Sonderthema
Wolfgang Borchert
Der Lebensweg
Borcherts Geburtshaus
«Sehr geehrter Herr Borchert, ich habe das Stück Draußen vor der Tür und Ihr Buch Die Hundeblume mit wirklicher Erschütterung gelesen ... die Stärke Ihrer Sachen ist, man hätte sie auch aus dem Papierkorb in irgendeinem überfüllten Bahnhofs-Wartesaal herausklauben können, sie wirken nicht wie ‹Gedrucktes›, sie begegnen uns, wie uns die Gesichter der Leute oder ihre Schatten in den zerbombten Städten begegnen. Ihre Welt ist wirklich bis ins Unheimliche, Ihr Talent ist echt. ... Werden Sie nur gesund – Sie haben noch viel zu tun!»
Aus dem Papierkorb eines Wartesaals? Ein ungewöhnliches, originell formuliertes Lob für eine Literatur, die so sehr die Essenz des Erlebten und Erlittenen vermittelt, dass man glaubt, hautnah die Realität zu spüren. Der diese Worte am 14. November 1947 an Wolfgang Borchert schreibt, welcher sterbenskrank im Clara-Spital in Basel liegt, ist der Dichter Carl Zuckmayer. Sechs Tage später – am 20. November 1947 – ist Wolfgang Borchert tot. Er ist nur 26 Jahre alt geworden.
Wolfgang Borchert, neben Heinrich Böll einer der bedeutendsten Autoren der sogenannten «Trümmerliteratur», Literatur, die die schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs zu bewältigen suchte, wurde am 20. Mai 1921 in Hamburg geboren. Sein Vater, Fritz Borchert, war Organist und Volksschullehrer an einer Volksschule in Hamburg-Eppendorf; seine Mutter Hertha, geborene Salchow, machte sich als Heimatschriftstellerin einen Namen. So war ihm, wenn man will, in einem gewissen Sinn das Schreiben in die Wiege gelegt worden.
«In ernsten Dingen nicht immer ernst genug ...»
Kindheit und Jugend in Hamburg
Wie war Wolfgang als kleiner Junge? Ein fröhliches Kind, bisweilen übermütig; er freute sich über gelungene Späße. Er lachte gern, auch später. Er konnte seine Mitmenschen gut beobachten. Und sein Vater berichtet, dass sein kleiner Sohn nicht so gern etwas vorgelesen bekam als lieber etwas erzählt, etwas frei Erfundenes, vorzugsweise Tiergeschichten. Ein besonderes Talent jedoch war zunächst nicht zu erkennen.
Wolfgang war ein Einzelkind. Seine Spielkameraden waren die Nachbarskinder. In ihm wartete die Lust am Lachen, eine geradezu maßlose Freude jederzeit auf ihre Gelegenheit. Nach der Volksschule besucht er die Oberrealschule in Hamburg-Eppendorf. Er war kein besonders guter Schüler, eher das Gegenteil. Unaufmerksam soll er in der Schule gewesen sein, «in ernsten Dingen nicht immer ernst genug».
1938 geht er von der Schule ab. Wolfgang will Schauspieler werden. Besorgt um ihren Sohn bringen ihn seine Eltern zunächst davon ab. Schließlich beginnt er eine Buchhandelslehre. Bei der Vorstellung zusammen mit seinem Vater wird er gefragt: «Nun, Sie wollen Buchhändler werden, Herr Borchert?» Antwort: «Nein, ich muss.»
Die Zeit seines öden Lehrlingsdaseins – er muss Buchpakete ein- und auspacken und Etiketten kleben – wertet er auf, indem er heimlich Schauspiel- und Stepp-Unterricht nimmt. Ohne Wissen der Eltern besteht er die Aufnahmeprüfung in der Schauspielschule Helmuth Gmelins und wirft ihnen die Bescheinigung ebenso wortlos wie triumphierend auf den Tisch. Die Eltern lassen ihn gewähren und die Schule besuchen. Nachdem er die Abschlussprüfung bestanden hat, bricht er die Buchhändlerlehre ab und erhält sein erstes Engagement.
