Das liest man in Deutschland
Aus den Wartesälen auf die Überholspur
Jan Kuhlbrodt nähert sich in «Schneckenparadies» in fünf poetischen Anläufen seiner und unserer unmittelbaren Vergangenheit.
Im fünften und letzten der «Versuche» genannten Teile des neuen Prosabandes von Jan Kuhlbrodt beobachtet das erzählende Ich Kinder beim Spielen auf einem Leipziger Hinterhof. Sie sammeln Schnecken und bringen sie anschließend in eine Zinkbadewanne, wo sie mit Gras und Löwenzahn gefüttert werden, damit es ihnen ja an nichts fehle in diesem «Schneckenparadies». Doch was man auch tut und womit man die Tiere auch zu ködern sucht – immer wieder verschwinden sie aus der Wanne, nichts vermag sie länger dort zu halten, wo es ihnen anscheinend doch so gut geht.
Kuhlbrodt, 1966 im damals noch Karl-Marx-Stadt genannten Chemnitz geboren, hat mit dem Schneckenparadies eine schöne Metapher für seinen autobiografisch die Zeit zwischen der letzten DDR-Dekade und den Jahren kurz vor der Jahrtausendwende ins Auge fassenden Text gefunden. In fünf Betrachtungen nähert er sich seinen Erinnerungsorten, frei assoziierend und den Leser zur Teilnahme einladend an der nicht untypischen Lebensgeschichte eines jungen ostdeutschen Intellektuellen.
Das beginnt in den frühen 1980er Jahren mit Reminiszenzen an Thilo, den unangepassten Freund, mit dem gemeinsam das Erzähl-Ich die Erweiterte Oberschule «Dr. Theodor Neubauer» besuchte, und endet nach einem Philosophiestudium in Frankfurt am Main erneut in Sachsen, wo das Leipziger Literaturinstitut in den 1990er Jahren zum Lebensmittelpunkt des sich nun ganz den Künsten verschreibenden Erzählers wird. Und es präsentiert sich als eine Art éducation sentimentale der Hauptfigur, die mit großen Ansprüchen antritt: «Wir wollten uns nicht mit Kleinigkeiten abgeben, das hatten wir uns vorgenommen, noch bevor wir wussten, was Kleinigkeiten überhaupt sind...», heißt es bereits auf der ersten Textseite. Doch schnell wurde klar, dass es meistens Geduld braucht, ehe die Realitäten sich ändern.
Im Mittelpunkt all der Annäherungsversuche an eine individuelle Vergangenheit, in der doch mehr Allgemeines aufgehoben ist, als der Autor selbst zugestehen möchte, stehen dabei die Ereignisse aus dem Leipziger Wendeherbst 1989. In sie hat Kuhlbrodt auch die größten Zweifel an Integrität und Reife des von ihm erzählten Lebens eingeschrieben. Oder ist es etwa kein Versagen vor der Geschichte, wenn man fast bis zuletzt zur staatstragenden Partei gehört und der einzige Aufenthalt in einem DDR-Gefängnis schlicht Resultat eines Irrtums war und nicht aktiver Dissidenz entsprang? Und darf man sich so ohne Weiteres zum «Wir» all jener zählen, die durch ihre friedliche Revolution die Macht des Politbüros brachen, wenn man erst allzu spät zu ihnen gestoßen ist, erst dann, als Leipzig «schon eine Stadt voller Davids war und Goliath nur noch eine klapprige Regierung»? Drängende und bedrängende Fragen, in deren Licht ein verklärender, gar heroisierender Blick auf das Vergangene nicht in Frage kommt.
