Literatur
Peter Schneider
Vati
Fortsetzung aus Nr. 08/2009
Ich war auch erschöpft von der Reise und dem konspirativen Getue. Seit Monaten seine Anweisungen: einen falschen Paß besorgen, ein wasserfestes Alibi für die Zeit meiner Abwesenheit organisieren, falsche Spuren legen! Ich nahm seine Befehle als Greisenmarotte und traf dennoch meine Vorsichtsmaßnahmen: mit dem Bummelzug nach Frankfurt, erst dort einen Linienflug nach New York buchen, darauf achten, ob jemand, der mit mir im Zug saß, den gleichen Flug bucht. Von New York nach Rio, erst in Rio den Anschlußflug nach Belem bestellen, darauf achten, ob jemand, der schon im Flugzeug nach Rio saß, dasselbe tut. In Belem mit einer unter den Arm geklemmten Ausgabe der «Badischen Zeitung» die Kontaktperson auf mich aufmerksam machen, ihr notfalls, durch Wegstecken der Zeitung, zu erkennen geben, daß mir jemand folgt. In diesem Fall ein Hotelzimmer nehmen und am nächsten Tag die Rückreise antreten. Und die ganze Zeit, wie eine Wunde, die Adresse im Kopf: Rua Alguem 5555.
Überflüssige Vorkehrungen! Man überschätzt die Geheimdienste, besonders die deutschen. Hätte man meinen Namen im Notizbuch eines Terroristen gefunden, mindestens eine Telefonüberwachung wäre mir sicher gewesen. Was mich und meine Familie betrifft, wir haben in dreißig Jahren nicht einmal eine Hausdurchsuchung erlebt. Und obwohl ich jederzeit damit rechne und mich entsprechend vorsehe, weiß ich inzwischen: ich fühle mich nur beobachtet, ich bin es nicht. Nachträglich kann ich sagen, daß alle von früh an erlernten Vorsichtsmaßnahmen unnötig waren: Räuberspielchen ohne Gendarm! Ich hätte ebensogut°– mit der nötigen Voranmeldung – einen Billigflug nach Rio buchen können und ziemlich genau 1800 DM gespart.
Die Mehrausgabe hat mich später geärgert. Die Leute scheinen zu glauben, der Sohn eines prominenten Vaters schwimme in Geld. Aber ich mußte für dieses Wiedersehen, das für mich eher eine erste Begegnung war, ein ganzes Jahr sparen.
Vom Flughafen Belem im Wagen der Weinerts dann in den Norden der Stadt, auf ungepflasterten Wegen, durch endlose Reihen ebenerdiger Hütten, durch ein Gewimmel von Kindern, die nur mit Turnhose und Unterhemd bekleidet waren, und irgendwo dort, zwischen Hunden und halbnackten, dunkelhäutigen Nachbarn, der Mann in der Windjacke, Dr. rer. nat., Dr. phil.
«Schön, daß du gekommen bist», sagte er.
Kann sein, ich habe genickt. Ja, ich war erleichtert, in diesem Augenblick. Es war, wie wenn man aus einem Alptraum aufwacht, aus einem jahrzehntelangen Selbstgespräch im Park eines Irrenhauses. Plötzlich erkannte ich, daß die Gitterstäbe, die sein Gesicht zerteilten, in Wirklichkeit hinter ihm angebracht waren. Er hatte die Fenster seiner gelb gestrichenen Holzbaracke mit starken Eisenstreben gesichert, übrigens eine Schutzmaßnahme, die jeder im Viertel ergriffen hatte, der es sich leisten konnte. Ich sah die tote Palme hinter dem Dach, die armseligen, sicherlich pünktlich begossenen Kakteen vor seinem Fenster: Büropflanzen im Freien. Schließlich die Tür ohne Klinke und in Augenhöhe der winzige Spion, durch den bei uns in Freiburg alleinstehende Rentner prüfen, wer denn endlich zu ihnen will.
Ich hatte mir seine Umgebung anders vorgestellt. Nicht die elektronisch gesicherte Villa, nicht die Leibwächter und Schäferhunde, nicht die schnellen, von Chauffeuren gefahrenen Autos, bezahlt und gewartet von den berühmten mächtigen Helfern, den Geheimdiensten, Militärregierungen, der Organisation Odessa – nicht diesen Zeitungsquatsch. Was ihn vielleicht am besten geschützt hat, war die Phantasie seiner Verfolger. Das Monsterbild, das sie von ihm entwarfen, machte ihn beinahe unsichtbar. Trotzdem erschrak ich, als ich sah, wie er lebte. Rua Alguem 5555 – eine Hundehütte, in der sich ein gehetztes Tier verkroch.
