Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №8/2010

Sonderthema

Immanuel Kant: Das reine Gold des Denkens

Der Philosoph Immanuel Kant, vor über 200 Jahren gestorben, hat das Nachdenken über Gott, das Weltall und den Menschen revolutioniert. Seine umfassende Vernunftkritik und seine Ideen zu einem künftigen «Weltbürgerrecht» weisen den Weg zu mehr Frieden – heute erst recht.

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Immanuel Kant
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«Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir ... Ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz.»
Dieser schwerfällig schöne Text gehört zum Grandiosesten, das je geschrieben wurde, und darf in aller Ruhe genossen werden. Er ist der «Beschluss» überschrieben und steht im letzten Kapitel von Immanuel Kants moralphilosophischer Kritik der praktischen Vernunft (1788).
Der Inhalt: die ganze Welt, der Stil: gravitätische Nüchternheit, die Geltung: ewig. Der nächtliche Himmel mit seinen «Welten über Welten», seiner «periodischen Bewegung» in unermesslichen Räumen und Zeiten, mutet dem staunenden Betrachter das Gefühl zu, selbst nur ein nichtiger Winzling zu sein; doch «das moralische Gesetz» richtet den Gedemütigten wieder auf: Denn es gilt selbst grenzenlos, über den Tod einzelner Menschen und Völker hinaus. Die moralische Selbstverpflichtung, zum Beispiel nicht zu betrügen oder zu morden, ist sozusagen der weite Kosmos im engen Menschenkopf, dieses Gesetz ist ebenso unverwüstlich und bewunderungswürdig wie das am Nachthimmel leuchtende «Sternenheer».
Kein langer, aber ein großer Text. Er ziert, in Deutsch und Russisch, jene Kant-Gedenktafel, die an einem Mauerrest des ehemaligen Königsberger Schlosses hängt, nicht weit vom Grabmal des Philosophen neben dem Dom – eine Erinnerung auch daran, dass nach dem Januar 1758, als russische Truppen erstmals Königsberg besetzt hatten, zahlreiche russische Offiziere bei Kant Vorlesungen gehört haben.
Nicht schießen, lieber philosophieren, denn das Leben ist kurz und seine Geheimnisse sind gewaltig – zumindest so viel werden sie dabei mitbekommen haben. Kant hat nicht nur kühn den Kosmos über und in unseren Köpfen analysiert, er hat auch sehr genau und für alle Zeiten gültig dargelegt, weshalb der Angriffskrieg, «der Quell aller Übel und Verderbnis der Sitten», dem moralischen Gesetz in uns Gewalt antut und unter welchen Voraussetzungen der Staatsverfassung und des «Weltbürgerrechts» die Menschheit dem «ewigen Frieden» näher käme – nicht heute oder morgen, aber «in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung».
Kant ist vor über 200 Jahren gestorben, am 12. Februar 1804 – und doch sind seine wichtigsten Erkenntnisse bis heute plausibel und aktuell geblieben. Neben den Gedanken zur Moral, zu Weltall und Weltfrieden, zur Eigenart des Schönen in Kunst und Natur vor allem auch seine Vernunftkritik, welche das selbstbewusste Denken als oberste Instanz intellektueller Mündigkeit zugleich inthronisiert und in die Schranken weist – gegen alle Ansprüche der Religionen. Genial daran und überraschend gegenwärtig ist gerade die Verbindung zwischen Religionskritik und Friedenstheorie.
Was in konkrete Konsequenzen mündet, steigt bei Kant erst relativ spät aus tieferen, sehr viel grundsätzlicheren Überlegungen. Was ist Schicksal? Gibt es einen Gott? Wie weit dürfen jene, die an einen Gott glauben, die öffentliche Moral in einem Staat vorgeben oder gar diktieren? Wieso ist eine republikanisch verfasste Gesellschaft eher zum Frieden geneigt als jede Art von Despotie? Ist die Seele unsterblich? Sind Raum und Zeit endlich oder unendlich? Hat der Mensch einen freien Willen? Lauter uralte Fragen der Menschheit – Kant hat sie neu beantwortet, und seine Antworten wurden zwar bezweifelt oder differenziert, bis heute aber niemals ernsthaft widerlegt. Von welchem Denker der deutschen Geschichte ließe sich Ähnliches behaupten?
Und doch: Weder Film noch Fernsehen, weder die Gurus der neuen Religionen noch das modische Geschnatter des Halbwissens können mit seinen Schlüsseltexten etwas anfangen. Dieser einzigartige Denker taugt anscheinend nicht zum Superstar. Ihm fehlen die kultigen Trademarks, die genialische Beethovenmähne, Mozarts Kinderknuddeligkeit, Goethes Duft nach Weibergeschichten, Wagners Wahnsinn, Nietzsches Tragik. Sein weder schräges noch schrilles Leben ist geprägt von altpreußischen Tugenden, von ernster Beharrlichkeit, immensem Fleiß, freundlichem Gleichmaß, zweifelnder Gründlichkeit, von Pflichtbewusstsein, Treue (zu sich selbst und zu Freunden), Bescheidenheit und Ordnungssinn.
