Literatur
Peter Schneider
Vati
Fortsetzung aus Nr. 08, 09/2009
Es waren diese Aufzeichnungen, die mich mit einer jähen Hoffnung erfüllten. Die Zeit, die er durch den Zwang, sich zu verbergen, gewann, benutzte er offenbar dazu, sich zu erklären. Irgendwo in diesen Aufzeichnungen würde ich auf eine Mitteilung stoßen, auf eine Botschaft, die nur für mich bestimmt war.
Mutter hat eigentlich nie über ihn gesprochen. «Vati», sagten mir alle, «ist in Rußland vermißt» – und nur dieser Formel, nicht eigener Erfahrung ist die Anrede zu verdanken, die ich zuweilen benutze. Als ich anfing, lesen zu lernen, kamen Briefe aus Übersee, von einem Onkel, hieß es, Briefe mit wunderschönen Briefmarken, auf denen eine blonde, engelsgleiche Frau abgebildet war. In den Briefen standen Märchen von Gauchos, Flußfahrten, Pferden und Lagerfeuern im Urwald – ich löste die Briefmarken ab und hob sie auf. Später schrieb mir der Onkel, die wunderschöne Frau auf den Briefmarken, der offenbar all meine Teilnahme gelte, sei inzwischen verstorben.
Von da an habe ich die Briefe kaum noch gelesen. Vielleicht hätte ich sie nie mehr beachtet, wenn Mutter nicht so hastig mit ihnen gewesen wäre. Am Tag, an dem sie eintrafen, waren sie auch schon verschwunden. Einmal habe ich die verkohlten Reste eines Briefes aus Übersee in der Asche des Kohleofens gefunden. Mutter sagte, sie habe im Moment kein anderes Papier zum Anfeuern gehabt.
Danach begann ich, die Briefe des Onkels abzuschreiben. Ich dachte, wenn ich sie nur oft genug läse, würden sie mir ein Geheimnis verraten, etwas Verbotenes, Unerhörtes, das ich nur enträtseln müßte. Aber sooft ich sie nachts im Bett, im Licht einer Taschenlampe, studierte, sie nach Anfangsbuchstaben und Zeilenanfängen neu zusammensetzte, sie erzählten mir nichts.
Später dann, im Gymnasium, merkte ich, daß ich das Geheimnis mit mir herumtrug wie eine Schrift auf der Stirn, die jeder außer mir selber entziffern konnte. Als wäre ich von einer jener tödlichen Krankheiten befallen, die man dem Patienten lieber verschweigt. Irgendein mir selber nicht sichtbarer Makel schien an mir zu haften – aber woran habt ihr ihn erkannt? War es ein Geruch, meine Art zu sprechen, die Kleidung, ein Zucken in meinem Gesicht? Immer wieder habe ich mich im Spiegel betrachtet, ich drehte mich um und um, ich suchte den Fehler und fand ihn nicht. Über Jahre habe ich mich gefühlt wie der Klassendepp, der zur Tafel geht und nicht merkt, daß jemand ein Präservativ auf seinem Rücken befestigt hat. Bis ich auf die lächerlich einfache Lösung stieß: der Name. Nichts weiter als und doch alles: der Name! Diese paar Familiensilben, mit denen das angeblich unbeschriebene Blatt auf die Welt flattert!
Zuerst irritierte mich der Ton, mit dem die Lehrer mich aufriefen – dieses Zögern, dieses Senken der Stimme vor den drei Silben, ganz so, als sei der gut schwäbische Familienname ganz unaussprechbar. Er schien an etwas Schreckliches, vielleicht etwas Großes, jedenfalls an etwas Unaussprechliches zu erinnern, aber woran, das erfuhr ich nicht. Seid ihr damals etwa klüger gewesen? Soviel steht fest: unser Geschichtslehrer hat uns – ich weiß nicht, ob mir oder sich selber zuliebe – den entsprechenden Geschichtsstoff unaufgefordert erspart.
Es war diese von allen geübte Rücksicht, die mich bedrängte. Für eine ungenügende Note in Biologie entschuldigte sich der Lehrer bei mir: Ich dürfe das Ergebnis keinesfalls als eine Zensur über irgendwelche Verwandten auffassen! Wenn ich die Hausaufgaben verschlampte, nannte man mich nicht faul, man sprach von «schwierigen Familienverhältnissen»: Kaum eine Rauferei, aus der mich nicht die helfende Hand eines Lehrers befreite. Was kann er dafür, hieß es dann, daß er nicht Müller heißt.