Der junge Borchert zeigt eine Neigung zu Extravaganz und Exzentrizität. Er provoziert mit der Kleidung, zieht z. B. die Krawatte durch einen Siegelring oder schneidet sich die Hutkrempe ab. Da ist er modern. «Unbedingte Freiheit» ist sein Motto.
«Hier kommt noch mal eine Plakette1 ans Haus!»
Der junge Wolfgang Borchert – ein Genie?
Mitnichten. Aber er scheint sich manchmal als solches zu fühlen. Neigt zu Größenwahn und Selbstüberschätzung. Weder ein großer Dichter sei er noch ein Genie, sagt die Mutter einmal genervt zu ihm, sondern «ein ganz erbärmlicher Wicht!» Wolfgangs Antwort: «Ihr werdet euch noch alle wundern. Hier kommt noch mal eine Plakette ans Haus.»
Seine literarischen Vorbilder sind Rilke, Hölderlin, aber auch Benn und Trakl, deren Stil er imitiert. Es sind epigonale2 Texte. Er passt auch seinen Namen dichterisch an: Briefe unterschreibt er mit «Wolff Maria Borchert».
Der Redakteur des «Hamburger Anzeigers» Hugo Sieker antwortet auf eine Sendung Borchert’scher Gedichte mit folgendem Urteil: «Die Melodie Ihrer Gedichte hat mich gepackt, und ich habe gefühlt, dass aus Ihrer Sprache etwas werden kann. ... Denken Sie in Zukunft immer stärker daran, dass es die Aufgabe auch eines Gedichtes ist, etwas Sachliches auszusagen. Hat ein Gedicht keinen festen sachlichen Kern, so wird es den Leser bei aller Pracht schöner Worte dennoch unbefriedigt lassen.»
Mit Kritik, auch mit berechtigter, kann er nicht besonders gut umgehen. «Ein kurzer Rausch» ist für ihn das Schreiben. Gedichte schreibt er seit seinem 15. Lebensjahr. «Der Einfall kommt, wird hingeschrieben und nicht mehr verändert. Ich brauche zu einem Gedicht kaum mehr Zeit, als nötig ist, die gleiche Menge Worte aus einem Buch abzuschreiben. Hinterher feilen oder verändern kann ich nicht ... Du fühlst sicher diese gewisse Oberflächlichkeit in meiner Arbeit, die keine Arbeit ist – höchstens ein kurzer Rausch», schreibt er in einem Brief.
Und in dem Text Das ist unser Manifest (1947) findet sich – auf einer anderen Stufe geschrieben, nach durchlittenen Kriegserfahrungen, die alles Regelwerk in Frage stellt – eine provozierende Ablehnung aller Grammatik: «Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns Geduld. Wir brauchen die mit dem heißen heiser geschluchzten Gefühl. Die zu Baum Baum und zu Weib Weib sagen und ja sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv. Für Semikolons haben wir keine Zeit und Harmonien machen uns weich und die Stillleben überwältigen uns: Denn lila sind nachts unsere Himmel. Und das Lila gibt keine Zeit für Grammatik, das Lila ist schrill und ununterbrochen und toll. ... Über unseren hingeworfenen Leibern die schattigen Mulden: die blaubeschneiten Augenhöhlen der Toten im Eissturm ... Lila ist nachts das Gestöhn der Verhungernden und das Gestammel der Küssenden. ...
Und die Nacht ist voll Tod: Unsere Nacht. Denn unser Schlaf ist voll Schlacht. Unsere Nacht ist im Traumtod voller Gefechtslärm. ...