Wer war eigentlich dieser schmalbrüstige Mann mit der zarten Statur, den blauen Augen und dem großen Kopf, der mitten im turbulenten Übergang von der hierarchisch geordneten Welt des Gottesgnadentums und der tumben Untertanen zur Selbstbestimmungsmoderne gleichberechtigter Bürger ein so hohes Maß an aufgeklärter Hellsichtigkeit und kosmopolitischem Rechtsbewusstsein erreichte? Wie genau entwickelte und begründete er die «Architektonik», ein Terminus von ihm selbst, seiner wichtigsten Ideen? Wie war seine Familie, sein Hausstand, wer waren seine Lehrer, Schüler und Freunde? Konnte Kant, dieser große Einsame zwischen den Epochen, überhaupt echte Freunde haben?
Angefangen hat alles mit einem aufmerksamen Jungen, der um das Jahr 1730 an der Hand seiner Mutter durch das Abenddunkel spaziert. Die Szene spielt vor den Toren Königsbergs, und der Junge heißt noch Emanuel Kandt. Bald soll «Manelchen» dank der Fürsprache eines Pastors auf die neue Pietisten-Schule kommen. Doch schon jetzt erklärt die Mutter ihrem ernsthaften, talentierten ältesten Sohn, was sie kennt und weiß: Steine, Kräuter – und dann den gewaltigen, unermesslichen Sternenhimmel.
«Sie pflanzte und nährte den ersten Keim des Guten in mir, sie öffnete mein Herz den Eindrücken der Natur; sie weckte und erweiterte meine Begriffe» – so rühmte der alte Kant seine Mutter, die er mit 13 Jahren verloren hatte. Für den Sohn eines ehrbaren, schlecht und recht existierenden Handwerksmeisters war es die entscheidende Wendung: Der Blick nach oben, ins Ganze von Kosmos und Geist, hob ihn hinaus über die Alltagsmühen.
Etliche Jahre harten Schuldrills hielt er durch, auch die schweren Aufnahmeprüfungen der Universität, die er im Alter von 16 Jahren bestand. Und ähnlich wie es schon auf dem Dach des Friedrichs-Kollegs ein «Observatorium» mit Fernrohr gegeben hatte, das seinen Horizont weit hielt, so fand auch der Student Kant einen Gleichgesinnten: Martin Knutzen. Naturwissenschaftlich denkender Philosoph und Forschungs-Workaholic, besaß er sogar privat ein Spiegelteleskop, wie es der große Sir Isaac Newton verwendete. Zuweilen durften seine jungen Hörer damit in den Nachthimmel blicken.

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Kants Denkmal in seiner Heimatstadt Königsberg, dem heutigen Kaliningrad
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Bedeutsam für Kant war, dass ihm Knutzen auch Newtons Grundlagenwerk über den Bau des Weltalls zu lesen empfahl. Tatsächlich arbeitete Kant das mit Formeln gespickte lateinische Buch durch. Nun hatte er ein Fundament, auf das sich bauen ließ.
«Ich habe mir die Bahn schon vorgezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen.» So kometenhaft und selbstsicher trat der Nobody von 22 Jahren, der sich jetzt mit einem alttestamentlichen Messias-Beinamen «Immanuel» nannte, in seinem ersten Fachbuch auf, einer weitschweifigen Physikstudie. Gleich mit den größten Geistern der Naturforschung legte er sich an. Doch wenig später waren solche Höhenflüge erst einmal vorbei: 1746 starb auch Kants Vater, zum Studieren blieb kein Geld mehr.
Unverdrossen rackerte der junge Mann als Hauslehrer auf Dörfern und Gutshöfen. Seine Geschwister, ein Bruder und drei Schwestern, lebten in bescheidenen Verhältnissen und boten ihm wenig Entlastung. Eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen kam schon aus finanziellen Gründen für ihn, der als junger Mann durchaus einmal verliebt gewesen war, nicht in Frage. Später ist aus dem Vorsatz, ein «würdiges» Frauenzimmer zu ehelichen, auch nichts mehr geworden, obwohl besonders die Damen der Gesellschaft seinen geistreichen Witz (wie seine erstaunlichen Kenntnisse der Kochkunst) zu schätzen wussten.
Dafür sammelte er unbeirrbar sechs Jahre lang den Stoff zu einem Werk, das seine erste Großtat als Weltdenker werden sollte. Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels hieß der schmale Band großspurig, und tatsächlich wagte Kant darin schier Undenkbares: ein Modell der Welt und ihrer Entstehung «nach newtonischen Grundsätzen», mit Kapiteln wie «von der Schöpfung im ganzen Umfange ihrer Unendlichkeit, sowohl dem Raume als der Zeit nach», am Schluss gar Überlegungen zu «den Bewohnern der Gestirne» auf nicht mal 50 Seiten – alles obendrein auf Deutsch, also für jeden, der lesen konnte: Kühner ging es kaum noch.
Aber der Stolz war berechtigt. «Eine Sternstunde in der Geschichte der Kosmologie» und eine «naturphilosophische Großtat» nennt Kant-Biograf Manfred Geier das Werklein, in dem das Werden des Alls allein aus Materie und den auf sie wirkenden Kräften erklärt wird – und mittendrin auch gleich, warum Winde wehen und woher der Planet Saturn seine Ringe hat. Tatsächlich nahm das Buch, ohne eine einzige Formel nötig zu haben, Einsichten voraus, die erst Himmelskundler des 19. und 20. Jahrhunderts in langwierigen Messungen, Rechnungen und Debatten wiederfinden sollten. Zum Beispiel jene, dass eine Galaxie tatsächlich aus zahllosen Sternen besteht und nicht aus flimmernden Gaswolken.
