Literatur
Helmut Sakowski
Wie ein Vogel im Schwarm
1.
Käthe Lindner war eine Frau von etwa fünfzig Jahren, unscheinbar von Äußerem wie viele andere in der Stadt, sie lebte wie ein Vogel im Schwarm. Eines Tages machte sie sich auffällig und beschäftigte sogar die Kriminalbehörde.
Die Frau verdiente ihr Geld als Putzfrau oder besser gesagt als Raumpflegerin, so hatte man die Berufsbezeichnung geändert, wohl mit der Absicht, die Tätigkeit aufzuwerten, sie blieb aber schwer wie die einer Dienstmagd in früherer Zeit. Die Frau putzte manchen Wochentag bis zu zehn Stunden, denn sie wollte aufs Geld kommen und empfand niemals als einen Makel, daß sie mit Spülicht und Kehricht hantierte, im Gegenteil, Käthe Lindner blickte nach getaner Arbeit mit Selbstgefühl auf eine ordentlich gereinigte Fläche zurück. Da sah man doch, was man gemacht hatte.
Frühmorgens, noch vor der Durchfahrt des Berlin – Warnemünders, also um vier Uhr, war die Lindner schon in eine Wolke von Staub gehüllt und fegte im Bahnhofsareal auf Steigen und Treppen den Unrat der Nacht vor sich her, Brotreste und Zigarettenkippen, zerknüllte Papiere und Fahrkarten, Schachteln und Tüten, zerbrochene Flaschen, manchmal sogar ein Präservativ. Die Reisenden vertrieben sich die Wartezeit in unterschiedlicher Manier, Käthe Lindner hatte längst aufgehört, sich darüber zu wundern, murmelte, wenn’s hoch kam, eine Schmähung, kehrte und schrubbte im übrigen wortlos Flure und Fliesen mit hundertmal geübten Griffen und verstaute erst Stunden später das Handwerkszeug in der Gerätekammer, beugte den Nacken und löste ächzend das Kopftuch, um den Staub abzuschütteln, wusch sich im Toilettenraum die Hände, blickte zum Spiegel auf, sah ihr bleiches, müdes Gesicht, fühlte sich wie gerädert und sagte: Ja, ja.
Wenn Käthe Lindner ein Weilchen nach sieben Uhr morgens ihren Arbeitsplatz verließ, traf sie gewöhnlich auf den Reichsbahnamtmann Blechschmidt. Kann sein, die Lindner wartete auf den Mann, denn er kam auf die Minute und ersparte ihr den Blick zur Uhr, außerdem war er wohlgestaltet und hübsch anzusehen in der Uniform, vor allem aber freundlich, und das war eine Wesensart, die Käthe Lindner über alles schätzte. Es gehörte zum Ritual, daß die Frau dem Amtsvorsteher bis zur halben Treppe entgegenkam, um ihn nach Abtausch des Morgengrußes in ein kleines Gespräch zu verwickeln, wobei sie auf Erfolge ihrer Arbeit hinwies, fast immer mit den Worten: Man sieht doch gleich, daß was gemacht worden ist, nicht? Dazu nickte Blechschmidt, und meistens sagte er dann: Vielen Dank, Kollegin Lindner.
Es freute die Frau stets aufs neue, wenn sich der Chef bei ihr bedankte, sie verhielt sich aber, als wäre ihr nichts daran gelegen, und schwenkte gewöhnlich abwinkend die Hand. Wofür? Wer essen will, muß arbeiten.
Blechschmidt hatte diesen Satz wohl schon hundertmal gehört, dennoch lächelte er immer wieder zustimmend und hatte einmal sogar gemeint, was sie äußere, sei nachdenkenswert, es gehe auf Konfuzius zurück, einen alten Bonzen. Da mußte die Lindner denn doch protestieren, der Spruch stamme von ihrem Vater, der beim Gleisbau gearbeitet habe, das versicherte sie dem Amtmann Blechschmidt, der darüber herzlich lachte.
Gewöhnlich kam ihr Morgengespräch über einfachen Wortwechsel nicht hinaus, Käthe Lindner beendete ihn, indem sie jaja sagte, was vieles heißen konnte: So ist das Leben, oder: Sie sind ein netter Mensch, oder: Jetzt muß ich aber gehen.
