Literatur
Helmut Sakowski
Wie ein Vogel im Schwarm
(Fortsetzung aus Nr. 17/2008)
Frau Smolianski, eine Frau um fünfzig, war nicht berufstätig, was nicht heißen will, daß sie ohne Arbeit gewesen wäre. Immerhin hatte sie fünf Kinder aufgezogen. Sie empfing die Haushaltshilfe mit reichlichem Frühstück und herzlichen Begrüßungsworten, ach, da sind Sie ja, meine Gute, Putzfrauen waren rarer als Schneiderinnen, sie nahm sich sogar die Zeit, ein Weilchen mit der Lindner zu verplaudern. Dieser gefiel, daß sie sich nach einsamen Morgenstunden endlich aussprechen konnte, sie schwatzte kauend drauflos, verließ aber selten ihren bevorzugten Themenkreis, dazu gehörten die Deutsche Reichsbahn und die Überfüllung der Züge am Ende sowie am Beginn einer Woche, was anwachsende Mengen von Müll im Gefolge hatte; Richard, ihr Mann, der als Hausmeister an der Erweiterten Oberschule wirkte und von dem, was er verdiente, vieles selber verbrauchte, denn er neigte dem Bier und dem Kornbrand zu; ferner noch der Große und der Kleine, die sie mit Ungeduld daheim erwarteten, und neuerdings die Behauptung, sie komme mit dem Lohn nicht aus, obwohl Frau Smolianski das Gehalt für die Haushaltshilfe großzügig aufgestockt hatte. Wenn die Rede aufs Geld kam, zwinkerte die Hausfrau gewöhnlich vor Ungeduld mit den Augenlidern und machte sich an die Arbeit. Auch Käthe Lindner erhob sich dann ächzend, rückte Stühle, schob Sessel, lag wischend auf Knien oder reckte die Arme beim Putzen der Fenster, stöhnte und keuchte, bis sie endlich kurz nach zwölf ihr Handwerkszeug in der Besenkammer verstaute, dann knotete sie das Kopftuch auf, um das Grauhaar zu schütteln, wusch sich im Badezimmer die Hände und versuchte, während des Abschieds die Hausfrau in ein kleines Gespräch zu ziehen, indem sie auf Erfolge ihrer Arbeit hindeutete, zumeist mit dem Satz: Man sieht aber, daß was gemacht worden ist.
Das bestätigte Frau Smolianski gern. Sie bedankte sich und drückte der Putzfrau einen Geldschein in die Hand, deren Finger sie um das Papier zur Faust verschloß, ganz als fürchte sie, die Lindner würde die reichliche Zuwendung nicht annehmen wollen.
Es war in der Regel knapp über Mittag hinaus, wenn Käthe Lindner ihrer Wohnung in der Nähe des Bahnhofs entgegenhastete, denn nun warteten der Große und der Kleine, sich selbst überlassen seit Stunden in der Stube, weiß der Teufel, was sie wieder angestellt haben mochten, oft spielten sie zu laut und zu wild, und die Nachbarn beschwerten sich. Der Große und der Kleine waren zwei Hunde, einer dackelähnlich, der andere einem Spitz auf entfernte Weise verwandt, der kinderlosen Frau waren sie ans Herz gewachsen, und wenn sie gemächlichen Schrittes die Hunde an der Leine spazierenführte, was zur Mittagszeit geschah und später noch einmal in der Dämmerung, dann war es, als teile sich das Behagen der Tiere auch der Herrin mit.
Die Lindner horchte selten in sich hinein. Sie lebte und war es zufrieden. In der Frühe sah sie Züge fahren, oft waren sie überfrachtet mit Menschen, die sich dicht bei dicht in den Gängen der Eilzüge drängten, übermüdete Arbeiter oder Studenten beiderlei Geschlechts, sie wurden von einem Ende des Landes zum anderen transportiert, vom Heimatort zur Baustelle oder zur Universität und umgekehrt. Die Lindner sah, wie sie aus den Abteilen quollen, noch beim Kreischen der Räder, kaum daß die Türen aufgeschlagen waren, unzählige Gestalten, die sich dem Ausgang zuschoben, während andere, die harrend Kopf an Kopf gestanden hatten, nun wogten und um Einlaß kämpften. Und sie empfand Genugtuung, weil ihr solche Mühsal nicht aufgebürdet war und sie stehen durfte, wo sie hingehörte, auf einen Besenstiel gestützt im Bahnhof von Hohenzedlitz, einer Stadt, die irgendwo zwischen der Hauptstadt des Landes und der Küste lag. Dreimal in der Woche ging sie bei Smolianskis ein und aus. Alle bedurften ihrer, die Leute auf dem Bahnhof und die in der Kastanienallee, sie war die Mitte, in so einfachem Sinn stellte sich ihr das Gemeinwesen dar. Man darf das nicht mißverstehen, die Lindner nahm sich nicht besonders wichtig, aber sie fühlte sich geborgen und behaglich, dort, wo sie selber sich eingeordnet hatte, und die Welt schien ihr im Gleichgewicht, bis eines Tages ihre Brille zerschlagen wurde.