Mehr noch: Schon jetzt überhöhte Kant sein Kindheitserlebnis zum Leitbild auch im Moralischen. «Das Weltgebäude setzet durch seine unermessliche Größe und durch die unendliche Mannigfaltigkeit und Schönheit, welche aus ihm von allen Seiten hervorleuchtet, in ein stilles Erstaunen», schrieb er. Mit «Vergnügen», ja «Entzückung» skizziert er die bis ins Fernste wirkende «Weltverfassung». Wer die geordnete Schönheit des Kosmos wahrnimmt, hat der nicht auch schon den besten Hinweis, wie er selbst vernünftig und gerecht handeln müsse?
Experten freilich, das wusste Kant sehr gut, hätten entrüstet widersprochen. «Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen!» So etwas drucken zu lassen war im Grunde blanker Atheismus. Auf einen großmächtig-barmherzigen Schöpfer, der das Himmelsgetriebe konstruiert und in Bewegung hält, mochten auch die gelehrtesten Zeitgenossen (sogar Newton selbst) nicht verzichten.
Als Eintrittskarte zur streng protestantischen Universität Königsberg war der heikle Geniestreich also unbrauchbar. Doch Kant ließ sich nicht einschüchtern. In nur einem Jahr bewältigte er mit zwei braven Abhandlungen erst das Magisterexamen und als Nächstes die Anforderungen für das Lehramt. 1755, mit 31 Jahren, hatte er die erste Etappe seines Lebensplans erreicht: Der Handwerkersohn war Privatdozent der Weltweisheit an der Hochschule seiner Vaterstadt.
Logik und Mathematik, philosophische Religionslehre, Ethik und Pädagogik, Naturrecht und Metaphysik, vor allem aber abwechselnd Erdkunde und Menschenkunde dozierte der schmächtige, 1,57 Meter kleine und stets leise sprechende, zudem leicht nuschelnde Magister fortan vom Katheder: in angemieteten Räumen, nach vorgeschriebenen Lehrbüchern, bis zu 24 Stunden die Woche. Ein Staatssalär gab es nicht; Kant lebte von dem, was die Studenten zahlten.
Er lebte sogar gut davon. Der einfache Mittagstisch im Restaurant wurde dem bald geachteten Weltweisheitslehrer ebenso zur Gewohnheit wie gelegentliche Theaterbesuche und die Unterhaltung auf Einladungen zu «gemischten Gesellschaften». Ab und an, wird gemunkelt, sei Kant dabei so angetrunken gewesen, dass er hinterher «das Loch in der Magistergasse nicht habe finden können». Wer ihn heimbrachte, ist nicht überliefert.
Doch um Freundschaftsdienste brauchte sich der elegante Aufsteigerjunggeselle keine Sorgen zu machen. In gutbürgerlichen Kreisen Königsbergs war er gern gesehen. Kant sei ein «recht guter Junge», erklärte Theodor Gottlieb von Hippel, später Bürgermeister von Königsberg und spitzzüngiger Romanautor. Johann Georg Hamann, ein unglaublich belesener Bohemien im niederen Staatsdienst, der zu Kants klügstem christlichem Widerpart werden sollte, rühmte den Magister als «fürtrefflichen Kopf». Auch Besucher wie der Astronom Johann Bernoulli waren von der «feinen Lebensart» Kants angetan.
Mondän ging es in der Provinzhauptstadt von 50 000 Einwohnern zwar kaum zu – aber doch recht «multikulturell», wie Kant-Biograf Manfred Kühn erklärt: «Abgesehen von einem großen Kontingent von Litauern und anderen Bewohnern des Baltikums gab es in Königsberg Mennoniten, die im 16. Jahrhundert aus den Niederlanden hierher gekommen waren, sowie Hugenotten ... Sie sprachen untereinander immer noch Französisch, gingen in ihre eigene Kirche und besaßen ihre eigenen Institutionen und Geschäfte. Es gab viele Polen, einige Russen..., eine bedeutende jüdische Gemeinde sowie eine Reihe von holländischen und englischen Kaufleuten.»
Einer von ihnen, der nüchterne Joseph Green, wurde Kants Freund und Vermögensverwalter – seinetwegen schränkte der Magister bald seine Vergnügungen ein; auf das gesellige Mittagessen verzichtete er so gut wie nie, wohl aber auf Kartenspiel und Theaterbesuche. Lieber, so erzählen es Zeugen, ging er nachmittags zu Green. Nicht selten fand er diesen «in einem Lehnstuhl schlafen, setzte sich neben ihn, hing seinen Gedanken nach und schlief auch ein». Ein weiterer Freund weckte die Runde, und dann gab es, bis «pünktlich um sieben», die «interessantesten Gespräche».
Die meiste Zeit brauchten natürlich Vorbereitung – damit begann er morgens um fünf – und Unterricht. Jahraus, jahrein, scherzte er später in einem Brief, führe er «den schweren Hammer sich selbst ähnlicher Vorlesungen in einerlei Takte». Bewerbungen um eine Professur hatten keinen Erfolg. Lichtblicke im Alltagstrott waren nur brillante Schüler wie der genialische Jungdichter Jakob Michael Reinhold Lenz und der junge Landsmann Johann Gottfried Herder. Herder, der 1762–1764 bei Kant hörte, schrieb später darüber: «Mit dankbarer Freude erinnere ich mich aus meinen Jugendjahren der Bekanntschaft und des Unterrichts eines Philosophen, der mir ein wahrer Lehrer der Humanität war ... Seine Philosophie weckte das eigne Denken auf, und ich kann mir beinahe nichts Erleseneres und Wirksameres hierzu vorstellen, als sein Vortrag war.»

