Das liest man in Deutschland
Eine schwarze Geschichte
Was macht ein Ghanaer in Tirol? Joachim Schwarz lotet in seinem Roman «Schwarz am Inn» die Grenzen und Möglichkeiten interkulturellen Zusammenlebens aus.
Schon äußerlich prallen Welten aufeinander: Die winterkalten Berge des Karwendel und die heißen Wüsten Ghanas. Andere Gegensätze kommen hinzu, auch und vor allem innerhalb der scheinbar homogenen westeuropäischen Kultur. Doch bevor es soweit ist und die Titelfigur, der «Schwarze aus Afrika», die Hauptstadt Nordtirols am Inn erreicht, erlebt der Leser einige Überraschungen.
Kojo Okine-Schwarz, Anfang 30, landet in München und möchte nach Innsbruck, zunächst weiß niemand so genau warum. Ein Drogenschmuggel wird vermutet, der Roman beginnt wie ein Krimi und entwickelt sich zu einer kritischen Spiegelung des Verhaltens gegenüber Fremden im Allgemeinen und Afrikanern im Besonderen. Was kann ein Schwarzer schon in Deutschland oder Österreich suchen? Das schnelle Geld natürlich, möglichst mit krimineller Energie. Weit gefehlt – Kojo sucht seine Mutter und am Romanende geht er freiwillig wieder zurück in seine Heimat, die allerdings nur eine halbe ist. Denn seine Mutter Therese stammt aus Tirol.
Der freundliche Grenzbeamte Franz Maderer und die Krankenschwester Christel Mierow haben Mitleid mit dem kranken und misshandelten Ghanaer, sie schmuggeln ihn über die österreichische Grenze. Dort lernt Kojo seine Mutter und seinen Halbbruder Manuel kennen. Die Mutter war Kojos Vater zunächst nach Ghana gefolgt, hatte es dann aber, obwohl sie freundlich aufgenommen wurde, dort nicht ausgehalten und ein neues Leben in der alten Heimat begonnen.
Bis hierher könnte man vermuten, dass es sich um einen unkonventionellen Familienroman handelt – doch macht der Autor auch den Grenzbeamten und die Krankenschwester zu Hauptfiguren, und nicht nur sie. Von nun an entwickeln sich verschiedene Erzählstränge mit unterschiedlichen erotischen Unterströmungen. Christel, die vom Bodensee stammt, und Franz aus Garmisch-Partenkirchen scheinen auf dem besten Weg, ein Liebespaar zu werden, doch fühlt sich Christel zu Kojo hingezogen, ohne dass er ihre Liebe erwidern würde. Franz muss zu einem Einsatz – ein Aufmarsch Rechtsradikaler – in einer fränkischen Kleinstadt (die Vermutung liegt nahe, dass es sich um Wunsiedel handelt), dort gerät er in einen Familienstreit. Die junge Katharina versucht ihren rechtsradikalen Bruder Thomas zu beschützen und verletzt dabei Franz, der für ihr Verhalten Verständnis zeigt, die beiden verlieben sich gar ineinander. Thomas wird weiter in den rechten Sumpf hineingezogen, doch wie es mit ihm weitergeht, wird hier nicht verraten.
Der größte Teil der Handlung spielt in und um Innsbruck, Ortskundige werden zahlreiche Schauplätze wiedererkennen, von der Nordkettenbahn bis zum Zirbenweg auf dem Patscherkofel. Die Siebensterngasse, in der Kojos Mutter wohnen soll, gibt es trotz des schönen Namens nicht, ein deutliches Zeichen dafür, dass es sich um eine Versuchsanordnung handelt, aus der die Leser ihre eigenen Schlüsse ziehen sollen. Ein geistig Verwirrter, der Selbstmord begeht, und seine Tochter gehören zu den Figuren, die die Handlung weiter vorantreiben. Sie ist zudem mit zahlreichen Binnengeschichten durchsetzt, oftmals Rückblenden, in denen Episoden aus dem Familienleben der Beteiligten entwickelt werden. Familiengeschichten, die mit der Geschichte zu tun haben – Großmütter und -väter entpuppen1 sich als Verfolgte oder Täter im Nationalsozialismus, Vater oder Mutter trennen sich, verlieben sich neu, oder sie sterben und lassen ihre Angehörigen mit unterschiedlichen Gefühlen zurück. Ganz wie im richtigen Leben also.
