Literatur
Rolf Schneider
Liebe
Fortsetzung aus Nr. 12/2009
Ich mag sie nicht. Sie bedeuten keine Egalität, sie täuschen Egalität bloß vor. Bestenfalls: sie wollen mögliche Egalitäten ersetzen, wenigstens für die Minuten von Dämmerschoppen und Heißa-Festen, und vermögen es dann doch nicht, da an blankgescheuerten Holztischen nicht einlösbar ist, was anderswo, nämlich sozial, nicht stattfindet. Insofern ist Hamburg ehrlich. Es lügt nicht. Es sagt und zeigt, was ist, und zeigt die Zustände ohne Camouflage: Zwischen Elbchaussee und Landungsbrücken liegen Welten an Einkommen und Bildung, Lebensumstände, die sich weder wegsingen noch wegzechen lassen. Ganz ähnlich verhält es sich mit der vermeintlichen Kunstfremdheit: Die ist nicht größer als in anderen, südlicher gelegenen Städten, aber wenigstens wird sie nicht versteckt oder umgelogen. Hamburg habe keine Boheme und kein Künstlerviertel? Die sind nirgendwo etwas anderes als Gettos für den schönen Geist. Wenn sie in Hamburg fehlen, zeigt das beileibe nicht an, daß der schöne Geist hier emanzipierter sei. Er hat nur seine Chance. Es ist eine Warenchance. Er hat sie damit so wie anderswo, aber ohne Tünche, und das scheint mir redlicher.
Dieses Wort nun, redlich, ist seit längerem im Schwange. Seine kunstmoralische Verwendung geht auf Friedrich Nietzsche zurück, der für mich ein höchst zweifelhafter Bürge ist. Freilich existiert daneben ein älterer Gebrauch, Geschäftsgebaren betreffend, und hiermit sind wir wieder in Hamburg. Denn diese Stadt ist, jedermann weiß es, eine Handels- und Kaufmannsmetropole, ist es schon ziemlich lange und bis zu jenem Grade der Ausschließlichkeit, daß feudalistisches Sein und Tun seit Jahrhunderten ausgeschlossen waren. Während rings im Lande, auch dem unmittelbar angrenzenden, der Zeitstil von Fürstenherrlichkeit troff, pflegte Hamburg Bürgersinn und schuf sich ihm entsprechende Gebräuche: demokratischer Lebensraum der Bürger-Demokratie ist die Nation, und kein Zufall war es, daß der Aufklärer Lessing unter den vielen mobilen Komödiantentruppen deutscher Zunge ausgerechnet jene in Hamburg erkor, mit ihr ein deutsches Nationaltheater zu schaffen. Daß dies mißlang, ist Hamburg am wenigsten anzulasten. Die anderen, die deutschen Verhältnisse waren nicht so. Hamburg aber, eine Stadt mit angenehm wenigen Denkmälern, setzte ihm ein Standbild. Und, gleichfalls anders als in anderen Städten, goß sie den großen Mann nicht bloß in Metall, sondern tradierte auch etwas von seinem Geist. Die mutige Toleranz des «Nathan» zum Beispiel: Hamburg war nie eine antisemitische Stadt, und neben Berlin war es jenes deutsche Gemeinwesen, das seinen von Hitler verfolgten Juden das höchste Maß an praktischer Hilfe angedeihen ließ.
Ich halte inne. Ich entdecke, daß ich ideologisiere. Ich suche nach Rechtfertigungen, wie sie, mit Halbbildung und Phantasie und, jedenfalls, mit dem nötigen Engagement, auch für andere Städte zu finden wären (auch Aversionen ließen sich derart begründen, selbst gegen Hamburg). Liebe, sagt Sartre, sei ein Gefühl, das keinerlei Begründung bedürfe: es rechtfertige sich aus sich selbst; und das ist wohl wahr. Ich liebe Hamburg, das mich, schönstes Indiz für die Solidität einer Liebe, bei späteren Wiederbegegnungen kaum enttäuscht hat.