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Kant mit Senftopf, Karikatur von Friedrich Hagermann (1801).
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Erst 1770, nach 14 Jahren, kam der Lohn der Ausdauer. Nachdem schon Erlangen und Jena ihm einen Lehrstuhl angeboten hatten, wurde Kant endlich Professor. Der finanzielle Rückhalt war ihm willkommen, denn inzwischen hatte er immer bewusster jenes Problem einzukreisen begonnen, das ihn schon seit der Jugend umtrieb: Woher nehmen wir Sicherheit im Erkennen? Gibt es nicht wie am Sternenhimmel, so auch im Geist eine Ordnung, die, wenn ihre Grenzen einmal umrissen sind, Dogmatikern und «Schwärmern» keine Chancen auf öffentliches Wirken mehr lässt?
«Wo finde ich feste Punkte der Natur?», hatte seine Leitfrage bisher gelautet. Nun, das war sein entscheidender Einfall, suchte er Gewissheit nicht mehr in Beobachtungen, sondern im Beobachter selbst.
«Das Jahr 69 gab mir großes Licht», erinnerte sich Kant später, die allgegenwärtige Lichtmetapher der Aufklärung ganz persönlich bemühend, an den Epoche machenden Perspektivenwechsel. Doch der Geistesblitz allein genügte ihm nicht. Bis er endgültig aus dem «dogmatischen Schlummer» erwacht war und die Konsequenzen durchdacht hatte, verstrichen noch einmal zehn Jahre. Freunde und Kollegen hielten den früher so schreibfreudigen Professor schon für ausgebrannt – da erschien 1781 die Kritik der reinen Vernunft. In weniger als sechs Monaten hatte Kant seine jahrelangen Überlegungen endlich zum Buch komprimiert.
«Mir ist’s zu hoch», stöhnte Nachbar Hippel. Auch der Berliner Aufklärer Moses Mendelssohn klagte über das «Nervensaft verzehrende Werk». Sogar Hamann, philosophisch durchaus trainiert, war nach dreimaliger Lektüre der vielen überlangen Sätze ziemlich ratlos. Kant selbst gab zu, dass die «Menge ganz ungewohnter Begriffe», die sich noch dazu in einer ganz «neuen Sprache» zusammenfügten, bei Einsteigern «Betäubung» auslösen könne.
Umso größer die Erregung, als der erste Schock abgeklungen war: Was Kant lieferte, war – in den Worten ihres jüngsten Kommentators, des Tübinger Philosophen Otfried Höffe – nichts Geringeres als «die Grundlegung» schlechthin. «Fast sämtliche Felder der Philosophie werden hier revolutionär neu bestellt, und die Landschaft des abendländischen Denkens erhält ihr modernes Gesicht.»
Im Zentrum dieser Neujustierung aller Prinzipien stand ein Gedanke, den Kant später so formulierte: «Der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.» Nur weil unser Denken von vornherein bei allem, was es wahrnimmt, eine Ordnung im Raum, in der Zeit, nach Ursache und Wirkung verlangt, ja sie von sich aus den Erscheinungen aufprägt, kann den Sinnen eine Welt aufgehen, ist «Erfahrungserkenntnis möglich» und somit empirisches Denken überhaupt.
Was damit gewonnen war, deklinierte Kant im zweiten Teil seines Wälzers an gleich vier der ältesten philosophischen Zwickmühlen durch: Hat die Welt, räumlich wie zeitlich, einen Anfang? Ist Materie unendlich teilbar? Existiert echte Freiheit, oder ist der Weltlauf durch Naturgesetze vorherbestimmt? Gibt es ein «schlechthin notwendiges Wesen» – einen Gott?
Jede der vier Fragen, so zeigte er, lässt sich auf Anhieb schlüssig mit Ja wie mit Nein beantworten. Nach genauerer Analyse aber erweisen sich die voreiligen Antworten als «vernünftelnde Behauptungen»: Wer meint, er müsse sich für oder gegen Gott, Freiheit, die Endlichkeit des Raumes, die unendliche Teilbarkeit des Körperlichen oder die Ewigkeit entscheiden, sitzt für Kant schon in der Denkfalle. Er ist einem «dialektischen Schein», einer «Antinomie der Vernunft» aufgesessen, denn empirisch ergründen könnte er das, wofür er sich entscheide, sowieso nie.
Zum Beispiel der Raum, ist er nun endlich oder unendlich? Endlich kann er nicht sein, da jede vorstellbare Weltgrenze selbst wieder durch einen «leeren Raum» begrenzt wäre. Unendlich ist er aber auch nicht: Die Wahrnehmung müsste von einer Raumbegrenzung zur anderen bis ins Unendliche «fortschreiten» und käme niemals zur Ruhe einer kohärent «gegebenen» Anschauung; dieser nicht endende «Regress» der Vorstellungskraft erzeugt Gedankenflucht, aber keine kompakte Wahrnehmung, auf der ein Begriff der unendlichen Größe fußen könnte und müsste. Begriffe ohne Anschauung nämlich sind leer, wie anders herum gilt: Anschauungen ohne Begriffe sind blind.
