Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №10/2010

Das liest man in Deutschland

Das Mittelalter war die Ära der besoffenen Schläger

Eine Schatzkammer der Alltagsgeschichte im Mittelalter hat der Historiker Arnold Esch geöffnet. 33 000 Erzählungen berichten über das Leben in einer extrem gewaltbereiten Zeit. Als aus Kinderspielen Glücksspiele wurden, saß nicht nur das Geld, sondern auch das Messer locker1. Meist endete das tödlich.

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Bilder des Alltags ohne religiösen Hintergrund sind aus dem Mittelalter kaum überliefert. Etwas später malte Pieter Bruegel der Ältere die Bauernhochzeit um 1568. Leicht war das Leben seinerzeit jedenfalls nicht.

Das Mittelalter ist unsere liebste Epoche. Ritterspiele und zünftiges Handwerkerleben werden vor Burgkulissen nachgespielt, die Leben von Klosterbrüdern und Kathedralenerbauern nach den Vorbildern von Umberto Ecos Der Name der Rose und Ken Folletts Die Säulen der Erde erzählt. Und die einschlägigen Historienromanzen von der Päpstin über die Äbtissin bis zur forensisch begabten «Totenleserin» liefern auch noch die weibliche Version.
Wie viel solche Kostümfilmprosa mit der Wirklichkeit zu tun hat, lässt sich natürlich schwerlich sagen, weil wir vor allem die offizielle Seite des Mittelalters kennen. Das, was man für wichtig genug erachtete, um es schriftlich zu fixieren. Der Alltag der «kleinen» Leute mit seinen Sorgen, Freuden, Katastrophen zählte nicht dazu.
Zwar geben uns beispielsweise Bilder eines Pieter Bruegel2 plastische Eindrücke davon, wie es im ausgehenden Mittelalter bei einer Bauernhochzeit zugegangen sein mag, doch all die Sänger und Krakeeler, Kleinkinder und Streithähne bleiben stumm.
Fest steht: Schon im Mittelalter ging es so laut her, dass vielen Zeitgenossen der Kragen platzte. Als störend oder respektlos empfundene Gesänge wurden mit Schwertergeklirr beendet. Nächtlicher Minnegesang mit Saitenspiel und Bläserbegleitung wurde als besonders provozierend empfunden und mit harten Worten und noch härteren Schlägen geahndet.
Da berichtet ein Priester über ein Abendessen im «Haus einer ehrbaren Witwe in Posen», bei dem er, vom Lautenspiel animiert, «zu tanzen und in ehrbarer Weise herumzuspringen» begonnen habe. Als daraufhin der Metzger Simon «singend lächerliche, beleidigende und hässliche Dinge» gegen ihn vortrug, habe er sich, «eingedenk seines Standes» zurückgehalten und die Verteidigung dem Bäcker Johannes überlassen.
So seien die beiden aneinander geraten: «reißen sich an den Haaren, bis schließlich, nach endlos erzählter Prügelei, Simon den Johannes tötet und dafür hingerichtet wird», fasst Historiker Arnold Esch den Bericht des tanzseligen Priesters zusammen.
Der hatte ein halbes Jahrtausend lang in einem vatikanischen Archiv geruht – zusammen mit rund 33 000 ähnlichen «narrationes» – wahren Geschichten aus dem Mittelalter, in denen Menschen berichten, welche Missgeschicke ihnen widerfahren und in welche Händel sie verstrickt worden sind.
Esch hat eine Schatzkammer der Alltagsgeschichte geöffnet. Dass sie so reich gefüllt ist, hängt mit dem Recht und der Organisation der Kirche zusammen. Viele Geistliche hatten Sorgen, weil sie – oft lange vor dem Empfang der Weihen – gegen Kirchenrecht verstoßen hatten.
Wer etwa an der Verletzung oder gar am Tod eines Menschen schuldig oder mitschuldig geworden war, galt als ungeeignet zur Ausübung des Priesteramtes. Karriere und Pfründe waren gefährdet, wenn ihm keine Absolution3, kein einmaliger Dispens oder keine generelle Lizenz erteilt wurde.
Auch weniger dramatische Verfehlungen bedurften der Absolution: «Körperverletzung, Verlassen oder Wechsel des Klosters, unrechtmäßiger Erwerb eines kirchlichen Amtes, Zölibatsvergehen, Lockerung der Fastenvorschriften». Zuständig war die römische «Sacra Poenitentiaria Apostolica», das oberste päpstliche Buß- und Gnadenamt, an das sich Kleriker wie Laien mit ihren Bittgesuchen wenden konnten.
Was dann erst einmal im Pönitenziarregister gelandet war, hat hinter den dicken Mauern des Vatikans Krieg und Zeitenwandel, Reformation und Säkularisierung überdauert und so die Geschichten zahlloser Menschen überliefert, die in die schlimmsten Dinge verstrickt worden waren.
Auch wenn mancher Sünder seine Geschichte naturgemäß beschönigt und seine Schuld verharmlost haben mag, bezeichnet Esch die Pönitenziarie als ein «Tribunal des Gewissens», denn dem wahren Gläubigen drohte ja mehr als lediglich ein weltliches Gericht.
Doch egal ob nun echte Gewissensqualen und Schuldbewusstsein im Spiel waren oder nur Befürchtungen, dass alles eines Tages dann doch herauskommen würde – hier wurden mittelalterliche Szenen festgehalten, die uns sonst entgangen wären. «Die Überlieferungschance des kleinen Mannes liegt in seiner Schuld», konstatiert Esch.
Diese Chance lag damals buchstäblich auf der Straße. Kleinen Kindern konnten dort noch kleinere entgleiten und sich den Kopf aufschlagen. Harmlose Spiele endeten tödlich, und wenn aus den Kinderspielen Glücksspiele geworden waren, saß nicht nur das Geld, sondern auch das Messer locker.
An Pilgerwegen nach Rom lauerten «Pilgerräuber» und deutsche Gastwirte. Wer seine Hände nicht in Notwehr gegen die Ersteren befleckt hatte, machte sie sich vielleicht im Streit um die Weinrechnung blutig. Höhepunkt ihrer Romreise wurde für zwei deutsche Kleriker eine Schlägerei auf dem Petersplatz. Anlass war der Streit, wo die Heilige Margareta bestattet worden sei – erzählt wird aus Sicht des Überlebenden.
Woher kam diese Gewaltbereitschaft? Gewalt- und Bedrohungserfahrungen waren im Mittelalter omnipräsent4. Schweine und Bären machten sich über unbeaufsichtigte Säuglinge her. Dorfteiche, Flüsse, Brücken und Mühlsteine bargen tödliche Gefahren.
Vor Alter, Krankheit schützten keine Renten- und Krankenversicherungen. Vor Dieben und Räubern, Betrug und Beleidigungen musste man sich selbst schützen. Das scheint eine Art Streetfighter5-Mentalität hervorgebracht zu haben.
Waffen waren schnell zur Hand. Da hantiert ein Geistlicher mit einer «Pistiole», ein anderer richtet eine «kleine Bombarde» auf einen Vogel. In beiden Fällen fallen Menschen der neuen Technik zum Opfer. Aus den Akten hat Esch auch einen «Wortschatz der Trunkenheit» destilliert.
Die Wirkung des Alkohols auf die Promillesünder reichte von «ebrius» (betrunken) über «cervisia suffusus» (bierdurchtränkt), «profusus» (bespült), «gravatus» (beschwert), «offuscatus» (benebelt), «devictus» (total übermannt) und «quasi demens» (fast verblödet) bis zu «mentis sue non compos» (seiner Sinne nicht mächtig). Ursache solcher sinnlosen Besoffenheit trug das «ad equales haustus bibere», das «Trinken in gleichen Zügen». Nur der Begriff des Komasaufens ist neu, das Phänomen nicht.

