Wissenschaft und Technik
Ökosysteme können ohne Warnzeichen kollabieren
Die Ökosysteme der Erde wandeln sich meist in gemächlichem Tempo – bis ein Kipp-Punkt erreicht ist, ab dem die Veränderungen unaufhaltsam und dramatisch schnell ablaufen. Jetzt kommt eine Studie zu dem Ergebnis, dass dies ohne Vorwarnung geschehen kann.
Bei allen Warnungen vor einem gefährlichen Klimawandel schien wenigstens auf eines Verlass: Gefährliche Änderungen würden sich ankündigen. Doch das ist ein Irrtum, wie eine neue Studie zeigt. Als ungute Vorzeichen für einen gefährlichen Klimawandel gelten diverse Beobachtungen: In der Arktis schmilzt das Eis, Pflanzen blühen früher, die Meere schwellen an. Die größten Klima-Gefahren jedoch könnten ohne Vorwarnung eintreten, berichten Forscher in einer neuen Studie.
Als gefährlichste Wendepunkte des Klimas gelten sogenannte Kipp-Punkte: Ganze Ökosysteme könnten unwiderruflich zusammenbrechen und sich in kürzester Zeit radikal verändern. Das geschah beispielsweise während der jüngsten Eiszeit, als die Welt alle 1470 Jahre von Wärmeschocks heimgesucht wurde – das Klima erwärmte sich binnen weniger Jahrzehnte um etwa acht Grad.
Vermutlich haben damals Schwankungen der Sonnenaktivität das Kippen des Klimas ausgelöst, sie ließen Gletscher regelmäßig tauen. Das Schmelzwasser veränderte Meeresströmungen, eine klimatische Kettenreaktion wurde in Gang gesetzt. Nach der Eiszeit verpuffte der Effekt, denn die Gletscher waren geschrumpft.
Andere Kipp-Punkte des Klimas aber können ohne Vorwarnung kommen, schreiben Alan Hastings und Derin Wysham von der University of California jetzt im Fachblatt «Ecology Letters». Die Ökologen haben Umweltveränderungen am Computer simuliert, etwa den Fischbestand im Meer oder Pflanzenwuchs, da sich im Gefolge einer Klimaerwärmung die Umwelt für Tiere und Pflanzen ändert.
Nicht immer gibt es Warnzeichen
Unbedeutend erscheinende Einflüsse wie langsam steigende Temperaturen können zuweilen unwiderrufliche Kettenreaktionen auslösen: Mit zunehmender Erwärmung verstärken sich die Extreme, etwa Höchst- und Tiefsttemperaturen. Die Bandbreite werde immer größer, schreiben Hastings und Wysham. Eine mögliche Folge: Die Umweltbedingungen schwanken so sehr, dass manche Ökosysteme jederzeit in einen neuen Zustand kippen können, in dem Tiere und Pflanzen plötzlich aussterben.
Manche Ökosysteme gäben keine Vorwarnung, wenn sie nahe des Kollapses seien, warnen die Autoren der neuen Studie. Welche Ökosysteme betroffen sind, lassen die Forscher offen. Ihre Modelle hätten lediglich gezeigt, dass die Natur nicht immer Warnung gebe, wenn sie vor einschneidenden Veränderungen stehe. «Erst wenn das Drama passiert ist, wird es offensichtlich», sagt Hastings.
Mehrere Ökosysteme von globaler Bedeutung könnten von Kipp-Punkten bedroht sein, berichteten Klimaforscher um Elmar Kriegler vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) vergangenes Jahr in einer Studie im Fachblatt «Proceedings of the National Academy of Sciences»: Die Eispanzer von Grönland und der Westantarktis etwa könnten kollabieren und mit ihrem Schmelzwasser die Ozeane meterhoch anschwellen lassen. Auch der Amazonas-Regenwald, der Golfstrom und das Klima rund um den Pazifik könnten binnen weniger Jahre in einen vollkommen anderen Zustand kippen – so die Theorie.
Rätselraten um die Grenze zum Kipp-Punkt
Das Wissen über die plötzlichen Zusammenbrüche ist allerdings gering. Wo liegt die Grenze, ab der gefährliche Störungen unwiderruflich sind? Auch Computer-Simulationen geben darauf keine Antwort. Sie seien kaum in der Lage, das Kippen des Klimas darzustellen, betont Timothy Lenton von der University of East Anglia in Großbritannien. Kipp-Punkte sind ein prinzipielles Problem für die Rechner, das zeigt der Vergleich mit einem kenternden Kanu: Die Modelle können den Zeitpunkt des Kenterns nicht ermitteln, sondern lediglich die Neigung des Bootes, wenn sich die Insassen auf eine Seite lehnen.
«Auf der Suche nach den Kipp-Punkten der Erde stehen wir noch ziemlich am Anfang», resümiert PIK-Forscher Elmar Kriegler. Auch andere fragile Ökosysteme wie das Meereis der Arktis, Erdgas-Reservoire im Permafrost-Boden oder der Indische Monsun verfügten womöglich über Kipp-Punkte. Manche dieser Prozesse könnten die Erwärmung auch bremsen, etwa indem sich verstärkt Wolken bilden, die das Sonnenlicht ins All reflektieren. Solche «negativen Rückkopplungen», räumt Nasa-Klimaforscher Gavin Schmidt ein, seien indes schlechter erforscht als die gefährlichen Klimaumschwünge.
Von Axel Bojanowski
Der Text ist entnommen aus:
http://www.spiegel.de