Selbstbewusste Bilanz: «Der kritische Weg ist allein noch offen.» Er führt nicht zu irgendeiner sich selbst «überhebenden» Gewissheit, weiß aber, dass der Raum wie die Zeit «indefinit», unbestimmbar, bleiben, weil sie reine Anschauungsformen des menschlichen Subjekts sind und die Welt als «Erscheinung» konstituieren, niemals als «Ding an sich». Entsprechend gilt: Gott ist kein verifizierbarer Begriff; Gott ist ein reines «Ideal», ins unerkennbare Reich der «Dinge an sich» verwiesen. Immerhin: eine sinnvolle, für den Kampf des Guten wider das «radikale Böse» im Menschen sogar unentbehrliche Voraussetzung praktischer Vernunft.
Ein gnadenloser Abräumer sei Kant, ja ein «Alleszermalmer» (Mendelssohn), stöhnten viele Intellektuelle, die sich aus ihrer zuvor so behaglich von einer göttlichen Zentralheizung erwärmten Denkwelt vertrieben fühlten. Hamann sah in der Vernunftkritik letztlich sprachliche Taschenspielerei, und auch der blitzgescheite Herder wandte sich später voller Grimm gegen Kants kühle Konstruktionen. Doch auf jüngere Leute machten sie umso größeren Eindruck.
An Universitäten bildeten sich Fraktionen für und gegen den ostpreußischen Ideen-Akrobaten. In Jena studierte der junge Dichter und Geschichtsprofessor Friedrich Schiller die Kantischen Grundsätze begeistert, obwohl er die Bedeutung der Sinnlichkeit unterschätzt fand. Und auch die wohl berühmteste Studentenwohngemeinschaft der Geistesgeschichte debattierte um 1791 im Tübinger Stift hitzig, wohin die kritische Methode eigentlich führe: Die Streitgespräche zwischen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Hölderlin und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling sollten bis weit ins 19. Jahrhundert fortwirken – Schelling rühmte in einem Zeitungsnachruf 1804 «das reine Gold» der Kantischen Philosophie.

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Kritik der reinen Vernunft, Titelblatt der Erstausgabe von 1781.
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Aber auch privat half der intellektuelle Paukenschlag Kant voran. Als Denkerstar konnte er sich mit 59 Jahren endlich ein kleines Haus – samt 70-Plätze-Hörsaal für seine Vorlesungen – leisten; neben Diener Lampe war später gar eine Köchin tätig. Fast täglich lud der Philosoph Gäste (keine weiblichen) zum Mittagessen in sein bescheiden möbliertes Haus unterhalb des Schlosses – meist gab es drei Gänge: etwa Suppe, «mürbes» Fleisch, Obst, dazu selbst gemachten englischen Senf und Wein. Allein zu essen, meinte er, sei «ungesund»: «Der genießende Mensch, der im Denken während der einsamen Mahlzeit an sich selbst zehrt, verliert allmählich die Munterkeit.» Spazieren ging Kant dagegen am liebsten solo: Er schwitzte ungern und hatte Angst, der andere zwinge ihm ein zu hohes Tempo auf.
Der sensible Geistesarbeiter fühlte sich leicht gestört: Hatte ihm in der früheren Mietwohnung ein frecher Hahn zwischen die Gedanken gekräht, so klagte Kant nun bei Bürgermeister Hippel über Häftlinge, die im nahe gelegenen Gefängnis allzu gern und vernehmlich fromme Lieder schmetterten. Dann wieder miaute ihm die Katze seiner Köchin zu laut.
Er hatte die Ruhe nötig, denn das «kritische Geschäft» ging weiter. Das unverhoffte Hauptwerk war nur der Startschuss für die anvisierte «gänzliche Veränderung der Denkungsart». Buch um Buch baute Kant fortan die Galaxie seines Denkens in Richtung von Moral und Ästhetik aus.
1784, drei Jahre nach dem Kraftakt der großen Vernunftkritik, zeigt sich das gefestigte Selbstbewusstsein des preußischen Vordenkers im strikt definitorischen, bei aller Trockenheit jedoch wiederum faszinierenden Gestus seines legendären Aufsatzes über das Wesen der Aufklärung. Er beginnt so: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.»
Klare, kraftvolle Worte – hörbar und denkwürdig bis in unsere Tage. Kant schrieb sie als «Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?» vor allem gegen die «regiersüchtige Geistlichkeit», wie es ein juristischer Verbündeter damals nannte. Die «Beantwortung» umfasst nur wenige Druckseiten, gehört aber, neben einigen anderen «kleinen Schriften», zu den wuchtigsten, wichtigsten und lesbarsten Interventionen, die Kant je verfasst hat. Seine Definition der Aufklärung krönt Kant mit dem berühmten Appell: «Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.»
In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und der Kritik der praktischen Vernunft (1788) zeigt Kant dann, was mündiges, vom theologischen Dogma sich lösendes Denken zum Thema Moral zustande bringt.
Als «oberstes Prinzip der Moralität» formuliert Kant in der Kritik der praktischen Vernunft den von ihm schon zuvor angepeilten Kategorischen Imperativ: «Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.»
In der Metaphysik der Sitten heißt es konkreter: Kein Mensch dürfe andere Menschen in ihrer moralisch-personalen «Würde» missachten, indem er sie als bloßes Mittel behandle und nicht immer auch als «Zweck an sich selbst».
