Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №6/2009

Das liest man in Deutschland

Karl Kraus aus großer Nähe

Nicht nur als bissiger Satiriker, sondern auch als geselliger Unterhalter erscheint der Autor in «Berichten von Weggefährten und Widersachern»

«Von der Parteien Hass und Gunst verzerrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte», heißt es in Friedrich Schillers Wallenstein. Cum grano salis1 gilt dieser Ausspruch auch für den Schriftsteller und Satiriker Karl Kraus: Wer sich mit den Biografien und Briefen von Max Brod, Alfred Kerr und Franz Werfel befasst, um nur einige wenige der Zeitgenossen von Kraus zu erwähnen, die ihm nicht gerade wohlgesinnt waren, gewinnt kein sehr günstiges Bild von dem bekannten und berüchtigten Wiener Publizisten. Viele waren wie die erwähnten Schriftsteller in polemische Auseinandersetzungen mit ihm verstrickt, bei denen es weder sachlich noch fair zuging. Kein Wunder, dass Ludwig Thoma in Kraus den «meist geprügelten Hund Österreichs» sah. Franz Kafka meinte dagegen, «so mauscheln2 wie Karl Kraus» könne niemand.
Wer sich jedoch in den von Friedrich Pfäfflin herausgegebenen Band Aus großer Nähe vertieft, der mehr als 300 gedruckte und unveröffentlichte Texte von Walter Benjamin bis Wittgenstein enthält, lernt Karl Kraus von einer ganz anderen Seite kennen.
Im Grunde sei der Schriftsteller Karl Kraus eine gesellige Natur gewesen, erzählen jene, die ihm nahe standen, und zitieren ihn mit der Einsicht: «Wenn man mit Menschen lachen kann, ist Sympathie und Übereinstimmung gegeben.»
Schulfreunde, frühere Mitarbeiter, Verleger, Anwälte, Musiker und Schauspieler, mit denen Kraus die Arbeit am Schreibtisch und auf dem Podium zusammenführte, und vor allem Teilnehmer nächtlicher Kaffeehaus-Runden, schildern erstaunliche Eigenschaften, die man bei dem von vielen gefürchteten Satiriker so nicht vermutet hätte.
«Mit Karl Kraus am Kaffeehaustisch zu sitzen, war ein Vergnügen. Zu seinem Kreis zu gehören, war eine Ehre», gesteht der Schriftsteller und Theatermann Heinrich Fischer, und Arnold Schönberg glaubte sogar, dass Kraus das Leben in erster Linie vom Kaffeehaustisch oder aus der Literatur kenne. Auch von anderen Freunden und Bekannten erfährt man, dass Karl Kraus Witz und Humor besaß und mitunter sehr aufgeräumt3 sein konnte, «heiter, lustig, ja sogar ausgelassen».
«Von dem Menschen, der natürliche und lebhafteste Beziehungen zu Mensch und Tier, zu Blume, Baum und Berg gehabt hat, ist meines Wissens von niemandem berichtet worden», schreibt der bekannte Verleger Kurt Wolff und bekennt an anderer Stelle, er fühle sich noch nach 50 Jahren «beschämt durch die Noblesse4, Zartheit und freundschaftliche Wärme», mit der er von Kraus behandelt worden sei. Alma Schindler, die spätere Alma Mahler-Werfel, berichtet von kleinen Episoden mit Kraus, dem Pamphletisten, und verrät, dass er großen Einfluss in Österreich und in der europäischen Welt gewonnen habe. Auch Sigismund von Radecki versichert uns, Kraus sei «unwiderstehlich» gewesen, «von strahlender Freundlichkeit». «Er war der zartfühlendste, innerlich ausgewogenste Mensch.» Berthold Viertel rühmt «seine große Freundlichkeit» und «Ritterlichkeit», die allerdings schnell in «böses Misstrauen» und «verbockte Abwehr» umschlagen konnte. Von Leopold Liegler wiederum hören wir, dass der private Karl Kraus jenseits aller Polemik spannend erzählen und geistreich wirken konnte, «lachen und fast übermütig werden; nur eines konnte er nicht: vom Rüstzeug der Logik, vom menschlichen Ernst, von sich selbst auch nur einen Augenblick absehen».
Zahlreiche Zeitzeugen kommen in dem Band zu Wort: Alban Berg, Robert Musil und Siegfried Jacobsohn sowie Klaus und Golo Mann, Willy Haas und Bertolt Brecht. Brecht – er hatte Kraus nach seiner Flucht aus Nazideutschland kurz besucht – nennt ihn respektvoll-distanziert einen «weisen Freund», während Klaus Mann 1932 seine «sehr großartige Polemik» lobt und ihn drei Jahre später einen begabten, aber unmoralischen und schlechten Menschen nennt.
Karl Rosner hingegen erinnert sich an seinen Schulkameraden Karl Kraus als einen farblosen blassen, kränklich wirkenden Buben, «der später zum bedeutenden Publizisten und zum Meister deutschen Sprachstiles» aufsteigen sollte. Nebenbei erfährt man, dass Kraus mit dem Schriftsteller Peter Altenberg eine spannungsreiche Freundschaft verband.
Natürlich ist auch von der Zeitschrift «Die Fackel» häufig die Rede, mit der Kraus seit 1899 gegen Machtstreben, Verlogenheit und Doppelzüngigkeit spöttisch und unnachsichtig zu Felde zog. Die Zeitschrift enthielt Texte von höchstem literarischem Rang und war, wie ein Anonymus einmal befand, «ein böser Spielverderber5». Für Kurt Hiller aber war es «der höchste Orden», in der «Fackel» gedruckt zu werden und Gershom Scholem war sogar der Auffassung, man sollte, wenn überhaupt, nur diese Zeitschrift lesen. Er habe oft Erstickungsanfälle vor Lachen gehabt.
Vor allem die Sprache – wie könnte es anders sein? – lag dem Sprachkritiker Karl Kraus am Herzen. Denn «in der Sprache denken heißt», laut Karl Kraus, «nun einmal, aus der Hülle zur Fülle zu kommen.»
Der Biochemiker und Schriftsteller Erwin Chargaff blieb der Sprach-Haltung von Kraus, ihrer Moralität und ihrer Verantwortung zeitlebens verbunden und besuchte nach eigenem Bekunden zwischen 1920 und 1928 jede Wiener Vorlesung seines «Lehrers Karl Kraus».
Nebenbei werden Bruchstücke der Biografie von Kraus sichtbar, die Heinrich Fischer 1936 schreiben sollte, während Werner Kraft, der sich vom Satiriker und Dichter durch «die Wahrheit seiner Satire» angesprochen fühlte, erst 1956 die erste Monografie über Kraus verfasste.
Mitunter kommt der Satiriker selbst zu Wort, zum Beispiel mit der Aussage: «Meine Angriffe sind so unpopulär, dass erst die Schurken6, die da kommen werden, mich verstehen werden.»
Zwei Frauen, die Karl Kraus besonders nahe standen, sollen zum Schluss noch kurz zitiert werden: Sidonie Nádherný und Helene Kann. Sidonie Nádherný, langjährige Vertraute von Kraus, berichtet: «Er sprudelte oft voll spitzbübischer Ausgelassenheit.» Sie erinnert sich aber auch, wie verzweifelt er einige Jahre vor seinem Tod (Kraus starb 1936) wegen Hitler war. «Er konnte es nicht mehr aushalten, was unter Hitler geschah, er sah keine Zukunft mehr, ... er sah nur noch Zerstörung und Untergang.»
Helene Kann versichert zunächst ebenfalls, dass Karl Kraus im Grunde «eine gesellige Natur» gewesen sei. «Wenn man sein Vertrauen gewonnen hatte, trug er sein Herz auf der Hand. Seine Freunde wissen von seiner Güte und Herzlichkeit und seinem echten Wohlwollen zu erzählen.» Im letzten Kapitel schildert sie einfühlsam und bewegend sein Sterben und seinen Tod.
Der Band erweist sich mit seinen fast fünfhundert Seiten als wahre Fundgrube – nicht zuletzt auch wegen seines umfangreichen Personen- und Werkregisters –, in der zu blättern und zu lesen ein ungemeines Vergnügen bereitet.

