Das liest man in Deutschland
Gewalt erzählen
Uwe Timm lässt die Toten sprechen
In Berlin, nahe dem neuen Hauptbahnhof, befindet sich der Invalidenfriedhof, der seinen Namen nicht zufällig trägt. In der Nähe eines Spitals angelegt, das der preußische König Friedrich II. für die Krüppel1 aus den von ihm begonnenen Kriegen gestiftet hat, fanden dort vor allem Soldaten ihr Grab – die Generalsdichte ist erheblich. Noch gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurden dort Opfer der Straßenkämpfe bei der Befreiung Berlins verscharrt2, bevor dann die Linie, die die Viermächtestadt in Ost und West teilte, am Gelände entlang führte.
Ein Ort der Geschichte also, und vor allem einer Geschichte der Gewalt. Uwe Timm lässt den Erzähler in seinem neuen Roman Halbschatten an einem nasskalten Novembertag über den Friedhof gehen, begleitet von einem Ortskundigen, der als «der Graue» bezeichnet wird und der alles über die erhaltenen, die verwitterten3 und sogar die verschwundenen Grabsteine zu wissen scheint. Das ist auch nötig, denn die Toten aus den Kriegen von Jahrhunderten schweigen nicht. Aus der Erde erhebt sich vielstimmig ein Bericht über die Geschehnisse. Manche Stimmen sind schon dumpf, andere noch klar; manche erzählen, was sie erlebt haben, andere kommentieren oder weisen ihre Gegner mehr oder minder grob in die Schranken; noch die Toten streiten.
Aus der Menge der Perspektiven kristallisieren sich bald zwei Stimmen heraus, die vor allem die Handlung des Romans tragen: die der Fliegerin Marga von Etzdorf, die 1933 erst 25-jährig Suizid beging, und die des Schauspielers Miller. Dieser berichtet nicht nur von der Liebe Etzdorfs zu Christian von Dahlem, einem Fliegeroffizier aus dem Ersten Weltkrieg, sondern auch von seinem eigenen Schicksal bis zu seinem Ende als Truppenunterhalter im Zweiten Weltkrieg, als ein Witz zu viel ihn in den letzten Kriegstagen das Leben kostete. Auch in diesen Handlungen geht es immer wieder um das Erzählen: Zentral für die Beziehung zwischen Etzdorf und Dahlem ist eine einzige Nacht, in der sich die beiden einander innerlich zuwandten und sich die wichtigsten Ereignisse ihres Lebens erzählten.
Die Liebesgeschichte hat einen historischen Kontext, und bis zuletzt wird nicht klar, ob Marga von Etzdorf sich aus Enttäuschung über Dahlem umbrachte oder weil sie begriff, dass sie nicht mehr für sich selber fliegen konnte, sondern die neuen Machthaber über ihr Tun verfügen würden. Dass die kleine Erzählung die große, historische zu spiegeln hat, ist mittlerweile konventionell; dass beide, wie bei Timm, nicht ohne weiteres miteinander zu verrechnen4 sind, ist die weitaus geschicktere Wendung, weil sie Fragen offen lässt.
Überdies ist das Erzählen in diesem Roman keineswegs bequem als Befreiung dargestellt; der Illusion, man müsse das Gewesene nur aussprechen und dann sei es auch bewältigt, gibt Timm keinen Raum. Das Sprechen und das Hören können zur Täuschung, auch zur Selbsttäuschung, führen – das ist die Lehre der langen Nacht, die Etzdorf und Dahlem miteinander verbringen. Zwar versäumt Timm wenig, dieses Miteinander zu poetisieren: eine exotische Umgebung in Japan, ein Vorhang, der den Raum teilt und die Personen voneinander trennt, dabei doch Intimität erlaubt; alle Lichtverhältnisse der Nacht und des Morgens. Und dennoch führt das Erzählen nicht ins Glück. Auszusprechen, was war, kann sogar das Ende möglicher Entwicklung bedeuten: denn in der Erzählung bekommt das Gewesene für immer seine feste Form. «Es war das erste Mal, dass sie jemandem ihr Leben erzählt hat», heißt es gegen Ende des Romans, «jetzt kann sie sich nur noch wiederholen. Keine Wandlung mehr.»