Rein «formal» ist diese Sittenlehre keineswegs. Ihr Inhalt ist die Freiheit der praktischen Vernunft, die zwar empirisch so wenig bewiesen werden kann wie die Unsterblichkeit der Seele, die aber als «Postulat» moralischer Urteile und Handlungen unentbehrlich ist und darum vorausgesetzt werden darf. Diese Freiheit findet ihre Grenze an der Freiheit jedes anderen Vernunftwesens. Mögliche Konflikte regeln Gesetze, an die sich alle Bürger, auch die mächtigen, halten müssen. Nur solche Prinzipien, die diesen wechselseitigen, gesetzlich geschützten Respekt der Freien nicht gefährden, dürfen allgemeine Gültigkeit beanspruchen.
Kein Zweifel, das ist keine enge, moralinsaure Kleinbürgermoral, sondern eine helle, öffentlich verhandelbare, kristalline, eben: eine aufgeklärte Ethik. Sie besagt letztlich: Nur als sozial handelndes Lebewesen, das beispielsweise bei der Versorgung der Kinder oder bei der Verachtung des Betrugs nicht an den eigenen Vorteil aus «geschäftiger Torheit» denkt, ist der Mensch sozusagen ein Kind Gottes, das die Grenzen vitaler Selbsterhaltung großzügig überschreitet – «transzendiert».
Auch Kants Ästhetik enthält die für seine Morallehre typische Paradoxie, den Menschen einerseits von Dogmen zu befreien, andererseits aber seiner Willkür deutliche Grenzen zu setzen. Die Kritik der Urteilskraft (1790) stellt die Frage nach der zweckfreien «Zweckmäßigkeit» des Schönen.
Kunst ist eine ideell geordnete Vielfalt sinnlicher Eindrücke – aber die sichtbare oder hörbare Ordnung verfolgt nicht irgendwelche moralischen, pädagogischen oder politischen Zwecke, sie lockt vielmehr den Betrachter in ein freies Spiel seiner «Gemütskräfte». Die Kunst verkörpert eine Freiheit, die den ganzen, autonomen Menschen meint, darum darf sie nicht bloß einzelne seiner Überzeugungen oder Ziele bestätigen. Das besagt auch: Geschmack ist durchaus etwas, worüber sich, weil es den ästhetisch urteilenden «Gemeinsinn» angeht, mit Argumenten streiten lässt.
Auch diese einerseits abstrakt wirkenden, andererseits für pietistische Kunstprediger ungewohnt liberalen Bestimmungen wurden sogleich eifrig diskutiert.
Mit dem Aplomb des Star-Intellektuellen wagte sich der Königsberger Professor immer wieder weit vor. Als Preußens neuer, kirchentreuer Herrscher Friedrich Wilhelm II. ihn 1794 für sein Buch Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft heftig rügen ließ und ihm bald darauf jede öffentliche Rede über alles Religiöse untersagte, verzichtete Kant zwar auf weitere theologische Wortmeldungen. Aber in politischen Fragen ließ er sich nicht mundtot machen, wie seine republikanisch engagierte Schrift Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, sein politisches Vermächtnis, 1795 bewies.
Zum ewigen Frieden ist Kants politisch wichtigstes Werk und bleibt nach wie vor besonders aktuell. Klipp und klar heißt es dort etwa: «Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen.» Selbst dann nicht, wenn es sich beim Ziel des Angriffs um das Land eines «mit seiner inneren Krankheit ringenden Volks» handelt. Denn auch ein Staat ist eine «moralische Person», und es ist Unrecht, aus ihr «eine Sache» zu machen. Dieses Unrecht wird nicht vergessen und irgendwann zum «Stoff» eines «künftigen Kriegs», sodass selbst nach einem ersten Sieg des Angreifers kein echter Friede möglich ist, bloß «ein Waffenstillstand», der nicht das Ende, sondern den «Aufschub der Feindseligkeiten» bringt.
Wer einen anderen Staat, aus welchen Gründen auch immer, überfällt, gefährdet damit «die Autonomie aller Staaten», und dieses Rechtsgut ist allemal höher stehend als das mögliche Teil-recht zum Überfall.

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Kant-Büste im Museum Friedrichswerdersche Kirche, Berlin.
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Kant hat, mitten im militärgeprägten, durchaus nicht pazifistischen Preußen, gegen «stehende Heere» (die die Menschen als «bloße Maschinen» «zum Töten» gebrauchen) plädiert und den möglichen Weltfrieden mit der «Idee einer Weltrepublik» verknüpft – gut 120 Jahre vor der Gründung des Völkerbunds, aus dem später die Vereinten Nationen hervorgegangen sind.
Diesem «süßen Traum» (Kant) von einem gesetzlichen Zustand zwischen den Staaten entspricht die Vision von einem die zwischenmenschlichen Konflikte befriedenden «Staatsbürgerrecht» im Inneren der Länder. Kant, der sein Gehalt immerhin von einem König bezieht, plädiert entschieden für die «republikanische Verfassung». Auch deshalb, weil nur sie friedensstiftend nach außen wirkt.
In einer Verfassung, die nicht republikanisch sei, falle es dagegen dem absolutistischen «Staatseigentümer» leicht, den Krieg «wie eine Art von Lustpartie aus unbedeutenden Ursachen» zu beschließen, «weil das Oberhaupt an seinen Tafeln, Jagden, Lustschlössern, Hoffesten u.d.gl. durch den Krieg nicht das Mindeste einbüßt».
