Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №20/2009

Das liest man in Deutschland

«Ich fange an, Neues zu sehen»

Zur aktuellen Monografie über Rainer Maria Rilke von Gunter Martens und Annemarie Post-Martens

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Die Popularität von Künstlern, Schriftstellern und Dichtern unterliegt einem zyklischen Wandel. Das Werk des 1875 in Prag geborenen Dichters Rainer Maria Rilke ist keine Ausnahme und wurde, hier liegt Jürgen Busche, der die neu erschienene Monografie für die Zeitschrift «Cicero» rezensierte, ganz richtig, zu anderen Zeiten bereits mehr rezipiert.
Zu wenig eingängig1 scheinen heute den meisten Lesern seine Duineser Elegien, die Sonette an Orpheus oder auch das durch den längeren Paris-Aufenthalt inspirierte Romanfragment Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, zu schemenhaft ist den meisten nur die Person hinter den Versen und ihr Werdegang bekannt.
Dass Rilkes Leben auch abseits von ästhetischen Diskursen genug Anreiz2 bietet, seine Gedichte einmal (mehr) in die Hand zu nehmen, zeigen Gunter Martens und Annemarie Post-Martens innerhalb der ihnen durch die Einbettung in die rororo Monografien-Reihe gesetzten Grenzen.
Informativ, eingängig, aber nicht banal, ergänzt durch eine Zeittafel, vervollständigte Fotografien und farbige Bilder, versehen mit kleinen Randnotizen zu den Biografien zweier prägender weiblicher Bekanntschaften des Dichters – von Lou Andreas-Salomé und Paula Modersohn-Becker – die alle wichtigen Grundlagen und Daten einwebende Monografie.
Auffällig ist, dass ein biografischer Vermerk zu Auguste Rodin fehlt – genau wie jene zu allen weiteren männlichen Einflusspersonen, obwohl der französische Bildhauer die Arbeit Rilkes, wenn auch vielleicht nicht in dem gleichen Maße wie Lou Andreas-Salomé, so doch um einiges mehr als die Worpsweder Künstlerin Paula Modersohn-Becker beeinflusst hat. Immerhin wird Rodin überhaupt erwähnt, im Gegensatz zu Rilkes Bekanntenkreis, «der sein Zentrum im Salon der Verlegergattin Bruckmann hatte, wo Rilke auch den vehementen3 Antisemiten Alfred Schuler traf, dessen Vorträge er mehrfach besuchte».
Auch Rilkes Begegnung mit dem Germanisten Norbert von Hellingrath, der Herausgeber Hölderlins war, fällt unter den Tisch4. Eine Auslassung, die jedoch nicht als Fahrlässigkeit geahndet5 werden muss, sondern vielmehr die persönliche Handschrift der Autoren bei der Auswahl sichtbar macht. Norbert von Hellingrath ist bei den vernachlässigten Elementen der Monografie in guter Gesellschaft, auch Rilkes Liebschaft mit der Ehefrau Yvan Golls, Claire Goll, fehlt zum Beispiel vollständig, obwohl mit Ich sehne mich sehr nach Deinen blauen Briefen ein umfassender Briefwechsel der beiden im Wallstein Verlag vorliegt.
Auch das 1902 verfasste Gedicht Der Panther findet nur ganz am Rande Erwähnung. Obwohl es heute ohne Zweifel zu Rilkes bekanntesten lyrischen Arbeiten gehört, haben Martens und Post-Martens anderen Passagen aus Rilkes Werk beim Abdruck den Vorzug gegeben, so beispielsweise den folgenden an Lou Andreas-Salomé gerichteten Zeilen aus dem 1905 erschienenen Stundenbuch, die ohne Weiteres einen höheren Bekanntheitsgrad verdient hätten: «Lösch mir die Augen aus: Ich kann Dich sehn / Wirf mir die Ohren zu: ich kann Dich hören / Und ohne Fuß noch kann ich zu Dir gehen / Und ohne Mund noch kann ich Dich beschwören. / Brich mir die Arme ab: ich fasse Dich / Mit meinem Herzen wie mit einer Hand / Reiß mir das Herz aus und mein Hirn wird schlagen / Und wirfst Du in mein Hirn den Brand / So will ich Dich auf meinem Blute tragen.»
Editorische Entscheidungen wie diese bergen natürlich immer das Risiko, dass wesentliche Themenkomplexe oder Informationen vernachlässigt werden, eröffnen aber so auch dem vorgebildeten Rilke-Laien die Möglichkeit, abseits des Hauptwerks «Neue Dinge zu sehen».
So unumgänglich Der Panther aufgrund seiner selten erreichten Kombination aus Leichtigkeit der Zeilen und Schwere des Inhalts in formaler Perfektion auch sein mag, so dankbar wird mancher sein, statt dem bekannten Gedicht diese an Rilkes lebenslange Verbündete gerichtete, eindringliche lyrische Liebeserklärung zu finden, die darüber hinaus auch die Richtung der Monografie vorgibt.
Das – ohne Zweifel dominante – Thema «Rilke und die Frauen» kommt auch in diesem Überblickswerk zum Tragen, wird allerdings in angenehm nüchterner Art behandelt. Eine Verklärung Rilkes als Frauenschwarm findet jedenfalls nicht statt. Die Autoren lassen keinen Zweifel daran, dass Rilke von den Frauen durchaus als körperlich unattraktiv empfunden wurde – Valerie von David Rhonfeld beschrieb explizit «seine durch ständigen Schnupfen geschwollene Nase, den gro­ßen Mund mit wulstigen Lippen und [...] das lange, schmale, von Eiterpusteln [...] entstellt[e] Gesicht». Hinzu kommt, dass bedingt durch Rilkes Depressionen immer wieder wichtige Verbindungen zerbrachen. Dass neben Rilkes Versuchen, seine Beziehungen zu Frauen erfolgreich zu gestalten, auch die sich in ständigem Reisen manifestierende Suche nach einer Heimat und die ertragreiche wie zermürbende6 Auseinandersetzung mit den modernen europäischen Großstädten – allen voran Paris und Rom – Rilkes Schaffen maßgeblich beeinflussten, wird angedeutet, eine weitere Ausführung fehlt leider. Zu ihren Gunsten hätte auf Erläuterungen zu Rilkes Ansicht über die Reformpädagogik in Göteborg getrost verzichtet werden können.
Überhaupt tritt die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Phänomenen der Zeit deutlich hinter die Bewertung persönlicher Bindungen zurück. Ein Vorgehen, das durchaus im Kontext der bisherigen Rilkeforschung zu sehen ist, die es vorzieht, gesellschaftliche und soziologische Aspekte aus der Deutung auszuklammern. Dabei lassen sich solche, wie vor allem Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge zeigen, in Rilkes Werk durchaus finden – wendet man die entsprechende Lesart an.
Abgesehen von solchen Feinheiten vermittelt die Monografie eine gute Basis, auf der sich der Rilke-Interessierte mit weiterführender Literatur die sperrigeren und komplexeren Aspekte in Leben und Werk des Dichters erschließen kann. Die Lektüre weckt den Wunsch, Rilkes Gesammelte Werke aus dem Bücherregal zu nehmen und im Garten seiner ehemaligen Wirkungsstätte in Paris – des heutigen Rodinmuseums – vor dem Hintergrund des mithilfe der Lektüre angesammelten Wissens erneut auf Spurensuche zu gehen. Die Monografie wird somit ihrem eigenen Anspruch, den Voraussetzungen und Bedingungen von Rilkes Entwicklung zum außerordentlichen Dichter nachzugehen, gerecht.