Wovon unser Herz rast? Von der Flucht. Denn wir sind der Schlacht und den Schlünden erst gestern entkommen in heilloser Flucht. ... Horch hinein in den Tumult deiner Abgründe. Erschrickst du? Hörst du den Chaoschoral aus Mozartmelodien? Hörst du Hölderlin noch? Kennst du ihn wieder, blutberauscht, kostümiert und Arm in Arm mit Baldur von Schirach?»
Aus dem Krieg zurückkehrend, bleibt er sich treu, was die Beurteilung der Grammatik angeht. Doch: aus dem Krieg zurückkehrend, ist er nicht mehr derselbe, ist umgewandelt worden wider Willen; durch das erfahrene Leid haben sich andere Schleusen seiner Kreativität geöffnet.
«Nie war etwas so weiß wie dieser Schnee»
Leben zwischen Krieg und Gefängnis
Bis zum 6. Juni 1941 – das halbe Jahr nach bestandener Schauspielprüfung – hat er ein Engagement bei der Landesbühne Osthannover in Lüneburg. Dann erhält Wolfgang Borchert den Einberufungsbefehl3: erst als Panzergrenadier4 in Weimar-Lützendorf, wo er als Funker5 ausgebildet wird; im November geht es an die Front und zum Fronteinsatz bei Kalinin, nördlich von Moskau.
«Nach einer kurzen wunderbaren Theaterzeit bin ich nun auch Soldat geworden. Es ist laut in Europa, aber nicht von Schillers großem Pathos, sondern vom Lärm der Massen ... im Augenblick tötet die brutal aufgezwungene Welt des Zwanges und der Uniform-Einheit alles Schöne, alle Kunst in mir ...»
Zum ersten Mal erlebt er den russischen Winter – zwischen 30 und 50 Grad unter Null. Am 16. November 1941 begann bei Klin–Kalinin die zweite Generaloffensive gegen Moskau. In diesem vor der Zeit hereingebrochenen Winter spielt der Schnee eine Hauptrolle: dichter Schneefall – Schneestürme – und klare unerträglich schneehelle Tage, in denen man die unglaubliche Weite der weißen russischen Schneelandschaft ertragen muss. Und den Krieg, der jeden Sinn ad absurdum6 führt. Diese Absurdität bringt Borchert in seinen meisterhaften Kurzgeschichten, die er in seiner eigentlichen kurzen Schaffensperiode erst nach Kriegsende schreibt, auf den Punkt – vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen Schnees.
«Noch nie war etwas so weiß wie dieser Schnee. Er war beinahe blau davon. Blaugrün. So fürchterlich weiß. Die Sonne wagte kaum gelb zu sein vor diesem Schnee. Kein Sonntagmorgen war jemals so sauber gewesen wie dieser. ...
Aber irgendwo gab es dann doch einen Fleck. Das war ein Mensch, der im Schnee lag, verkrümmt, bäuchlings, uniformiert. Ein Bündel Lumpen. Ein lumpiges Bündel von Häutchen und Knöchelchen und Leder und Stoff. Schwarzrot überrieselt von angetrocknetem Blut. Sehr tote Haare, perückenartig tot. Verkrümmt, den letzten Schrei in den Schnee geschrien, gebellt oder gebetet vielleicht: Ein Soldat.» (Mein bleicher Bruder)
So erlebt Borchert die Sinnlosigkeit dieses Krieges im Winterhalbjahr 1941/42. Doch dann wird er verwundet: eine Schussverletzung an der linken Hand während des Postengangs. Diese Verwundung kommt auf eher befremdliche Weise zustande. Ein russischer Soldat sei plötzlich aufgetaucht, hätte ihn, Borchert, bedroht – sie hätten gerungen, dabei hätte sich ein Schuss aus Borcherts eigenem Gewehr gelöst und ihn an der linken Hand getroffen.
Ein Vorgesetzter, der Borchert nicht gut gesonnen ist, denunziert ihn: Er gibt zu Protokoll, dass Borchert sich selbst verletzt habe, um vom Kriegsschauplatz wegzukommen.