Das ist es auch, was den Roman auszeichnet. Der Autor spielt nicht nur mit Klischees (schon im Titel, wenn er seinen Namen zur Bezeichnung der Hautfarbe einer Figur verwendet). Er hat auch eine beeindruckende Fähigkeit, exemplarische Lebensläufe zu schildern. Zwar ist der allwissende Erzähler nicht zeitgemäß und manchmal unerfreulich aufdringlich, doch vermag er es auch, die Figuren für sich sprechen zu lassen. Sie stecken in allerhand2 Schwierigkeiten, von der materiellen Not über die unglückliche Liebe bis zur politischen Verfolgung. Patentrezepte für die Lösung solcher Probleme gibt es keine, und doch schaffen es die meisten, ihre persönliche Strategie zu entwickeln, um mit ihrem Leben weitermachen zu können.
Wenn es an einer Stelle im Roman heißt: «Eigentlich müsste ich ein Zerrissener3 sein, aber ich fühle mich wohl in meiner Haut. Vielleicht ist das Dazwischen gar kein so schlechter Ort. Vielleicht ist das sogar die Freiheit, die ein Mensch haben kann», dann sind das nicht die Gedanken von Kojo, sondern von Franz, der trotz seines regionalen Verhaftetseins noch viel weniger weiß, was seine Identität ausmacht und wie er sein Leben gestalten soll. Kojo hat es gut – er wird zum Schluss Rechtsanwalt und arbeitet für Amnesty International. Eine Wendung, die man – wie andere Romanzüge auch – als aufgesetzt und übertrieben kritisieren kann. Andererseits zeigt sich an ihr das dem Roman zugrunde liegende und sehr produktive Konzept, kein gängiges Klischee unwidersprochen4 oder zumindest unhinterfragt zu lassen. Nicht Manuel, der weiße Bruder, setzt sich für die Verfolgten der Welt ein, sondern eben Kojo, der wie Manuel am Ende heiratet – ob es die von ihm schwangere Gabriele ist, lässt der Roman aber offen.
Im bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts wurde programmatisch und frei nach Goethe verlangt, ins volle Menschenleben hineinzugreifen, um den Lesern etwas bieten zu können, was sie persönlich angeht. In den letzten Jahrzehnten ist das Erzählen von Geschichten, wie es seinerzeit üblich war, wieder in Mode gekommen, ohne die veränderten gesellschaftlichen und ästhetischen Rahmenbedingungen zu vernachlässigen. Das Spektrum reicht von Uwe Timm bis Juli Zeh. Der Roman von Joachim Schwarz ist ein gutes Beispiel für die skizzierte Entwicklung, doch gerade deshalb ist zu fragen, wieso er nicht in einem etablierten Verlag erscheinen konnte. Autorinnen und Autoren wie Judith Hermann oder Christian Kracht feiern große Erfolge, während andere mindestens ebenso viel zu sagen haben und unbeachtet bleiben. Der Literaturbetrieb sollte sich wieder mehr öffnen für unbekannte Talente, und ein solches gilt es hier zu entdecken.
Von Stefan Neuhaus
Joachim Schwarz: Schwarz am Inn. Books on Demand, Norderstedt 2008.
1 ent|pup|pen, sich <sw. V.; hat> [zu Puppe]: sich überraschend als jmd., etw. erweisen: sich als [kleiner] Tyrann, als großes Talent e.; du hast dich ganz schön entpuppt (ugs. iron.; überraschend zum Negativen hin verändert).
2 al|ler|hand <unbest. Gattungsz.; indekl.> (ugs.): ziemlich viel, allerlei, vielerlei: sie weiß a. [Neues]; a. Schwierigkeiten; a. Gerümpel; 100 Euro ist/sind a. Geld; ich bin ja a. gewöhnt; R das ist [ja, doch o. Ä.] a. (das hätte ich nicht erwartet; das ist unerhört).
3 zer|ris|sen: <Adj.>: mit sich selbst zerfallen, uneins: ein innerlich -er Mensch.
4 un|wi|der|spro|chen <Adj.>: ohne Widersprechen: etw. u. hinnehmen; das darf nicht u. bleiben (dem muss man widersprechen).
Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de