Das Haus innen kahl und lächerlich sauber, ich glaube nicht, daß er sich eine Putzfrau leisten konnte. Bei dem allgegenwärtigen Staub mußte er mehrmals am Tag fegen und wischen, um die Baracke so sauber zu halten. An den Wänden selbstgerahmte Bilder, die die Gegenstände seiner Zuneigung zeigten: Hunde, Blumen, Kinder und immer wieder – mich. Ein Tisch, ein paar Stühle, ein Schrank, ein einziges, schmales Bett. Es war ein Elendsquartier mit der einzigen Besonderheit, daß es unmäßig sauber war. Als wollte es sein Besitzer vom Geruch und von der Berührung der fremden Erde um jeden Preis freihalten. Nirgendwo Flaschen, benutzte Gläser, übervolle Aschenbecher, Stapel von alten, zerlesenen Zeitungen. Nur auf dem Tisch bemerkte ich, ordentlich über die Breite der Tischplatte verteilt, Berge von Notizbüchern, von Handschriftlichem.
Aus: Peter Schneider: Vati. Erzählung.
Hermann Luchterhand Verlag GmbH & Co KG,
Darmstadt und Neuwied 1987.
Der Abdruck folgt dem Original von 1987 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.
Ge|tue, das; -s [zu tun] (ugs. abwertend): übertrieben, unecht wirkendes Verhalten; Gehabe: ein albernes, vornehmes, betriebsames G.; er macht ein G. (macht sich wichtig, spielt sich auf).
was|ser|fest <Adj.>: Wasser nicht einwirken lassend, seiner Einwirkung gegenüber beständig: eine -e Tapete, Sonnenmilch; ein -er Anstrich; die Kamera ist bis drei Meter Tiefe w.
Ma|rot|te, die; -, -n: seltsame, schrullige Eigenart, Angewohnheit: seine M. ist, nie ohne Schirm auszugehen.
Bum|mel|zug, der (ugs.): Personenzug, der an jeder Station hält.
weg|ste|cken <sw. V.; hat> (ugs.): 1. an eine andere Stelle stecken u. so vor jmdm. verbergen: steck deinen Geldbeutel, dein Geld mal wieder weg, heute bezahle ich. 2. etw. Unangenehmes, Nachteiliges hinnehmen u. verkraften: einen Schlag, einen Verlust, eine Niederlage w.; er kann eine Menge w.
Vor|keh|rung, die; -, -en <meist Pl.>: Maßnahme zum Schutz, zur Sicherung von etw.: geeignete, ausreichende -en treffen.
Te|le|fon|über|wa|chung, die: systematisches Abhören von Telefongesprächen.
vor|se|hen <st.V.; hat>: 1. <v. + sich> sich in Acht nehmen, sich hüten: sich vor etw. v.; vor ihr muss man sich v.; sieh dich vor [dass/damit du nicht hinfällst]! 2. <v. + sich> (veraltend) sich mit etw. versehen, Vorsorge tragen: sich ausreichend mit Vorräten v.
eben|er|dig <Adj.>: zu ebener Erde [liegend]: ein Haus mit -en Fenstern; e. wohnen.
Stre|be, die; -, -n: schräg nach oben verlaufende Stütze in Gestalt eines Balkens, Pfostens, einer Stange o. Ä.: starke, dicke, dünne -n; die Wand musste mit -n gestützt werden.
Spi|on, der; -s, -e: Guckloch bes. in einer Tür: durch den S. sehen.
ver|krie|chen, sich <st. V.; hat>: sich möglichst unbemerkt an einen Ort begeben, wo man geschützt, verborgen ist, nicht gestört wird: der Dachs verkriecht sich in seinen Bau; der Igel hat sich im Gebüsch verkrochen; sich unter die/der Bank, hinter einem Pfeiler v.; ich werde mich jetzt ins Bett v. (ugs.; ins Bett gehen); sie verkroch sich unter ihrer Decke; am liebsten hätte ich mich [in den hintersten Winkel] verkrochen, so habe ich mich geschämt; Ü die Sonne verkriecht sich (verschwindet) schon wieder [hinter Wolken]; du brauchst dich nicht vor ihm zu v. (kannst durchaus neben ihm bestehen).
un|mä|ßig <Adj.>: 1. nicht mäßig, maßlos: ein -er Alkoholkonsum; u. essen. 2. a) jedes normale Maß weit überschreitend: ein -es Verlangen; b) <intensivierend bei Adj.> überaus, über alle Maßen: er ist u. dick.