Auch wenn Kant im selben Text Friedrich den Großen schont, weil dieser «wenigstens sagte, er sei bloß der oberste Diener des Staats» – im Seitenhieb auf den Krieg als feudale «Lustpartie» wird hinreichend deutlich, dass der Philosoph der absoluten Monarchie fernstand. Unter seinen Bekannten galt er längst als «völliger Demokrat». Während im Paris der Revolutionäre schon die Guillotinen wüteten, erklärte er, alle Gräuel des Umsturzes seien «unbedeutend gegen das fortdauernde Übel der Despotie».
Zum ewigen Frieden war der Schlusspunkt einer Philosophie, die beim Wissen um die Grenzen der Vernunft begonnen hatte. Dorthin kehrte der alte, immer schwächer werdende Kant in seinen letzten Lebensjahren zurück. In einem Konvolut großer Blätter, die er netzwerkartig immer enger mit Notizen bedeckte, dem sogenannten Opus Postumum, versuchte er noch um 1800 den Kern seiner Philosophie, den «Transzendentalen Idealismus», so prägnant wie möglich zu fassen und im Blick auf die Physik zu erweitern, mit besonderer Aufmerksamkeit für die «lebendigen Kräfte» der natürlichen Körper.
Vorlesungen halten konnte er längst nicht mehr, und vor Besuchern entschuldigte er sich artig: «Meine Herren, Sie müssen mich wie ein Kind betrachten.» Allmählich häuften sich Symptome, wie sie heute von Alzheimer-Kranken bekannt sind, 1803 erlitt er einen Schlaganfall, die erste ernsthafte Erkrankung in seinem Leben; er wurde immer vergesslicher, schließlich ganz orientierungslos und zu klarer Rede kaum mehr fähig.
Am 12. Februar 1804 ist Kant morgens um elf Uhr gestorben – «es ist gut» sollen die letzten Worte des Philosophen gewesen sein. Kurz zuvor hatte er noch am Wein genippt, der mit Wasser verdünnt war.
Zu diesem Zeitpunkt war die erste Welle der eigenwilligen Fortschreibungen seines Systems schon vorbei. Johann Gottlieb Fichte hatte mit seiner Ich-Philosophie Kants zentralen Einfall radikalisiert; Schelling, der junge Feuerkopf aus dem Tübinger Stift, hatte gar ein eigenes Transzendentalsystem der Naturerkenntnis vorgeführt; sein Mitstudent Hegel war kurz davor, diese fruchtbare Mischung geschichtsphilosophisch zu würzen und zu überbieten – Kant löste eine Hochkonjunktur großer Denkentwürfe aus.
Selbst der Paderborner Philosophie-Historiker Franz Schupp, ein erklärter Kant-Zweifler, räumt in seinem jüngst erschienenen dreibändigen Überblick ein, Kant sei «der letzte ‹kontinentale› Denker, den Engländer oder Amerikaner wirklich verstehen können». Nach ihm gabelt sich der Weg: Trieb in Deutschland der Idealismus mit seiner Systemerfindungswut noch einige wilde Blüten, so bauten nüchternere angelsächsische Kant-Leser vorwiegend an der Wissenschaftstheorie des Königsbergers weiter.
Generation um Generation hat seither ausgerufen, nie sei er so wertvoll gewesen wie jetzt. Vom «Neukantianismus» um 1900, der vor allem an Kants Erscheinungslehre erinnerte, über Ludwig Wittgensteins Sprachkritik bis zu den jüngsten intellektuellen Richtungskämpfen um Solidarität und Machtanspruch, Würde und Anerkennung – alle berufen sich auf Kant.
Das beliebte Dauerlob für Kants Moralphilosophie ist nicht nur deshalb eine Verengung, weil ihr kosmischer Bezug dabei meist unterschlagen wird. Kants geistige Befreiungsschläge bleiben auch für jedermanns alltägliches Selbst- und Weltverständnis wegweisend.

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Erinnerungstafel an der Russischen Universität in Kaliningrad; ursprünglich an der Süd-West-Mauer des Königsberger Schlosses.
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Vorbildlich bleibt schon die scheinbar widersprüchliche, aber eben dadurch das Denken anregende Art, in der Kant den menschlichen Geist zur eigenen Mündigkeit befreit und denselben Geist zugleich erkenntnis­theoretisch und ethisch diszipliniert hat. Diesen Maßstab hat Friedrich Nietzsche im späten 19. Jahrhundert verloren, als er die kritische Einsicht «Gott ist unbeweisbar» vergröberte zum Hammersatz «Gott ist tot» und aus dem Ende der klassischen Metaphysik gleich das Ende der Moral machte.
Der antibürgerlich gebeizte Nietzsche-Kult der zwanziger Jahre ist einer der Gründe dafür, dass auch allzu viele klassisch gebildete Deutsche auf die nationalsozialistische Ideologie mit ihrem rohen Recht des Stärkeren hereinfielen. Das kam nicht zuletzt durch die – von Hegel und Marx angebahnte – Unterschätzung des redlichen, substanziellen Königsbergers, dessen selbstbewusste, radikal kritische Grundhaltung Freidenker wie Nietzsche erst ermöglicht hat.
Zudem: Gott als Lenker der Geschichte, heiße er nun «Allah» oder «Gottvater», ist die rational gemilderte Variante vormodernen Schicksalsglaubens, der außerhalb der Kirchen auch im täglichen Konsum populärer Horoskope finstere Urstände feiert. Aufklärung aber ist, nach einem Wort des Publizisten Ulrich Sonnemann, «ein Unternehmen zur Sabotage des Schicksals».
