Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №12/2010

Das liest man in Deutschland

Sinnlichkeit durch Analyse

Alexander Kluge publiziert seine gesammelten Liebesgeschichten

Unter den Gefühlen gilt wohl die Liebe als das subjektivste. Kulturwissenschaftler mögen redlich ackern und Belege für historische Liebesdiskurse und die gesellschaftliche Bedingtheit verschiedener Arten zu lieben anhäufen: Wenn mir genau die eine Person über den Weg läuft, die ich liebe, vergesse ich zwar mein historisches Wissen nicht, aber fürs Verhalten und die Selbstkontrolle verliert es doch sehr an Bedeutung.
Das kann schön sein, ist jedenfalls bedrohlich und darum etwas, mit dem umzugehen gelernt werden muss. Wenn es nichts nützt, die Subjektivität als übliche und historisch erklärbare Verirrung beiseite zu schieben, so hilft vielleicht die Alternative, sie als produktiv anzuerkennen.
Alexander Kluges 166 Liebesgeschichten, die er unter dem Titel Das Labyrinth der zärtlichen Kraft versammelt hat, sind gleichermaßen fern von romantisierendem Gefühlskult wie von sarkastischer Distanz. Subjektivität ist gleichermaßen historisiert wie ernstgenommen: Das Gefühl wirkt als historisches – und darum umso stärker. Das wird zum einen durch die enorme geschichtliche Spannbreite der Liebesgeschichten deutlich, die vom Gilgamesch-Epos bis in die Gegenwart reichen, wobei sich deutliche Schwerpunkte ergeben. So geht Kluge ausführlich auf den Roman La Princesse de Clèves von Marie Madeleine de La Fayette ein, der 1678 einen deutlichen Schritt von der adligen Kultur der äußeren Haltung hin zur moderneren Geständniskultur markierte. Der Roman, der auch schon das Problematische des neuen Anspruchs auf Authentizität formuliert, steht für die fragwürdige Radikalität des Liebesgefühls, mithin dafür, dass Liebe und Glück völlig unterschiedliche Dinge sind, die nur im Ausnahmefall zusammentreffen. Dass viele der Geschichten im Umfeld des Zweiten Weltkriegs angesiedelt sind, einem in Europa bis heute wirksamen Ursprungsfeld von Emotion und Gewalt, verstärkt diesen Eindruck.
Liebe als historisches Phänomen, das aber nicht durch Historisierung zu erledigen ist, erscheint auch auf einer zweiten Ebene. Hier geht es um familiäre Prägung; der Gedanke, dass bei einem Ehestreit nicht nur die vier Augen der Verheirateten, sondern auch die acht Augen der Elternteile anwesend sind, zeigt zweierlei: Erstens, wie sehr Liebe mit Auseinandersetzung zusammenhängt (kaum eine der 166 Geschichten ist friedlich), und vor allem zweitens, dass die Subjektivität, um die es Kluge geht, auf keinem Subjekt beruht, das fraglos da wäre.
Im Gegenteil: Wo zwei Personen sich streiten, streiten sich mehr als zwei. «Die Imperien Franz und Gertie waren ja in sich nichts Ganzes», heißt es in einer der Geschichten. «Sie bestanden aus Fraktionen, die einander befehdeten; so konnten Teilfraktionen Franzens und Gerties fraternisieren oder streiten.»
So nüchtern-analytisch wie hier wird durchgehend erzählt. Gefühle bei Kluge werden benannt, sie zeigen sich dem durchdringenden Blick des Erzählers im Verhalten der Personen oder darin, wie sie Aktivität verweigern. Es ist ein großer Vorzug dieser Texte, dass nirgends etwas nur behauptet wird, sondern alles, was gezeigt werden soll, im Tun und Lassen der Personen anschaulich wird. Dadurch gewinnen die Geschichten eine ganz besondere Art von Sinnlichkeit: eine, die sich nicht über reiche Metaphorik, über die Schilderung von Wetterlagen oder die plastische Vorstellung nebensächlicher Details ergibt, sondern indem das Geschehen knapp umrissen ist.
Die kurze Erzählung ist denn auch das Feld des Schriftstellers Kluge; der Regisseur Kluge, von dem die beigefügte DVD neben Interviews unter anderen mit Niklas Luhmann oder Joseph Vogl auch Filmausschnitte zu Stoffen im Umkreis der Liebesthematik enthält, muss anders arbeiten. Die Filmszene verlangt eine vollständige Ausstattung mit Gegenständen, verlangt ein Zimmer oder eine Landschaft, deren Beschreibung sich der Schriftsteller sparen kann. Hat Kluge als Regisseur denn auch längere Filme gedreht, so ist er als Autor auf eine Form verwiesen, die, in einem Buch gesammelt, nicht unproblematisch ist. Unvermeidlich stellt sich die Frage, wie zu gliedern sei, damit nicht – zumal angesichts der Stoffmenge von 166 Geschichten – eine gewisse Monotonie aufkommt. Diese Schwierigkeit hat Kluge nicht bewältigt.
