Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №8/2009

Literatur

Peter Schneider
Vati

Im Januar habe ich ihn gesehen. Du fragst mich, was ich erwartet habe: vielleicht ein Gefühl. Ich stand vor dem Mann mit der Windjacke, Khakihose, Khakihemd, Glatze, sieht wie jeder und niemand aus, dachte ich, und nichts. Nur die Schuhe fielen mir auf, die dicken Kreppsohlen. Zu festes, zu hartes Leder für diese Gegend, für diese Hitze, Schuhe, mit denen man über eine andere Erde geht, Tirol zum Beispiel. Und überall Hund­e, eine Meute schrecklich magerer, herrenloser Hunde, die nach meinen Waden schnappten. Keine Angst, bloß keine Angst, Angst wäre jetzt das unpassendste Gefühl. Aber auf der Hut war ich doch. Vielleicht spürte ich deswegen nichts, nicht einmal Neugier. Er wartete auf ein Zeichen, von mir sollte es ausgehen, er würde mir nicht zuvorkommen, er war stolz und gewohnt, ohne Menschen zu leben. Die Hunde kannten ihn. Ja, ich hätte auf ihn zugehen, ihn umarmen können, ich hatte mir nicht vorgenommen, es nicht zu tun. Aber ich blieb einfach stehen, sah ihn eigentlich gar nicht, nur dieses Geflimmer um sein Gesicht. Es war eine wilde Bewegung in der Luft, ich glaube, vom Staub, den die Hitze hochwirbelte. Er wußte genau, daß ich sein Sohn war, aber ich wußte nicht so genau, daß er mein Vater war. Ich hatte ihn mir größer vorgestellt, deutlicher in den Umrissen, nicht so bedeckt. Diese sinnlose Windjacke, die man in seinem Alter wohl anzieht, um sich auf der Straße nicht unangezogen zu fühlen.
Bis zu diesem Augenblick hatte ich nur Fotos von ihm gekannt. Er ähnelte diesen Fotos wie Menschen, die man zum ersten Mal sieht, ihren Fotos ähneln: man braucht immer einen Hinweis, ein Datum, eine zusätzliche Angabe. Und obwohl ich bessere Fotos von ihm besitze als die Zeitungen, die ständig angebliche Fotos von ihm druckten, war ich durch sie nicht vorbereitet. Ich identifizierte ihn als den Mann, von dem man gesagt hatte, daß er mein Vater sei, ich erkannte ihn nicht. Die Fotos ähnelten meinem Vater mehr als der Unbekannte, der vor mir stand.
Dann sah ich, daß der Mann in der Windjacke plötzlich zu zittern begann, es waren Tränen in seinen Augen. Ich bückte mich nach der Reisetasche, eigentlich nur, um ihm nicht in die Augen schauen zu müssen. Ich wollte endlich ins Haus. Dabei habe ich ihn wohl mit der Hand an der Schulter berührt, wenn auch mehr aus Versehen. Denn – ein lächerliches Detail, aber warum soll ich es auslassen – die Straße, auf der wir uns gegenüberstanden, war nicht asphaltiert. Es war eine Straße aus festgefahrenem Dreck, mit tausend
Buckeln und Löchern, und als ich mich vorbeugte, rutschte ich plötzlich nach vorn. In diesem Augenblick umarmte er mich, und ich hielt mich sekundenlang an ihm fest. Warum hätte ich ihn übrigens nicht umarmen sollen? Tausende von Söhnen haben ihre Väter umarmt, gleichgültig, was diese Väter getan haben mochten.

Gar nicht erst hinfahren, sagst du, ihn in seinem Loch dahinsiechen und verrecken lassen, wie er’s verdient! Als hätte ich mir diesen Rat nicht selber gegeben! Bis zum letzten Augenblick, bis ich die Gangway zum Flugzeug betrat, sagte ich mir: Absagen, drei Telegrammworte, und ich hab’ ihn vom Hals!
Nicht hinfahren wäre zweifellos bequemer gewesen. So bequem und hilflos wie die Behauptung, der Klapperstorch habe mich zu meiner Mutter gebracht.

Fortsetzung folgt

Aus: Peter Schneider: Vati. Erzählung.
Hermann Luchterhand Verlag GmbH & Co KG,
Darmstadt und Neuwied 1987.

 

Der Abdruck folgt dem Original von 1987 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.

Meu|te, die; -, -n <Pl. selten>: 1. (Jägerspr.) (zur Parforcejagd bzw. zur Saujagd verwendete) Gruppe von Jagdhunden. 2. (ugs.; häufig abwertend) eine größere Zahl, Gruppe von Menschen, die gemeinsam auftreten, agieren o. Ä.: eine johlende M. zog durch die Straßen.