Von Frauke Schlieckau

Gunter Martens / Annemarie Post-Martens: Rainer Maria Rilke. Biographie. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009.

Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de



1 ein|gän|gig <Adj.>: sich leicht einprägend; gefällig, unkompliziert: -e Balladen.

2 An|reiz, der; -es, -e: etw., was jmds. Interesse erregt, ihn motiviert, etw. zu tun; Antrieb: ein materieller, finanzieller A.; ein A. zum Sparen; etw. erhöht den A., bietet keinen A. mehr.

3 ve|he|ment <Adj.> [zu Vehemenz od. (wohl unter Einfluss von frz. véhément) < lat. vehemens (Gen.: vehementis), wohl urspr. = einherfahrend, auffahrend u. zu: vehere, Vehikel] (bildungsspr.): ungestüm, heftig: -e Windstöße; ein -er Protest; der Kampf wurde v. geführt; etw. v. verteidigen.

4 unter den Tisch fallen (ugs.): nicht berücksichtigt, getan werden; nicht stattfinden: das Projekt ist unter den T. gefallen.

5 ahn|den <sw. V.; hat> (geh.): (eine missliebige Verhaltensweise o. Ä.) bestrafen: ein Unrecht, Vergehen streng a.; etw. mit einer Geldbuße a.

6 zer|mür|ben <sw. V.; hat> [spätmhd. zermürfen]: völlig mürbe machen, jmds. körperliche, seelische Kräfte, seine Fähigkeit, einer Belastung standzuhalten, brechen: Sorgen, Kummer zermürbten ihn; die Ungewissheit war zermürbend.