Borchert kommt zunächst in ein Lazarett; als sich eine Diphtherie dazugesellt, verlegt man ihn ins Heimatlazarett nach Schwalbach. Noch in der Rekonvaleszenz7 wird er im Mai 1942 verhaftet unter dem Verdacht, «sich willentlich8 dienstuntauglich9 gemacht zu haben». Er kommt ins Untersuchungsgefängnis Nürnberg, wo er drei Monate in der Einzelzelle sitzt.
In diesem Gerichtsverfahren gibt es nur zwei Möglichkeiten: Freispruch oder Todesstrafe. Am 31. Juli 1942 findet sein Prozess statt. Der Kriegsgerichtsrat glaubt der Darstellung Borcherts: Freispruch für den Angeklagten. Doch dem Gericht liegen verschiedene Briefe und Bemerkungen Borcherts vor, die als «staatsgefährdend» eingestuft werden. So bleibt Borchert in Untersuchungshaft; noch einmal wird ihm der Prozess gemacht.
Was hat er geschrieben, sodass er zu vier Monaten Gefängnis verurteilt wird?
«Meine Kameraden, die vor vierzehn Tagen herausgekommen sind, sind alle gefallen. Für nichts und wieder nichts. Ich empfinde die Kasernen als Zwingburgen des Dritten Reiches. Ich fühle mich selbst als Kuli10 der braunen Soldateska11.»
Die Verteidigung bewirkt, dass das Urteil zu sechs Wochen Haft gemildert wird – mit anschließender Frontbewährung. Nach Verbüßung der Haft wird Borchert im Dezember 1942 dann wieder in Russland eingesetzt: als Melder, ohne Waffe, in den Kämpfen um Toropez. Mit Fußerfrierungen wird Borchert ins Lazarett gebracht; als Fieberanfälle auftreten, vermutet man Fleckfieber, und er wird ins Seuchenlazarett Smolensk verlegt. Jeden Tag ein halbes Dutzend Tote. Draußen siebenhundert Gräber von Soldaten, die am Fleckfieber starben.
Wolfgang Borcherts Zustand treibt ihn einerseits in tiefe Depressionen; dann wieder versucht er in fiebriger Lebenslust bisher Versäumtes nachzuholen. Mit dem russischen Mädchen Fina und der sieben Jahre älteren Krankenschwester Elisabeth aus dem Rheinland – sie habe einen «Hang für Jünglinge», schreibt er in einem Brief – hat er kurze Liebschaften. Seinen Eltern gegenüber nennt er das «Verlobungen» ...
Wolfgang Borchert
«Unsere Führung hat uns luftige und helle Wohnungen versprochen ...»
Wieder in Haft
Im Frühjahr 1943 wird Wolfgang Borchert in die Heimat abtransportiert. Im März befindet er sich im Lazarett Elend (Harz). Anschließend hält er sich in Jena, dann in Kassel-Wilhelmshöhe auf, bei einer Durchgangskompanie.
Doch die Fieberanfälle kehren zurück; seine Leber ist nicht in Ordnung. Er wird als dienstuntauglich eingestuft – und eine wirklich frohe Botschaft: Borchert soll für ein Fronttheater abgestellt werden.
Einen Tag vor der Entlassung gehen wieder die «Gäule» mit ihm durch, sprich seine Frechheit und Chuzpe: In einer Art Abschiedsvorstellung parodiert er den Reichsminister Goebbels. Die anwesenden Zeugen sind später vor Gericht gehalten, folgende Worte Borcherts vor Gericht zu bestätigen, die verdichtet und hochironisch, in Anspielung auf Goebbels’ Beinbehinderung (er hatte einen Klumpfuß), die aussichtslose Lage der Kriegssituation auf den Punkt bringen: «Das deutsche Volk kann ruhig sein. Lügen haben kurze Beine, aber es ist meinem Orthopäden gelungen, mein rechtes Bein auf die normale Länge zu bringen; Volksgenossen und Volksgenossinnen, unsere Führung hat euch luftige und helle Wohnungen versprochen, wir haben unser Versprechen gehalten, die Wohnungen habt ihr jetzt; der deutsche Soldat wird kämpfen bis zur letzten Patrone, dann wird er das große Laufen kriegen. Ihr werdet erlauben, dass ich schon jetzt vorauslaufe, da ich am Gehen behindert bin.»
