Das liest man in Deutschland
Liebe auf der Flucht
Claus Stephani erzählt in «Blumenkind» vom Schicksal einer jüdischen Mutter und ihrer Tochter in den Karpaten der 1930er und 1940er Jahre.
«Ein Blumenkind ist ein Liebeskind. Und ein Liebeskind ist ein Kind, das aus einer Liebesbeziehung geboren wird. Die Rumänen nennen ein solches Kind ‹copil din flori›, eben Blumenkind. Diese poetische Bezeichnung rührt wohl daher, heißt es, dass solche Kinder oft im Sommer auf einer Wiese mit Blumen gezeugt werden. Ob das nun richtig ist, darüber gehen die Meinungen selbstverständlich auseinander. Denn das Ambiente der Blumenwiese allein tut es noch nicht. Und auch nicht die Jahreszeit und das warmherzige Wetter.»
Mit diesen Worten eröffnet der Erzähler den Debütroman des deutsch-rumänischen Ethnologen und Schriftstellers Claus Stephani. Dabei beruht, so der Erzähler weiter, die im Buch geschilderte «wildi Lieb», die ungewöhnliche Liebesbeziehung, auf wahren Begebenheiten. Doch die in der «Vorbemerkung» erwähnte «wilde Liebe» ist nur eines von vielen Themen, die der 1938 geborene und seit 1990 in Deutschland lebende Autor in Blumenkind aufgreift und verarbeitet. Betrachtet man die lange Liste an belletristischen und wissenschaftlichen Werken, die der passionierte Sammler und Publizist ostjüdischer Märchen und Lebensberichte bisher veröffentlicht hat, so darf man vielleicht so weit gehen und davon sprechen, dass sein Erstlingsroman die Quintessenz seines bisherigen literarischen, ethnologischen und historiografischen Schaffens darstellt. Schließlich ist es ihm möglich gewesen, für Blumenkind aus einem großen Wissensschatz zur südosteuropäischen Geschichte, den Beziehungen der verschiedenen Ethnien und Glaubensgemeinschaften zueinander, deren Sprachen und Dialekten und schließlich zu den diversen Mythen, Legenden und Märchen, die dort mündlich tradiert werden, zu schöpfen. Der Roman wirkt dadurch derart dicht komponiert und plastisch gestaltet, dass der Leser den Eindruck gewinnt, selbst an dem Geschehen teilzuhaben und in jene Zeit eingesogen zu werden.
Doch worum geht es? Am Beispiel des in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesiedelten Lebensweges der aus der Südbukowina stammenden Protagonistin, der Jüdin Beila, ihrer frühen Ehe mit dem in der Moldau geborenen Jacob Aaron Altmann, der Geburt ihrer Tochter Maria Esther, eines Blumenkindes, der ständigen Flucht vor abergläubischen Nachbarn, nicht immer christlich handelnden Priestern und den erstarkenden Faschisten in den 1920er bis 1940er Jahren stellt der Autor eine ganze Reihe heikler Ereignisse in der rumänisch-karpatischen Geschichte in dieser Epoche vor: Es geht um das friedliche Miteinander verschiedener Völker und Glaubensrichtungen, aber auch um Klischees und Vorurteile gegenüber Juden, Roma und Sinti, die in der Zwischenkriegszeit mehr und mehr unter den nationalistischen Bewegungen von Rumänen, aber auch unter den von der NS-Bewegung in Deutschland dominierten, in Siebenbürgen und in den Karpaten lebenden Volksdeutschen leiden.
Beila ist eine junge Frau, die in vielen Punkten eine Außenseiterin darstellt: Sie ist jüdischen Glaubens und damit Zielscheibe des anfangs noch eher religiös geprägten Antisemitismus. Sie ist rothaarig und läuft beständig Gefahr, von ihren an alte Mythen und Legenden glaubenden christlichen Nachbarn als Hexe diskriminiert und verfolgt zu werden. Schließlich weigert sie sich, nach dem Tod ihres Ehemannes wieder zu heiraten. Stattdessen entscheidet sie, ein uneheliches Kind zu bekommen, und nimmt in Kauf, große Opfer dafür zu bringen. Ihr zukünftiges Leben wird dann auch gekennzeichnet sein von Flucht und Verzicht, Anpassung und Leugnung.