Von Ulrich Baron

Arnold Esch: Wahre Geschichten aus dem Mittelalter. München: H. Beck, 2010.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.welt.de



1 lo|cker <Adj.> hier: nicht [mehr] fest sitzend, mit etw. verbunden: ein -er, l. sitzender Zahn; die Schraube ist l. geworden, sitzt l.; Ü der Revolver sitzt ihm l. (er ist schnell bereit, den Revolver zu ziehen); das Geld sitzt ihr l. (sie gibt viel Geld aus).

2 Bruegel [(Breugel, Brueghel) Pieter, d. Ä., gen. der «Bauern-B.», * Breda (?) zw. 1525 und 1530, † Brüssel 5. 9. 1569. 1551 Meister in Antwerpen, 1552/53 Italienreise; 1563 siedelte er nach Brüssel über. Seine Werke können dem Manierismus zugerechnet werden. Seine Landschaften mit Staffage, bibl. Szenen, Szenen aus dem Bauernleben, Monatsbilder, Genreszenen u. a. sind oft mit hintergründiger Bedeutung befrachtet.

3 Ab|so|lu|ti|on, die; -, -en [lat. absolutio = das Freisprechen (vor Gericht), zu: absolvere, absolvieren] (kath. Kirche): Vergebung von Sünden nach der Beichte: die A. erhalten; jmdm. [die] A. erteilen.

4 om|ni|prä|sent <Adj.> (bildungsspr.): allgegenwärtig: die Vergangenheit ist o.

5 Street|figh|ter, der: (politisch meist radikal orientierter) Jugendlicher, der sich Straßenkämpfe mit der Polizei, mit politisch anders orientierten Gruppen u. a. liefert.