Das war harter Tobak; umgehend wird er denunziert. Und ebenso umgehend wird er vernommen und landet in Jena im Untersuchungsgefängnis; von dort wird er ins Untersuchungsgefängnis nach Berlin-Moabit überführt. Borchert ist politisch vorbestraft°– sein Fall sieht nicht gut aus.
Bis zum Urteil, das am 4. September 1944 gefällt wird, bleibt Borchert in Untersuchungshaft, diesmal in einer Gemeinschaftszelle. Wieder hat Borchert «Glück»; sein Anwalt sammelt gute Leumundszeugnisse und Entlastungsmaterial. Die Zeugen der Verteidigung geben zu Protokoll, dass der Angeklagte «auf dem Boden der Bewegung» stehe, dass er «nie einen gehässigen politischen Witz erzählt habe». Wolfgang Borchert wird zu neun Monaten Gefängnis verurteilt, fünf Monate Untersuchungshaft werden angerechnet; es wird «Strafaufschub zwecks Feindbewährung bewilligt».
Ein Narr, der wirre Lieder schmettert
Das Ende des Krieges
Zunächst kommt er nach der Haftentlassung wieder nach Jena, einige Monate kann er dort Kräfte sammeln. Im Januar 1945 wird er wieder eingesetzt. Diesmal in der Nähe von Frankfurt am Main. Deutschland steht kurz vor der Kapitulation. Dort wird er von den Franzosen gefangen genommen. Es gelingt ihm, während des Gefangenentransports zu fliehen. Rund 600 Kilometer bis Hamburg, und das zu Fuß! Borchert schlägt sich zusammen mit einem Kumpan durch. Sie begegnen Amerikanern; jetzt haben Borcherts Haftvermerke eine positive Auswirkung; man lässt die beiden passieren. Sie schlafen auf Bauernhöfen, in Scheunen, auch in einem Gutshaus. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Wolfgang Borchert schwerkrank ist; immer wieder hat er Fieberanfälle. Endlich, am 10. Mai 1945, trifft er in Hamburg ein und wohnt wieder bei seinen Eltern.
Er nimmt den Faden wieder auf, den er 1941 geknüpft hatte: Zunächst gründet er in Altona ein Theater – «Die Komödie». Er will keine «problembelasteten Stücke» spielen in einer Zeit, die voller Probleme ist, und sucht Gelder für dieses Projekt zusammenzubringen. Er tritt auf im Kabarett «Janmaaten im Hafen», wobei er immer wieder gegen die Schmerzen in der Leber, die ihn plagen, anspielen und «anlachen» muss. Auf allen vieren kriecht er über die wenigen Stufen zum Podium.
Wolfgang Borchert plante weitere Projekte; er war voller Tatendrang; aber die schleichende Krankheit nötigt ihn im Winter 1945/46 ins Bett. Die Schmerzen zwingen ihn zu liegen. Weder die Ärzte im Alsterdorfer Krankenhaus noch die im Elisabeth-Krankenhaus, in das er später wechselt, lösen das Rätsel seines geheimnisvollen Siechtums, das wird erst nach seinem Tod in der Schweiz eruiert: Borchert litt an einer «überempfindlichen» Leber, deren Funktionen durch dauernde Ernährungsmängel außer Kraft gesetzt wurden.