Zwar gibt es fünf große, eigens betitelte Teile – doch wirkt die Zuordnung der Einzeltexte keineswegs zwingend, manchmal sogar befremdlich. Ein «Annotierter Index» bietet im Anhang weitere Verknüpfungen an und zeigt damit, wie willkürlich die Geschichten häufig verteilt sind. Wahrscheinlich sollte ein Leser tun, was dem Rezensenten verwehrt ist: Hierhin oder dorthin blättern, bei Interesse weiterlesen, sonst aber woanders einen neuen Ansatz suchen.
Das möchte man öfters, denn nicht alle Geschichten sind gelungen. Man wünscht sich, Kluge hätte nicht jeden Einfall zu einem Text gemacht, sondern nur jede zweite Idee zu einem guten. Dabei sind nicht einmal alle Beiträge neu: Viele sind Kluge-Lesern schon bekannt und etwa aus der Chronik der Gefühle, aus Geschichte und Eigensinn oder Die Lücke, die der Teufel lässt übernommen, was der Autor auch dokumentiert. Doch wäre auch hier eine strengere Auswahl von Vorteil gewesen und ergibt sich manche Wiederholung.
Problem sind insbesondere die theoretischen Passagen, die das Buch auch beinhaltet. Gemeinhin erwartet man von Theorie begriffliche Präzision, von Literatur einen unmittelbareren Zugriff aufs Leben. Hier ist es umgekehrt: Die Geschichten sind präzise, und das gilt auch für die interpretierenden Dialoge, die Kluge – wie schon in früheren Büchern – in sie einfügt. Die Arbeit an der Theorie jedoch, die ohne konkretes Geschehen einsetzt, wird oft vage und ungenau. Die Begriffe schillern, man ahnt das Gemeinte und hier oder da eine Erkenntnis, die aber am Ende meist entgleitet.
Auch in dieser Hinsicht ist das Buch zu Recht als «Labyrinth» betitelt; und zwar handelt es sich um ein Labyrinth, in dem man sich umso hoffnungsloser verirrt, je methodischer man den Ausgang sucht. Wie aber verhält es sich mit der «zärtlichen Kraft», als die Kluge die Liebe bezeichnet? Tatsächlich bedeutet sein oben erwähntes Interesse für Auseinandersetzungen nicht, dass er etwa Liebe als etwas nur Destruktives hinstellte. Im Gegenteil erscheint das Problem als Voraussetzung dafür, dass sich Liebe erst entfaltet. Der Titel, unter dem Kluge im Index eine Gruppe von Geschichten zusammenfasst, lautet: «Die zärtliche Kraft braucht einen Widerstand, um sich beweisbar durchzusetzen.» Dies kann sich über eine lange Dauer vollziehen oder blitzartig an einem Punkt; beides kann ein Leben ändern oder bald darauf schon wieder unverständlich erscheinen.
Häufig ist die «zärtliche Kraft» mit Geld verknüpft – und die Prostitution, die in etlichen der Geschichten eine Rolle spielt, erscheint nur als Sonderfall eines allgemeineren Verhältnisses. Doch zieht Kluge daraus nicht die Konsequenz, Liebe sei nicht mehr möglich und das Materielle habe alles verseucht. Zwar bringt er Beispiele, wie Liebe zuletzt am Geld oder an daraus abgeleitetem Standesdenken scheitert – doch umgekehrt kann Geld auch der Widerstand sein, an dem sich die Kraft entfaltet, oder sogar das Medium, durch das sich das fürs Lieben nötige Selbstbewusstsein entwickelt.
Nur in einer Hinsicht erscheinen Liebe und Geschäft als gänzlich unvereinbar: Die Zeit in der Welt der Wirtschaft wird immer schon gemessen, werden Zeiteinheiten als Werteinheiten aufeinanderbezogen. Für die Formen der Zuwendung, die die «zärtliche Kraft» kennt, ist ein solches Verfahren einerseits offenkundig sinnlos. Die Liebe braucht die Zeit, die sie eben braucht, ob dies nun kurz oder lang ist; man kann die Liebeszeit nur schwer optimieren. Andererseits bietet die Außenwelt mit ihren Zwängen einen Widerstand, wie er eben gebraucht wird, damit sich die Kraft überhaupt entfalten kann.
In solchen Widersprüchen entfaltet Kluge seine Geschichten über die Liebe. Es ist ein Buch, das reiche Erkenntnisse verbirgt; leider manchmal mehr verbirgt, als der Sache nach notwendig gewesen wäre. Wer aber es unternimmt, in den Gängen, Kammern und selbst den Sackgassen dieses Labyrinths zu suchen, wird mit Sicherheit fündig.

Von Kai Köhler

Alexander Kluge: Das Labyrinth der zärtlichen Kraft. 166 Liebesgeschichten. Mit 1 DVD. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2009.

Der Text ist entnommen aus:
http://www.literaturkritik.de