Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №8/2010

Wissenschaft und Technik

Besuch im Bio-Bunker

Während seiner legendären Amerika-Reise ließ Alexander von Humboldt Tausende getrocknete Pflanzen per Segelschiff nach Europa bringen. Heute lagert der botanische Schatz streng gesichert in einem Berliner Keller. Nur wenige erhalten Einblick in den Bio-Bunker.

Im Südwesten von Berlin, im Stadtteil Dahlem, gibt es eine Straße, die sehr königlich tut und sich auch so nennt: Königin-Luise-Straße. Prächtige Gründerzeitvillen und großzügige Gärten säumen die Straße. Ihre wahren Kostbarkeiten aber hält sie gut versteckt, an einem streng gesicherten Ort tief unter ihr.
Um dorthin zu gelangen, betritt man ein Backsteingebäude, an dessen Eingang in Großbuchstaben geschrieben steht: BOTANISCHES MUSEUM. Der Weg führt in den Keller. In einem Spezialraum «NK2», die Abkürzung für «Neuer Keller 2», lagern die pflanzlichen Fundstücke, die der deutsche Naturforscher Alexander von Humboldt auf seiner legendären Amerikareise von 1799 bis 1804 gesammelt hat. Ein einzigartiger botanischer Schatz.

«Das hier ist das botanische Fort Knox Berlins»
Wer als Besucher hier hineinwill, braucht eine Sondergenehmigung und bekommt einen Aufpasser zur Seite. Es existieren gerade zwei Schlüssel für NK2. Im Fall eines Brandes schließt die Stahltür binnen Sekunden automatisch, und der Raum wird mit Stickstoff geflutet. Löschwasser würde die wertvollen Exponate unwiederbringlich zerstören.
«Das hier ist das botanische Fort Knox Berlins.» Der Mann, der diese Worte sagt, ist Professor am Botanischen Museum und heißt Hans Walter Lack. Seit mehr als 30 Jahren beschäftigt er sich nun schon mit Humboldts Mitbringseln aus Amerika. Lack ist ein Mann der Pflanzen und ein Humboldt-Fan, der sich schon unzählige Mal «auf die Reise durchs Archiv» begeben hat, wie er es nennt, auf den Spuren des gro­ßen Entdeckers. Es gibt wohl niemanden, der die Sammlung besser kennt als der Österreicher. Vor Kurzem hat er einen opulent illustrierten Band über Humboldts Amerikareise veröffentlicht.
Jetzt steht er da, der Professor, im NK2, diesem gasdichten, fensterlosen Raum mit extradicken Betonwänden, um ihn herum Rollregale aus Metall, in denen der Schatz aufbewahrt wird. Es sind gut 3360 Objekte, die von Humboldt und seinem französischen Reisegefährten Aimé Bonpland stammen. Etliche davon sind sogenannte Typusbelege. So nennen Botaniker Originale, anhand derer eine Pflanzenspezies erstmals wissenschaftlich beschrieben wurde. Humboldt hatte seinerzeit Hunderte Arten entdeckt.
Eine mag Lack besonders gerne. Er sucht im Regal, holt schließlich einen blauen Pappordner hervor und schnürt ihn auf. Zum Vorschein kommt ein über 200 Jahre altes, längliches Blatt. Es ist glatt, an den Seiten leicht gekerbt, in der Mitte gewellt, braun und etwas löchrig über dem Blattstiel. Ansonsten sieht es einwandfrei aus. «Das ist das Blatt einer Paranuss», sagt Lack und hält inne, als wolle er die Wirkung seiner Worte nicht verpassen. «Wir kennen heute die Paranuss nur deshalb, weil Humboldt sie beschrieben hat.»