Eine Schaffensphase ohnegleichen
Literarischer Durchbruch auf dem Krankenbett
Am 24. Januar 1946 schreibt Wolfgang Borchert die Geschichte Die Hundeblume. Mit ihr begründet sich sein Ruhm als Autor von Kurzgeschichten. Das Genie schafft den Durchbruch – oder wie soll man das nennen? Plötzlich findet Borchert anstrengungslos die rechten Worte, die gereift sind zu dichterischer Qualität. Immer noch schreibt er schnell, aber jetzt geht es in die Tiefe. Es scheint eine Art «Quantensprung» – eine Mutation, die sich vorbereitet hat, vielleicht durch den aufgedrückten Weg der Erfahrung von Leid, Krieg, Tod.
Inzwischen ist er wieder zu Hause, da die Ärzte in den Krankenhäusern an ihm nur herumzudoktern scheinen. Man könne ihm nicht helfen, sagen sie den Eltern. Müsse er sterben? – Ja. – Wann? – In drei Tagen vielleicht oder in einem Jahr ...
Und Wolfgang Borchert durchlebt eine unbeschreibliche Schaffensphase, jede Minute wird zum Schreiben genutzt. Neunundzwanzig Geschichten schreibt er im Jahr 1946. Er schreibt sie nieder, zielsicher und schnell, ohne sich einen Plan zu machen oder über den Aufbau nachzudenken.
Im Januar 1947 dann in acht Tagen das Drama Draußen vor der Tür. Mit diesem Drama beginnt der eigentliche literarische Durchbruch. Am 13. Februar 1947 wird es als Hörspiel gesendet. Nach Borcherts Tod, am 21. November 1947, wird es von den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt, später gibt es weltweite Aufführungen; ebenso wird es unter dem Titel Liebe 47 verfilmt (1948). Unter dem Titel Die Hundeblume wird eine erste Kurzgeschichtensammlung im Verlag Hamburgische Bücherei veröffentlicht.
Im Jahr seines Todes, 1947, schreibt Borchert bis September weitere zweiundzwanzig Geschichten.
Borcherts Grab
«Gehen Sie doch nach Deutschland zurück!»
Die letzte Reise
Der Winter 1946/47 ist eisig. Besucher bringen Kohle und Briketts mit. Im Frühjahr machen sich Freunde und Verleger an den Plan, Borchert einen Kuraufenthalt in der Schweiz zu ermöglichen, da man sich hier bessere Behandlungs- und Heilungschancen erhofft – was sich aber durch bürokratische Hürden bis in den September hineinzieht. Wolfgang Borchert geht es sehr schlecht; er leidet immer wieder unter Fieberanfällen, erträgt gesunde Besucher kaum noch, wendet sich weg zur Wand. Am 22. September 1947 endlich kann sich Borchert, begleitet von seiner Mutter, auf die lange Zugreise machen. Eine Hochstimmung kommt auf, die abgelöst wird von Atemnot; als die Mutter ihn auf den Rhein aufmerksam macht, sagt er: «Mist-Rhein. Ich hab die Elbe nicht mehr sehen können, nun will ich den Rhein auch nicht sehen.»
Ins Clara-Spital in Basel darf die Mutter nicht mit; sie muss am Grenzbahnhof Weil ihren Sohn allein ziehen lassen. Der Verleger begrüßt ihn und geleitet ihn ins Spital. Borchert, im kahlen Zimmer, allein, fühlt sich völlig unglücklich und einsam. Die Schwestern sind unpersönlich; Besucher kommen nicht; niemand weiß hier, dass er in seiner fernen Heimat ein berühmter Mann ist. Zahlreiche deutsche Bühnen haben sein Stück bereits geprüft und angenommen.
Doch hier, im katholischen Krankenhaus, ist er ein Ausländer und dazu Protestant. Als er nach einem Krampfanfall zu Boden fällt, schreit ihn ein Pfleger an: «Was wollen Sie überhaupt hier in der Schweiz? Gehen Sie doch nach Deutschland zurück, wo Sie hingehören!» Darauf bricht Borchert zusammen und hat eine schwere Leberblutung, darf nur noch auf dem Rücken liegen. Seine Kräfte schwinden.