Bis auf eine Irritation, aber dergleichen gehört wohl dazu. Dies begab sich im Frühjahr 1969. Ganz Westeuropa zuckte unter einem zivilisatorischen Phänomen, das Pop hieß und von heute her in seiner Lebensintensität sich als so kurz erwies wie sein Name. Damals aber hatte ich tatsächlich das Gefühl, die Stadt, dieses so angenehm zurückhaltende Gemeinwesen, sei auf dämmesprengende Art verrückt geworden. An den feinen Fassaden von Jungfernstieg und Großen Bleichen schrie ein Jugendstildekor aus dritter Hand. Die Boulevards waren bevölkert von aufgelösten Leuten, die aussahen, als wollten sie die Heilsbotschaften von Leary und von Mick Jagger jedermann ins Gesicht brüllen. In Hamburgs exklusivstem Tabakpfeifengeschäft wurden gleichmütig Hasch-Pfeifchen verkauft, schreckliche Dinger aus sandgeblasenen Kloben. Zu allem Unglück wurde am Alsterpavillon gebaut, und von den Bretterzäunen grinste bunt und riesig plakatgewordener Konsumterror. Ich verzweifelte: Hamburg war high.
Aus: Rolf Schneider: Annäherungen & Ankunft.
Hinstorff Verlag, Rostock 1982. S. 220–232.
Der Abdruck folgt dem Original von 1982 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.
vor|täu|schen <sw. V.; hat>: (um jmdn. irrezuführen) den Anschein von etw. geben; vorspiegeln: lebhaftes Interesse, Trauer, Leidenschaft v.; eine Krankheit v. (simulieren); er hat ihr nur vorgetäuscht, dass er sie liebe; <subst.:> Vortäuschen einer Straftat (Rechtsspr.; der Irreführung der Behörden dienende Handlung, durch die der Anschein erweckt werden soll, dass eine rechtswidrige Tat begangen wurde od. dass Landfriedensbruch drohe).
Däm|mer|schop|pen, der: geselliger Trunk am späten Nachmittag od. frühen Abend: beim D. sitzen; zum D. gehen.
ze|chen <sw. V.; hat> (veraltend, noch scherzh.): [gemeinsam mit andern] große Mengen Alkohol trinken: ausgiebig, fröhlich, die Nacht hindurch, bis zum frühen Morgen z.
ver|meint|lich <Adj.>: (irrtümlich, fälschlich) vermutet, angenommen; scheinbar: der -e Gangster entpuppte sich als harmloser Tourist; eine v. günstige Gelegenheit.
Tün|che, die; -, (Arten:) -n: 1. weiße od. getönte Kalkfarbe, Kalkmilch od. Leimfarbe zum Streichen von Wänden. 2. <o. Pl.> (abwertend) etw., was das wahre Wesen verdeckt, verdecken soll: ihre Höflichkeit ist nur T.
red|lich <Adj.>: 1. rechtschaffen, aufrichtig, ehrlich u. verlässlich: ein -er Mensch; er ist nicht r.; eine -e Gesinnung; r. arbeiten; Spr bleibe im Lande und nähre dich r. 2. a) [sehr] groß: sich -e Mühe geben; wir alle hatten -en Hunger; b) tüchtig, ordentlich; sehr: r. müde sein; sie gibt sich r. Mühe, hat sich r. geplagt; die Belohnung hast du r. (wirklich, mit voller Berechtigung) verdient.
Schwang, der [mhd. swanc = schwingende Bewegung; Hieb; lustiger Streich, ahd. in: hinaswang = Ungestüm, ablautende Bildung zu schwingen]: nur noch in der Wendung im -e sein (sehr verbreitet, sehr beliebt, in Mode sein).
an|ge|dei|hen: nur in der Verbindung jmdm. etw. a. lassen (geh. od. iron.; zuteilwerden, zukommen lassen, gewähren): jmdm. Schonung, Schutz, Gerechtigkeit a. lassen.
In|diz, das; -es, -ien: 1. <häufig Pl.> (Rechtsspr.) Umstand, der mit Wahrscheinlichkeit auf einen bestimmten Sachverhalt, vor allem auf die Täterschaft einer bestimmten Person schließen lässt; be- od. entlastender Umstand: ein ausreichendes I.; das Urteil stützt sich auf -ien. 2. (bildungsspr.) Anzeichen für etw.; symptomatisches Merkmal, an dem sich ein Zustand, eine Entwicklung ablesen, erkennen lässt: die Art der Wolkenbildung ist ein sicheres I. für einen bevorstehenden Wetterumschwung.