Keine Pflanze, kein Berg, kein Fluss war vor Humboldt sicher
Er sagt es, und für einen Moment spürt man so etwas wie Ehrfurcht. Vor einem Originalblatt, das einst Humboldt in seinen Händen hielt, das so lebendig aussieht mit seinen unzähligen feinen Äderchen. Es passt so gar nicht zur neonlichtgetränkten Umgebung. Der Blick auf die akkurat beschrifteten Akten beißt sich mit all den Bildern, die man im Kopf hat, von Humboldt, wie er sich durch den Dschungel kämpft, von Indianern, die ihm den Weg weisen, vom saftigen Grün der Tropen. Es ist, als ob sich der Geist auf einmal seiner Abenteuer und Träume entledigt. Humboldt ist in diesem Augenblick, in diesem Bunker, nah und fern zugleich.
Fünf Jahre lang war er in den spanischen Kolonien in Süd- und Mittelamerika unterwegs; in dieser Zeit sammelte er 6000 Pflanzen, von denen mehr als die Hälfte bis dato in Europa völlig unbekannt gewesen waren. Der junge Humboldt hatte den Ehrgeiz, das Zusammenwirken aller Naturkräfte zu verstehen. Das ließ ihn jede Pflanze mitnehmen, jeden Berg vermessen, jeden Fluss erkunden, der auf seinem Weg lag. Und in Bonpland hatte er hierfür einen mutigen und treuen Begleiter gefunden.
Am 16. Juli 1799 erreichen die beiden den Hafen von Cumaná im heutigen Venezuela, damals Neugranada, es ist der Start der abenteuerlichen Expedition, die sie über reißende Flüsse, durch bedrohliche Urwälder, in endlos tiefe Höhlen und auf hohe Vulkane führen wird. Außer Venezuela reisen sie durch Kolumbien, Ecuador, Peru, Mexiko und Kuba und dringen in abgelegene Gebiete vor, die Weiße nie zuvor betreten haben.
So erforschen sie etwa die Steppen im Landesinneren Venezuelas, die Llanos, wo die Sonne senkrecht steht und die Grasebenen zum Glühen bringt. Und sie befahren, gepeinigt von Insekten, mit einem Boot den Orinoco, an dessen Ufern gefährliche Raubtiere lauern, Jaguare, Krokodile, Schlangen. Beide erkranken schwer an hohem Fieber, Bonpland schwebt sogar wochenlang in Lebensgefahr. Trotz der Strapazen raffen sich Humboldt und Bonpland immer wieder auf und setzen ihre Arbeit fort.

«Manchmal lag Humboldt total daneben»
Tagsüber erkunden sie das Gelände, sie beobachten, vermessen, notieren; vor allem aber sammeln sie Pflanzen, die sie im Feldbuch durchnummerieren und akribisch beschreiben. Kein anderer Botaniker jener Zeit arbeitet so ausführlich und detailliert wie Humboldt und Bonpland. Abends legen sie ihre Fundstücke zum Trocknen in Papier ein. Es ist eine schwierige Arbeit, denn die feuchtwarme Luft der Tropen durchdringt alles, das Seidenpapier, die Pflanzenpresse, die Botanisiertrommel.
Das Feldbuch ist erhalten geblieben, es liegt heute in Paris, in einer Kopie davon blättert gerade Professor Lack. Die Einträge beginnen bei «1» und enden bei «4528». Lack sagt: «Daniel Kehlmanns Humboldt-Buch müsste eigentlich ‹Die Nummerierung der Welt› heißen.» Die Seiten des Feldbuchs sind mal von Humboldt, öfter noch von Bonpland beschrieben, in kleiner Handschrift und trotzdem lesbar. Humboldts Zeilen verlaufen etwas schief, von links unten nach rechts oben; Bonplands Schrift ist sauberer, klarer. Nichts weist darauf hin, unter welchen Umständen die Einträge entstanden sind – als hätten Humboldt und Bonpland am heimischen Schreibtisch gesessen.
«Humboldt hatte ein sehr großes Ego», sagt Lack. «Sein Ziel war es, berühmt zu werden.» Um das zu erreichen, schickt Humboldt nicht nur theatralisch formulierte Briefe nach Deutschland («Lieber Freund, wenn Du diesen Brief liest, dann bin ich mit großer Wahrscheinlichkeit schon tot»). Er weiß auch, dass sein Feldbuch nichts wert ist ohne die Originalpflanzen. Also kümmert er sich um den Abtransport. Er lässt die Objekte in seidene Umschläge packen, verstaut diese in Holzkisten und schickt sie per Segelschiff nach Europa. Es sind Tausende Exemplare, die die Heimat erreichen sollen, doch viele überstehen die lange Überfahrt nicht. Ein großer Teil fällt Schimmel, Ameisen und Termiten zum Opfer.