In dieser Einsamkeit besucht ihn hauptsächlich der Speditionsangestellte Martin F. Cordes, der Theologie studiert hatte. Er hatte von Borchert gehört, dass dieser sehr lange Haare und eine hohe Stimme habe, und ihn sich als «poetisch» abgehobenen Jüngling vorgestellt; doch er ist überrascht und beschreibt ihn in einem Brief an seine Eltern so: «Hier war wirklich männliche Leidenschaft zum Leben und Handeln, verbunden mit dem Ausdrucks- und Gestaltungswillen des Schauspielers und Dramatikers.»
Am 18. November 1947 bluten – wie schon im Oktober – die Venen seiner Speiseröhre wieder. Die Blutung setzt sich trotz therapeutischer Maßnahmen fort mit der Folge, dass Wolfgang Borchert am 20. November 1947, morgens um 9.00 Uhr verstirbt.
Am 24. November 1947 ist die Trauerfeier auf dem Hörnli-Gottesacker in Basel; 1948 wird seine Urne auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg beigesetzt.
Ein einziges Manuskript noch schrieb Borchert in der Schweiz, das berühmte Manifest Dann gibt es nur eins! – eine «Kampfansage an den Krieg» (Rühmkorf).
«Du. Mann an der Maschine und in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen, sondern Stahlhelme und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins: Sag NEIN!»
So beginnt diese leidenschaftliche und ergreifende «Kampfansage». Alle Menschen will der Dichter mit diesem Text ansprechen – Angestellte, Fabrikbesitzer, Wissenschaftler, Pfarrer, Handwerker, Richter, die Mütter. Die vor allem. Keine Mutter soll mehr Kinder gebären, damit sie in Kriegen hingeschlachtet werden.
Man mag es als Borcherts Vermächtnis betrachten.
Von Marlies Schwochow
Der Text ist entnommen aus: http://www.xlibris.de
1 Pla|ket|te, die; -, -n: (Kunst) (dem Gedenken an jmdn., etw. gewidmete) kleine Tafel aus Metall mit einer reliefartigen Darstellung.
2 epi|go|nal <Adj.> (bildungsspr.): unschöpferisch, nachahmend: -e Musik.
3 Einberufungsbefehl, der: приказ о призыве (на военную службу)
4 Panzergrenadier, der: рядовой мотопехоты; Panzergrenadiere: моторизованная пехота, мотопехота (на бронетранспортёрах)
5 Funker, der; -s, =: радист; оператор радиостанции; рядовой войск связи
6 ad ab|sur|dum [zu ad u. absurd]: in der Wendung etw., jmdn., sich ad a. führen (bildungsspr.; das Widersinnige, die Sinnlosigkeit von etw. nachweisen; jmdn. des Widersinns seiner Behauptung o. Ä. überführen; sich als widersinnig, sinnlos erweisen).
7 Re|kon|va|les|zenz, die; - (Med.): a) Genesung; b) Genesungszeit.
8 willentlich: намеренный, (пред)умышленный
9 dienstuntauglich: не(при)годный к (военной) службе
10 Ku|li, der; -s, -s: a) billiger Arbeiter in Süd- u. Ostasien (z. T. auch angeworben für die Kolonien in Süd- u. Mittelamerika, Süd- u. Ostafrika): wie ein K. (abwertend; [körperlich] sehr schwer) arbeiten müssen; b) jmd., der bes. für körperliche Arbeit von einem anderen ausgenutzt wird: du bist nur sein K. (чернорабочий)
11 Sol|da|tes|ka, die; -, ...ken (abwertend): gewalttätig u. rücksichtslos vorgehende Soldaten: eine entfesselte, mordende S. (военщина; солдатня)