tochter Anne – die Königin lädt zum Hochzeitsbankett in ihr Schloss.
Der Text ist entnommen aus:
http://www.spiegel.de