Ein gigantisches Archiv, auf 24 Kellerräume verteilt
Der Rest wird nach Berlin gebracht, zum Botaniker und Humboldt-Freund Carl Ludwig Willdenow, der die Pflanzen katalogisiert. Nach dessen frühem Tod führt Willdenows Schüler Karl Sigismund Kunth die Arbeit fort, hauptsächlich von Paris aus. Nur mit Glück übersteht die Berliner Humboldt-Sammlung den Zweiten Weltkrieg. Als das Museum 1943 von Bomben getroffen wird und vier Millionen Belege verbrennen, befinden sich Humboldts Fundstücke bereits in einem Banksafe. Später versteckt man sie in einem Kalibergwerk in Thüringen. Nach dem Krieg werden die Pflanzen noch einmal gerettet: Die Russen haben sie bereits in einen Eisenbahnwaggon verladen, als sie sich in letzter Sekunde auf ein Tauschgeschäft einlassen.
Seitdem ruht Humboldts Schatz also hier im Berliner Botanischen Museum und ist Teil des Herbariums, das aus 3,5 Millionen gepressten und getrockneten Objekten besteht. Blütenpflanzen, Algen, Pilze, Flechten, Moose und Farne – es ist ein gigantisches Archiv, auf 24 Kellerräume verteilt. Die Gewächse werden standardmäßig gepresst, getrocknet und gelagert.
Es gibt Sondersammlungen, die Nasspräparate zum Beispiel, in Alkohol eingelegte fleischige Früchte und Knollen. Oder die Zapfen- und Holzsammlung. Oder die pflanzlichen Überreste aus ägyptischen Gräbern. «Das alles ist Arbeitsmaterial», sagt Lack. «Auch Humboldts Pflanzen sind keine Reliquien.» Aus der ganzen Welt kommen Anfragen von Wissenschaftlern, die Humboldts Belege sehen wollen, vor allem aus Südamerika. Gefragt sind speziell die Typusbelege. Wer etwa über die südamerikanische Flora forscht, muss in der Regel auf Humboldts Originale zurückgreifen.

«Heute wäre wohl Bonpland der große Star»
Weil man aber nicht allen Interessenten Zutritt in den NK2 gewähren kann, wurden in den vergangenen Monaten alle 3360 Belege inklusive der Originaletiketten eingescannt und mit den wichtigsten Informationen wie Name, Fundort und Funddatum versehen. So können Botaniker aus aller Welt seit Kurzem digital an Humboldts Pflanzen forschen. Per E-Mail bekommen sie die Belege geschickt, die alle mit Längen- und Farbstandards versehen sind. Zu verdanken haben sie dies einem Mann namens Ludwig Martins, Biologen und wissenschaftlichem Mitarbeiter bei Professor Lack.
Es war eine mühsame Arbeit, bei der Martins Erstaunliches festgestellt hat. «Humboldt lag bei der Bestimmung von Pflanzen manchmal total daneben», sagt er. Und schlampig sei er gewesen. Da wurden mal zehn Nummern im Feldbuch doppelt vergeben, mal einfach 700 Nummern übersprungen. Manche Fundstücke sind bis heute nicht identifiziert, wie etwa Nummer 208. Martins hat sie gekennzeichnet mit dem lateinischen Wort «indeterminatum», zu Deutsch: unbestimmt.
Ist Humboldt als Botaniker etwa überschätzt? «Nun», sagt Professor Lack, schnürt den Pappordner wieder zu und legt ihn zurück ins Regal. Er löscht das Licht, schließt NK2 ab und sagt diesen Satz so leise, als wolle er vermeiden, dass ihn jemand hört: «Heute wäre wohl Bonpland der große Star.»

Von Jan Keith

Der Text ist entnommen aus:
http://www.spiegel.de