schnap|pen <sw. V.>: 1. <hat> a) mit dem Maul, den Zähnen, dem Schnabel in rascher Bewegung zu fassen suchen: der Hund hat nach der Wurst, nach mir geschnappt; das Tier schnappte wild um sich; Ü nach Luft s. (ugs.; mit offenem Mund rasch u. mühsam atmen, nach Atem ringen); b) mit dem Maul, den Zähnen, dem Schnabel in rascher Bewegung fassen: der Hund schnappte die Wurst; Ü lass uns noch ein wenig frische Luft s. (ins Freie gehen, um an der Luft zu sein). 2. <hat> (ugs.) a) schnell ergreifen, mit raschem Zugriff festhalten [und mitnehmen, für sich behalten]: sich schnell ein Brötchen s.; sie schnappte ihre Mappe und rannte die Treppe runter; den werde ich mir noch s.!; *etw. geschnappt haben (ugs.; etw. begriffen, verstanden haben): hast du das [endlich] geschnappt?; b) zu fassen bekommen, ergreifen u. festnehmen, gefangen nehmen: die Polizei hat den Dieb geschnappt. 3. a) eine schnellende, oft mit einem klappenden, leise knallenden Geräusch verbundene Bewegung irgendwohin ausführen <ist>: der Riegel ist ins Schloss geschnappt; b) ein durch eine rasche, schnellende Bewegung entstehendes klappendes, leise knallendes Geräusch hervorbringen <hat>: er hörte die Schere nur ein paarmal s., und die Haare waren ab; *es hat [bei jmdm.] geschnappt (1. ugs.; jmds. Geduld ist zu Ende. 2. ugs.; jmd. hat sich plötzlich verliebt: bei den beiden hat es geschnappt. 3. salopp; eine Frau ist schwanger geworden: bei ihr hat es geschnappt).

[vor jmdm., etw.] auf der Hut sein: [vor jmdm., etw.] vorsichtig sein, sich in Acht nehmen; Soldatenspr., eigentl. = auf Wache im Felde außerhalb des Heerlagers stehen.

 

Peter Schneider

(*1940 in Lübeck) ist der Sohn eines Dirigenten und Komponisten. Er verbrachte seine frühe Kindheit in Königsberg und in Sachsen. Nach seinem Abitur im Jahre 1959 studierte er an den Universitäten Freiburg und München Germanistik, Geschichte und Philosophie. 1962 wechselte er zur Freien Universität Berlin. Im Laufe der Sechzigerjahre machte Schneider eine politische Radikalisierung durch, die ihn zu einem der Wortführer und Organisatoren der Berliner Studentenbewegung werden ließ. 1967 war er an der Vorbereitung des «Springer-Tribunals» beteiligt. Er war Mitglied einer «Projektgruppe Elektroindustrie», die das Ziel des Aufbaus einer proletarischen Linkspartei verfolgte und die Mobilisierung der Arbeiterschaft anstrebte. Schneider arbeitete daher zeitweise als Hilfsarbeiter in den Bosch-Werken. Später unterrichtete er an einer Privatschule und arbeitete als freier Rundfunkmitarbeiter. 1972 legte er sein 1. Staatsexamen ab. Wegen Schneiders politischer Aktivitäten verweigerte ihm 1973 der Berliner Schulsenator die Anstellung als Referendar. Diese Maßnahme wurde erst 1976 durch einen Beschluss des Berliner Verwaltungsgerichts aufgehoben.
Da er sich inzwischen eine Existenz als freier Schriftsteller aufgebaut hatte, verzichtete Schneider auf das Referendariat. Sein Roman Lenz war ab 1973 zum Kultbuch der enttäuschten Linken geworden, da es ihr Lebensgefühl nach dem Scheitern ihrer Utopie und Revolte beschrieb. Peter Schneider verfasst seitdem Romane, Erzählungen und Drehbücher, die häufig Schicksale von Angehörigen seiner Generation zum Thema haben; daneben entstanden Werke über die Situation Berlins vor und nach der Wiedervereinigung. Schneider ist auch ein bedeutender Essayist; seit seinem allmählichen Abrücken von den radikalen 68er-Positionen finden seine Beiträge auch in eher bürgerlichen Organen Verbreitung. Schneider hielt sich mehrmals als Gastdozent an der Stanford University und Princeton University in den Vereinigten Staaten auf. Er lebt in Berlin.
Peter Schneider ist Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Er erhielt u. a. 1979 ein Villa-Massimo-Stipendium und 1983 den Förderpreis für Literatur des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie. 2009 wurde er mit dem Schubart-Literaturpreis ausgezeichnet.

Werke: Ansprachen (1970), Lenz (1973), Schon bist du ein Verfassungsfeind (1975), Atempause (1977), Die Wette (1978), Messer im Kopf (1979), Die Botschaft des Pferdekopfs und andere Essais aus einem friedlichen Jahrzehnt (1981), Der Mauerspringer (1982), Totoloque (1985), Das Ende der Befangenheit? (1987), Vati (1987), Deutsche Ängste (1988), Extreme Mittellage (1990), Nicaragua – oder Die Arbeit der Ameisen am Fuße der Wahrheit (1990), Paarungen (1992), Vom Ende der Gewißheit (1994), Eduards Heimkehr (1999), Die Diktatur der Geschwindigkeit (2000), «Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen…» – Wie ein jüdischer Musiker die Nazi-Jahre überlebte (2001), Das Fest der Missverständnisse (2003), Skylla (2005), Rebellion und Wahn (2008).