Nicht nur in solchen Wendungen ist dies ein kluges Buch. Auch in vielen kleinen Episoden, in der Haupthandlung wie auch in den Nebengeschichten, sind soziale Haltungen, die geschichtsprägend waren, mit großem historischen Wissen und mit Einfühlungsvermögen wiedergegeben. Das gilt für die friderizianischen und napoleonischen Kriege ebenso wie für die Verhältnisse auf dem Gut, auf dem Etzdorf ihre Kindheit verbrachte, bis hin zu düsterem Frontamüsement in der NS-Zeit und einem exemplarischen Herrenmenschen wie Reinhard Heydrich, der in mehreren Episoden auftritt und immer wieder Millers Lebensweg kreuzt. Der Roman ersetzt auch eine kleine Anthologie des frühen Fliegens: In der militärischen Variante bei den Schilderungen der Luftkämpfe Dahlems 1918 und in der zivilen, den faszinierend beschriebenen Fernflügen Etzdorfs. Timm reflektiert – in Gesprächen seines Erzählers mit dem «Grauen» – Sehen und Hören als Medien der Erinnerung. Dabei schreibt er selbst eine klare Sprache, ganz ohne metaphorische Unfälle, so dezent wie präzise, auch da, wo es um eine große Liebe, wie man sie heute kaum mehr glauben mag, geht.
Woran also liegt es, wenn man das Buch dennoch ein wenig unzufrieden aus der Hand legt? Zum einen daran, dass es Timm dem Leser zu einfach macht. Das vielstimmige Gemurmel auf dem Friedhof wird allzu schnell erklärt, stets ist der «Graue» mit seinem Wissen und einer historischen Einordnung zur Hand. Es wäre eine reizvolle Aufgabe gewesen, sich in und zwischen den Zeitschichten zu orientieren, selbst abzuschätzen, woher die Stimmen kommen. So aber herrscht, hat man nach einigen Seiten das Grundmuster verstanden, fast zu viel Ordnung in dem Buch.
Das immerhin erlaubt zwar die Vermittlung einer Fülle von höchst interessantem geschichtlichem Stoff, doch ersetzt der Stoff noch kein Geschichtsbild; das ist der andere Grund, aus dem der Roman seinen Leser etwas ratlos zurücklässt. «Keine direkte Traditionslinie, das wären Vereinfachungen, nein, so schlicht nicht», heißt es zu der Frage, in welcher geschichtlichen Beziehung Friedrich II. zu Heydrich steht. «Mich interessiert, wie Gewalt sich äußert, sagt der Graue, wie die Gewalt ihre Legitimation findet, wie sie darstellbar wird.» Das könnte auch Programm des Romans sein – indessen nehmen Nazis und Zweiter Weltkrieg derart viel Raum ein, dass die früheren Jahrhunderte an den Rand gedrängt werden. Dadurch einer eigenständigen Bedeutung beraubt, wirken doch wieder nur wie die Vorgeschichte des deutschen Faschismus, die sie gerade nicht sein sollen.
So bleibt ein zwiespältiger Eindruck zurück. Dem Roman, so faszinierend er in seinen einzelnen Episoden wie auch im sprachlichen Detail ist, fehlt doch die überzeugende Großform, die das spannungsvolle Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem hätte fassen können.
Von Kai Köhler
Uwe Timm: Halbschatten. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008.
Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de
1 Krüp|pel, der; -s, - [mhd. (md.) krüp(p)el, mniederd. krop(p)el, kröpel, eigtl. = der Gekrümmte, verw. mit Kringel; vgl. auch Kropf] (emotional): körperbehinderter Mensch: jmdn. zum K. fahren, schlagen; der Unfall machte ihn zeitlebens zum K.
2 ver|schar|ren <sw. V.; hat>: a) scharrend mit Erde bedecken, oberflächlich vergraben: der Hund verscharrt einen Knochen; er hat den Revolver im Wald verscharrt; b) achtlos, oft heimlich irgendwo begraben: sie verscharrten den Toten am Wegrand.
3 ver|wit|tern <sw. V.; ist>: 1. durch Witterungseinflüsse o. Ä. in seiner Substanz angegriffen werden u. langsam zerfallen: das Gestein, der Turm verwittert; Ü das verwitterte Gesicht des alten Seemanns. 2. (Jägerspr.) den einem Gegenstand od. Ort anhaftenden Geruch überdecken, um Wildtiere anzulocken bzw. abzuschrecken.
4 ver|rech|nen <sw. V.; hat> [mhd. verreche(ne)n]: 1. durch Rechnen, bei einer Abrechnung berücksichtigen, in die Rechnung einbeziehen: würden Sie bitte den Gutschein mit v.; einen Scheck v. (einem anderen Konto gutschreiben). 2. <v. + sich> a) beim Rechnen einen Fehler machen, falsch rechnen: du hast dich bei dieser Aufgabe verrechnet; sie hat sich um 5 Euro verrechnet; b) sich täuschen, irren; jmdn., etw. falsch einschätzen: sich in einem Menschen v.; da hast du dich aber gewaltig verrechnet!