Der Optikermeister in der Hauptstraße hatte bedauernd mit der Zunge geschnalzt und schließlich mürrisch erklärt, die Kundin benötige Ersatzlinsen von so außerordentlichem Schliff, daß Wochen ins Land gehen würden, bis sie herangeschafft seien. Was soll man machen? So lautete eine andere von Käthe Lindner häufig zitierte Redensart, eine Anfrage, die sich selbst beantwortete und nicht mehr bedeutete als ein gesprochenes Achselzucken, also Ratlosigkeit. Sie verließ den Optikerladen unsicheren Schrittes, ohne Hilfe für die Augen, stieß sich und stolperte und war ihrer Unbeholfenheit bald so überdrüssig, daß ihr einfiel, sich nicht ins Unvermeidliche zu schicken, sondern was zu machen.
Aus: Helmut Sakowski: Wie ein Vogel im Schwarm. Verlag Neues Leben, Berlin 1984. S. 5–14.
Ge|fol|ge, das; -s, - [zu Folge]: a) Begleitung einer hochgestellten Persönlichkeit: das G. der Präsidentin; jmds. G. bilden; ein großes G. haben; im G. des Ministers waren mehrere Beamte; *im G. (Papierdt.; aufgrund): die Überschwemmungen im G. des Hurrikans; b) Trauergeleit: nur die nächsten Angehörigen und Freunde bildeten das G.
zu|nei|gen <sw. V.; hat>: einen Hang zu etw., eine Vorliebe für etw. haben, zu etw. neigen: dem Konservatismus z.; ich neige mehr dieser Ansicht zu (finde sie besser, richtiger).
auf|sto|cken <sw. V.; hat>: 1. um ein od. mehrere Stockwerke erhöhen: ein Gebäude a.; wir haben aufgestockt. 2. etw. um eine bestimmte größere Menge, Anzahl o. Ä. vermehren, erweitern: einen Etat, einen Kredit [um 10 Millionen auf 50 Millionen] a.; die Gesellschaft stockt auf (erhöht ihr Kapital).
Zu|wen|dung, die; -, -en: 1. Geld, das jmd. jmdm., einer Institution zukommen lässt, schenkt: eine einmalige Z. in Höhe von 1 000 Euro erhalten; jmdm., einem Jugendheim [finanzielle] -en machen (ihm Geld zukommen lassen, schenken). 2. <o. Pl.> freundliche, liebevolle Aufmerksamkeit, Beachtung, die jmd. jmdm. zuteilwerden lässt: was ihm vor allem fehlt, ist Z.; Kinder brauchen sehr viel Z.
ge|mäch|lich, <Adj.>: a) sich Zeit lassend; langsam u. ohne Hast: -en Schrittes daherkommen; sein Tempo war g.; b) durch ruhige Behaglichkeit gekennzeichnet: ein -es Leben führen; er blieb g. sitzen.
Be|ha|gen, das; -s (geh.): wohliges Gefühl der Zufriedenheit, stilles Vergnügen: er verzehrte den Braten mit stillem B.
Ge|nug|tu|ung, die; -, -en <Pl. selten> [15. Jh.; LÜ von lat. satisfactio]: 1. innere Befriedigung: das ist mir eine große G.; die G. haben, dass endlich etwas geschieht; G. über etw. empfinden; er vernahm die Nachricht [über ihre Niederlage] mit G. 2. (geh.) Entschädigung für ein zugefügtes Unrecht; Wiedergutmachung: der Beleidigte verlangte, erhielt G.; man sollte ihr G. geben.
Müh|sal, die; -, -e [mhd. müesal] (geh.): große Mühe, Anstrengung.