Zwischen acht und halb neun wurde sie von der Frau des Architekten Doktor Herbert Smolianski erwartet, der mit seiner Familie ein Haus in der Kastanienallee bewohnte, drei Zimmer unten, drei Zimmer oben. Käthe Lindner stand nämlich nur halbtags oder genauer ausgedrückt halbnächtlich im Solde der Deutschen Reichsbahn und ging über Tag zu den Smolianskis, feiner und kleiner als im Bahnhof die Räumlichkeiten, viel kleiner und feiner auch der Schmutz.
auf|fäl|lig <Adj.>: die Aufmerksamkeit erregend, auf sich ziehend: ein auffälliges Benehmen; -e (verdächtige) Spuren; -e (kräftige, grelle) Farben; für mich ist bei der ganzen Sache a. (mir fällt dabei auf), dass nur er zu spät kommt; sich [zu] a. kleiden; er ist a. (un-, außergewöhnlich) oft bei ihr; er ist schon mit 14 Jahren zum ersten Mal a. geworden (ist durch gesetzwidriges o. ä. Verhalten aufgefallen); <subst.:> sie vermeidet alles Auffällige.
auf|wer|ten <sw. V.; hat>: dem Wert nach verbessern, den Wert von etw. erhöhen: den Euro a.; die Renten, die Währung a.; Ü sein Ansehen, seine Stellung in der Gesellschaft wurde aufgewertet.
Spü|licht, das; -s, -e (veraltend): Wasser, mit dem Geschirr gespült worden ist od. das beim Säubern der Wohnung benutzt worden ist: das S. auf die Straße gießen; der Kaffee schmeckt ja wie S.!
Un|rat, der; -[e]s (geh.): etw., was aus Abfällen, Weggeworfenem besteht: stinkender, faulender U.; *U. wittern (Schlimmes ahnen, befürchten).
ge|rä|dert <Adj.> (ugs.): erschöpft, abgespannt, zerschlagen: nach der anstrengenden Arbeit fühle ich mich abends [wie] g.
Bon|ze, der; -n, -n: buddhistischer Mönch, Priester.
Sold, der; -[e]s, -e <Pl. selten>: 1. (veraltend) Lohn, Entgelt für Kriegsdienste: S. zahlen, auszahlen, empfangen; *in jmds. S. (geh.; in jmds. Dienst): im S. Ihrer Majestät; in jmds. S. stehen (geh.; für jmdn. arbeiten u. dafür bezahlt werden) er stand im S. mehrerer Abwehrorganisationen. 2. [monatliche] Bezahlung der Wehrdienst leistenden Soldaten.
Helmut Sakowski
(* 1. Juni 1924 in Jüterbog;
† 9. Dezember 2005 in Wesenberg), Schriftsteller, Politiker und Kulturfunktionär. Seine literarische Laufbahn und Karriere waren weitgehend mit der DDR verbunden. In seinen Romanen, Reportagen, Erzählungen, Hörspielen, Drehbüchern und Fernsehspielen stellte er Etappen der sozialistischen Entwicklung auf dem Lande dar. Nach der Wende wurde er vor allem als Kinder- und Jugendbuchautor bekannt.
Sakowski lernte auf einer Fachschule für Forstwirtschaft den Beruf des Försters und war einige Jahre Revierförster in Osterburg (Altmark). Als er mit seinen Büchern erfolgreich wurde, gab er 1961 den Försterberuf auf. Neben seiner Schriftstellertätigkeit wurde er außerdem Abgeordneter der Volkskammer, war seit 1973 Mitglied im Zentralkomitee der SED, Mitglied der Deutschen Akademie der Künste und von 1972 bis 1974 Vizepräsident des Kulturbundes der DDR.
Im Jahr 2005 starb Sakowski in seinem Haus in Wesenberg nach längerem Herzleiden im Alter von 81 Jahren.
Sakowskis Werke spielen zunächst vorwiegend auf dem Lande und sind humorvoll sowie lebensecht gestaltet. Nach der Wende wandte er sich vermehrt dem Bereich der Kinder- und Jugendliteratur zu.
Zu seinen bekanntesten Büchern gehört Daniel Druskat, nach dem der gleichnamige Fernsehmehrteiler entstand und das nach der Wende mit Wendenburg und Ein Herzog in Wendenburg fortgesetzt wurde.
Auszeichnungen und Ehrungen: Nationalpreis der DDR (1959), Lessing-Preis der DDR (1963), Fritz-Reuter-Preis (1964), Nationalpreis der DDR (1965), Nationalpreis der DDR (1968), Literaturpreis des FDGB (1968), Nationalpreis der DDR (1972), DDR-Hörspielpreis (1987, 1988).
Werke: Zwei Frauen. Erzählungen (1959), Zwei Zentner Leichtigkeit. Geschichten (1970), Daniel Druskat. Roman (1976), Verflucht und geliebt. Roman (1981), Wie ein Vogel im Schwarm. Roman (1984), Die letzte Hochzeit. Lebensgeschichten (1988), Stiller Ort – Oll mochum. Novelle (1991), Die Schwäne von Klevenow. Ein Mecklenburg-Roman (1993), Schwarze Hochzeit auf Klevenow. Roman (1994), Wendenburg. Roman (1995), Ein Herzog in Wendenburg. Roman (2000), Die Geliebte des Hochmeisters. Roman (2004), Wege übers Land. Roman (2005).
Aus: Helmut Sakowski: Wie ein Vogel im Schwarm. Verlag Neues Leben, Berlin 1984. S. 5–14.