Doch was heißt Verklärung. Aus dem Kaleidoskop vieler Einzelbeobachtungen – wie ein Lyriker nähert sich Kuhlbrodt häufig seinen Gegenständen, erspäht im Ephemeren das auf ein Größeres Weisende, friert in Bilder ein, was er nicht lang und breit erklären will – entsteht ein reichlich gebrochenes Bild der Verhältnisse, innerhalb derer man sich einst bewegte. Da mag man mit 17 oder 18 Jahren noch so beflissen gewesen sein, inmitten von Erwachsenen, die längst schon den Glauben an den Sieg des Sozialismus verloren hatten, den hartnäckigen Revolutionär gebend. Wenn dann zwei kümmerliche Gewächse auf dem Schulhof – jede Abiturklasse sah sich aufgerufen, am Ende ihrer Schulzeit einen Baum zu pflanzen – Zukunft symbolisieren sollen, haben sich die Dinge ganz von selbst wieder zurechtgerückt. Denn jenseits all des jugendlichen Enthusiasmus, der auf Veränderungen pochte und den man zunächst in Büchern fand, die allzu oft verboten waren, lag jenes östliche Deutschland eben wirklich still und bot noch vierzig Jahre nach dem Krieg ein graues Nachkriegspanorama. «Warten» ist die jenem Zustand adäquate Tätigkeit – «Uns begleitete das Warten. Diese vielen verschiedenen Arten zu warten. Die Wartepositionen, Wartesäle, Wartehallen und Wartehäuschen.» Und man verbringt all die unnützen Minuten, Stunden, Wochen, ja Jahre zwischen grauen Kulissen inmitten der «pastellfarbene(n) Menge, die damals in der DDR als bunt galt».
Doch auch die im Spätherbst 1989 mit Rat und Tat, alten Kopierern und ausgedienten Druckmaschinen, Spontiideologie1 und dem Hang zu endlosen Debatten, Bier und Rindersteaks an der Leipziger Universität auftauchenden Frankfurter Linken umweht nur kurze Zeit der Hauch von «Ernst Busch, Ernst Bloch und Neil Young». Spätestens als der Erzähler den schnell wieder gen Westen Abziehenden folgt, merkt er, dass deren Interesse für die Ereignisse im Ostteil des Landes über einen oberflächlichen Revolutionstourismus nicht hinausreicht. Und die Zeit an der Frankfurter Universität konfrontiert ihn mit endlosen Debatten ohne größere Substanz und der Erkenntnis, dass man in den alten Ländern zwar dem Verschwinden der DDR begeistert applaudierte, es aber keineswegs als den Beginn des Verlustes aller eigenen hergebrachten Sicherheiten ansah.
Mit Schneckenparadies ist Kuhlbrodt eine sehr subjektive, dennoch aber über die Autobiografie des Autors weit hinauszielende Annäherung an die Zeit des deutschen Umbruchs gelungen. Der in viele Erzählsplitter zerfallende Text ist immer dann am besten, wenn er Typisches nicht bloß behauptet, sondern in eingängigen Bildern und Anekdoten vorführt. Der Problematik dieser Art Erinnerungsprosa ist sich der Autor stets bewusst. Schon auf der ersten Seite beruft er sich auf Jakob Johann von Uexkülls Diktum2, wonach es so viele Welten wie die in der einen Welt lebenden Individuen gibt, jeder Lebende also auch seine ganz eigene Vergangenheit besitzt. Wichtig ist ihm deshalb nicht nur der historische Abstand, aus dem heraus er sich seinem Gegenstand nähert, sondern auch das richtige Maß zwischen Verklärung und Reflexion. Herausgekommen ist ein in den Details stimmiges Porträt, durch das hindurch die Konturen der Zeit schimmern – also nicht mehr und nicht weniger als gute Literatur.
Von Dietmar Jacobsen
Jan Kuhlbrodt: Schneckenparadies. Leipzig: Plöttner Verlag, 2008.
Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de
1 Spon|ti, der; -s, -s [zu spontan; -i] (Politik Jargon): Angehöriger einer undogmatischen linksgerichteten Gruppe.
2 Dik|tum, das; -s, Dikta [lat. dictum, eigtl.= das Gesagte] (bildungsspr.): [bedeutsamer, pointierter] Ausspruch: ein scharfsinniges D.