Der Saboteur hat bis heute einen Kantischen Namen: Vernunftkritik. Der Begriff ist doppeldeutig: Er meint die kritisierende Vernunft ebenso wie die kritisierte. Allein die Vernunft darf angemaßte Vormundschaft und Schicksalsgläubigkeit kritisieren, weil sie sich auch selbst kritisiert, weil sie in der Entlarvung des Falschen niemals vergisst, dass sie auch selbst daneben liegen könnte. Diese Grundhaltung der Skepsis, von der alle Glaubenskrieger dieser Welt noch kosmisch weit entfernt sind, gilt auch außerhalb der dicken Kant-Bücher.

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Grabmal Kants neben dem Königsberger Dom in Kaliningrad.
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Sogar der Zusammenbruch hoch gerüsteter Machtkomplexe wie jener des marxistischen Ostblocks oder der Nazi-Herrschaft lässt sich, zumindest im Nachhinein, als Sieg dieser selbstkritischen Vernunft über einen neuen Glauben interpretieren, auch wenn zum Ende dieser Systeme Selbsterschöpfung und die entschlossene Gegnerschaft ihrer Feinde beigetragen haben, die sich auf die Weltmoral der Menschenrechte beriefen.
Manchmal begegnet der Mensch in der Konfrontation mit der Natur («tiefe Schlünde», «tobende See») der niederschmetternden Erfahrung, dass es etwas gibt, an dem er nicht den geringsten Anteil hatte oder haben wird und dessen Ereigniswucht «jeden Maßstab der Sinne übertrifft».
In solchen schmerzlich-schönen Grenzerfahrungen, solchen Gefühlen «der Beraubung der Freiheit der Einbildungskraft durch sie selbst», zeigt sich dem Menschen «das Erhabene», eine Größe-Erfahrung, eine Erschütterung, die leise und demütig macht. Und die der lärmenden Moderne meist abgeht, obwohl sie sich nach dem Erhabenen in allen möglichen Endzeit- und Untergangsvarianten zu sehnen scheint.
Kants «Analytik des Erhabenen», der Erfahrung des nächtlichen Kosmos wie des Todes abgelauscht, ist eines der bewegendsten Kapitel innerhalb der Kritik der Urteilskraft. Der kleine Königsberger, der den fernen, donnergrollenden Himmel zu den vernunftbegabten Bewohnern der Erde heruntergeholt und ganze Anmaßungs-Dome und Aberglaubens-Residenzen zum Einsturz gebracht hat – ist er nicht selbst eine erhabene Erscheinung?

Von Johannes Saltzwedel und Mathias Schreiber

 

Immanuel Kant
Zeittafel

1724 Am 22. April wird Immanuel Kant in Königsberg geboren.
1730–1740 Besuch einer Hospitalschule und des Collegiums Fridericianum, dessen pietistische Ausrichtung und dessen starker religiöser Zwang Kant insofern prägten, dass er eine relativ starke Ablehnung gegen diese Dinge entwickelte.
1738 Seine Mutter Anna Regina stirbt.
1740–1746 Studium der Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaft in Königsberg.
1740–1755 Arbeit als Hauslehrer und somit finanzielle Unabhängigkeit von den Eltern, die in seinem Auszug resultiert.
1746 Sein Vater Johann Georg Kant stirbt.
1755 Kant promoviert in Königsberg. Beginn der Arbeit als Privatdozent an der dortigen Universität, wo er Vorlesungen in den Bereichen der Philosophie, Naturwissenschaften, Theologie etc. hält.
1763 Zweiter Preis für den Text Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, den er als Antwort auf die Preisfrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften verfasste.
1764 Kant erhält das Angebot einer Professur für Dichtkunst, das er aber aufgrund der Hoffnung auf eine baldige Anstellung in seinem Fachgebiet – der Metaphysik und Logik – abschlägt.
1765–1772 Anstellung als Unterbibliothekar der Königlichen Staatsbibliothek.
1769 Angebot einer ordentlichen Professur in Erlangen, die er nach anfänglicher Zusage jedoch ablehnt, da sich ihm in seiner Heimatstadt bessere Aussichten bieten.
1770 Antritt des lang ersehnten Postens als Professor für Metaphysik und Logik an der Universität Königsberg.
1780 Eintritt in den akademischen Senat der Universität Königsberg.
1781 Kritik der reinen Vernunft erscheint.
1785 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erscheint.
1786 Kant wird Rektor an der Universität Königsberg.
1787 Er bezieht ein eigenes Haus in Königsberg.
1788 Kritik der praktischen Vernunft erscheint.
1790 Kritik der Urteilskraft erscheint.
1793 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft erscheint.
1794 Aufgrund eines Konfliktes mit der Preußischen Zensurbehörde werden Kants Vorlesungen allmählich eingeschränkt.
1797 Aufgabe der Lehrtätigkeit. Die Metaphysik der Sitten erscheint.
1800 Aufgrund zunehmender physischer Schwäche wird der Philosoph in seinem Haus von seinem Schüler Wasianski gepflegt.
1803 Schwere Erkrankung.
1804 Am 12. Februar stirbt Immanuel Kant im Alter von 79 Jahren in seinem Haus in Königsberg. Er wurde im sogenannten «Professorengewölbe» an der Nordseite des Königsberger Doms begraben.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.spiegel.de
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