Claus Stephani flicht das Schicksal seiner Protagonistin in eine Welt ein, die heute so gut wie nicht mehr existiert. Auf ihrer unfreiwilligen und ruhelosen Wanderung begegnet Beila allen Arten von Menschen, die in dieser Zeit noch einen Teil der Völker des Balkans ausgemacht haben, so etwa den «Zipsern», einem kleinen Volk am Rande der rumänischen Waldkarpaten. Der Autor lässt ferner die auftretenden Figuren, die Bauern und Kleinhändler, Priester und Rabbiner, Lehrerinnen und Wahrsagerinnen, jeweils ihre eigene Sprache beziehungsweise ihren Dialekt sprechen: Rumänisch und Ungarisch, Deutsch und Jiddisch kommen im Roman vor. Ihre Aussprüche oder bestimmte Fremdwörter werden dabei übersetzt und erklärt.
Auffällig in Blumenkind ist die wiederholte Gleichsetzung von Wölfen und Menschen, von grausamen Menschen, später insbesondere von Faschisten und Nationalsozialisten mit jenen Tieren, die beide das «böse Prinzip» im Roman repräsentieren. Sie stellen eine permanente Gefahr in erster Linie für die jüdische Bevölkerung dar, was als Hinweis auf die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg gedeutet werden kann: «Da erinnerte sich Beila, was einmal Rabbi Mendel gesagt hatte, als sie und Jacob mit ihm über die Bedrohung sprachen, die jeden Winter aus den dunklen Wäldern kommt. Er zitierte damals die Worte eines anderen Rabbiners, um nicht selbst argumentieren zu müssen. Und so sagte er, dass ‹das Gesicht des Zeitalters bald dem Gesicht eines Wolfes gleichen wird, und die Wahrheit wird vermisst werden...› Das sollte einst der weise Rabbi Jehuda gesagt haben, als er sich auf das Weltende bezog, wenn der Messias sich ankündigt.»
Es sind dann diese «zwei Arten von Wölfen», die Beila immer wieder Angst und das Leben schwer machen. Und während ihres allmählich zu Ende geht, richtet sich der Fokus mehr und mehr auf ihre Tochter Maria, der sie genauso wie den anderen in ihrer Umgebung lange Zeit die Unwahrheit sagt, wenn sie ihnen erklärt, dass beide, Mutter und Kind, deutsch und katholisch seien. Dabei hilft Beila diese Notlüge, um beide vor dem Holocaust zu bewahren. Doch die Kriegsereignisse lassen kein Pausieren und Aufatmen zu. Und so wird in der Folge auch Maria zum Flüchtling. Sie zieht ebenfalls immer wieder und weiter in den Westen, bis sie nach dem Krieg in Süddeutschland einen amerikanischen Soldaten kennenlernt und entscheidet, mit ihm (noch weiter) fort zu gehen. Ihr kleiner Sohn Andreas, den sie noch als junges Mädchen bekommen hat und der selbst ein Blumenkind ist, bleibt bei einer Bekannten aus Siebenbürgen zurück.
In mehreren Kapiteln eingeschoben in die Geschichte der beiden jüdischen Frauen wird die Reise einer Deutschen namens Mary Fleming, die Jahrzehnte später, im Sommer 1965, in die Karpaten fährt, um Überlebende des Krieges nach dem Verbleib ihrer eigenen Familie zu befragen. So traurig die gesamte Unternehmung schließlich auch ausfällt, die junge Frau kehrt dennoch auch glücklich heim, lernt sie doch dort einen jungen Mann namens Ambros kennen, in den sie sich verliebt und mit dem sie zusammenleben möchte.
Dabei ist der Kalte Krieg gerade in seiner Hochphase. Allerdings sind Touristen aus dem Westen wie Mary gern gesehen, bringen sie doch Devisen ins Land. Unter ihnen sind nur noch wenige Nachfahren von ehemaligen Bewohnern der Region, die hierher kommen, um Auskünfte über ihre vermissten Verwandten einzuholen. Und nur einige wenige Einheimische sind bereit, ihnen Fragen über die Geschehnisse in der Kriegszeit zu beantworten. Was Mary wie die anderen empfängt, sind verwaiste, zerstörte oder verschwundene Häuser, vor allem aber eine große Stille und Leere, die sie nicht mehr loslassen: «Es ist wie beim Vogel Schmerz, dem unsichtbaren Wesen. Er fliegt durch viele Mythen der Karpaten. Man hört seinen seltsamen Schrei, man spürt den Schmerz und kann dann diesen Schrei nicht mehr vergessen. Man trägt ihn in sich ein Leben lang. Und die Erinnerung begleitet einen weiterhin auf allen Wegen, auch wenn sie sich manchmal langsam verändert.»
Von Behrang Samsami
Claus Stephani: Blumenkind. Roman. München: Schirmer/Mosel Verlag, 2009.
Der Text ist entnommen aus:
http://www.literaturkritik.de