Von Ursula Homann

Friedrich Pfäfflin (Hg.): Aus großer Nähe. Karl Kraus in Berichten
von Weggefährten und Widersachern. Wallstein Verlag, Göttingen 2008.

Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de



1 cum gra|no sa|lis [lat.= mit einem Korn Salz] (bildungsspr.): mit Einschränkung, nicht ganz wörtlich zu nehmen.

2 mau|scheln <sw. V.; hat>: 1. (ugs. abwertend) a) unter der Hand in undurchsichtiger Weise Vorteile aushandeln, begünstigende Vereinbarungen treffen, Geschäfte machen: im Gemeinderat wird viel gemauschelt; b) (ugs.) beim [Karten]spiel betrügen. 2. a) Mauscheln spielen; b) beim Mauscheln das Spiel übernehmen: ich mausch[e]le!

3 auf|ge|räumt <Adj.>: gut gelaunt; in gelöster, heiterer Stimmung: er war heute besonders a.

4 No|bles|se, die; -, -n [...sn; frz. noblesse, zu: noble, nobel]: 1. (veraltet) Adel. 2. <o. Pl.> (bildungsspr.) a) noble, edle, vornehme Art; b) vornehme, elegante Erscheinung, Wirkung: die [natürliche] N. seines Auftretens.

5 Spiel|ver|der|ber, der: jmd., der durch sein Verhalten, seine Stimmung anderen die Freude an etw. nimmt: sei [doch] kein S.!

6 Schur|ke, der; -n, -n [älter auch: Schurk, Schork, H. u.; viell. verw. mit schüren; vgl. ahd. fiurscurgo = Feuerschürer] (abwertend): jmd., der Böses tut, moralisch verwerflich handelt, eine niedrige Gesinnung hat: ein gemeiner S.; dieser verdammte S.!