Daß ich in jedem Kampf der Verlierer blieb, lag nicht an der körperlichen Überlegenheit eines Lutz oder Werner, auch nicht an ihrer Bösartigkeit. In der Regel hatte ich sie durch Beleidigungen und Püffe so lange gereizt, bis sie mir Schläge anboten. Aber sobald es zur offenen Schlägerei kam, hinderte mich ein unbegreifliches Zögern daran, den ersten Schlag zu tun, etwas wie ein Nachdenken in den Gelenken. Wehren konnte ich mich erst, wenn ich die Faust meines Gegners im Gesicht spürte oder in seinem Schwitzkasten am Boden lag. Es beruhigte mich, wenn ich das feindliche Gewicht auf mir spürte und die Rechtecke des Parketts vor meinen Augen zu kreisen anfingen.
Aus: Peter Schneider: Vati. Erzählung.
Hermann Luchterhand Verlag GmbH & Co KG,
Darmstadt und Neuwied 1987.
Der Abdruck folgt dem Original von 1987 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.
jäh [mhd. gæhe, ahd. gahi, H. u.; die j-Form geht auf mundartl. Ausspr. des anlautenden g- zurück] <Adj.> (geh.): 1. plötzlich u. sich mit Heftigkeit vollziehend, ohne dass man darauf vorbereitet war: ein -es Ende, Erwachen; ein -er Entschluss; ein -er Windstoß; das wurde uns allen j. bewusst; er fand einen -en Tod; j. sprang er auf. 2. steil [nach unten abfallend]: ein -er Abgrund; dort ging es j. in die Tiefe.
of|fen|bar <Adv.>: dem Anschein nach, wie es scheint: sie ist o. sehr begabt; der Zug hat o. Verspätung.
ver|dan|ken <sw. V.; hat> [mhd. verdanken]: 1. jmdn., etw. (dankbar) als Urheber, Bewirker o. Ä. von etw. anerkennen; jmdm., einer Sache etw. [mit einem Gefühl der Dankbarkeit] zuschreiben; danken: jmdm. wertvolle Anregungen, sein Leben, seine Rettung v.; er weiß, dass er seinem Lehrer viel zu v. hat; wir verdanken der Sonne alles Leben; etw. jmds. Einfluss, jmds. Fürsprache, einem bestimmten Umstand zu v. (zuzuschreiben) haben; (auch iron.:) dass wir zu spät gekommen sind, haben wir dir, deinem Trödeln zu v. 2. <v. + sich> (seltener) auf etw. beruhen, zurückzuführen sein: dieses Ergebnis verdankt sich einer sorgfältigen Prüfung des Falles. 3. (schweiz., westösterr.) für etw. danken, Dank abstatten.
Über|see [aus: über See]: in präpositionalen Fügungen wie aus, in, nach, von Ü. (aus, in, nach, von Gebieten, die jenseits des Meeres, des Ozeans liegen): Touristen aus Ü.; Freunde, Verwandte in Ü. haben.
Gau|cho, der; -[s], -s [span. gaucho, wahrsch. aus einer Indianerspr.]: berittener Viehhüter der südamerikanischen Pampas.
has|tig <Adj.> [aus dem Niederd. < mniederd. hastich < mniederl. haestich]: aus Aufgeregtheit u. innerer Unruhe heraus schnell [u. mit entsprechenden Bewegungen] ausgeführt: -e Schritte, Atemzüge; seine Bewegungen wurden immer -er; h. sprechen; h. essen, trinken; h. rauchen.
Ma|kel, der; -s, - (geh.): 1. etw. (ein Fehler, Mangel o. Ä.), was für jmdn., in seinen eigenen Augen od. im Urteil anderer, als Schmach, als herabsetzend gilt: etw. als M. empfinden. 2. Fehler, fehlerhafte Beschaffenheit von etw., die etw. als unvollkommen erscheinen lässt, die seinen Wert herabsetzt: hervorragende Ware ohne jeden M.
Depp, der; -en (auch: -s), -en (auch: -e) [wohl zu tappen, also eigtl. = jmd., der «täppisch» geht u. zugreift]: a) (bes. südd., österr., schweiz. abwertend) einfältiger, ungeschickter Mensch, Tölpel, Dummkopf; b) (landsch. abwertend) geistig Behinderter.