Literatur
Helga Schubert
Mein Vater
Fortsetzung aus Nr. 18, 19/2009
Hab immer seine Nase nicht, doch habe nur sein Herz, sangen sie abends an meinem Bett.
Er hat so viel erlebt, und es gab so viel von ihm zu erzählen, daß sein Leben wie ein aufgeblättertes Buch vor mir lag. Ich war zwanzig. Was hat er da gemacht?
1933 war es. Er studierte schon Jura. Mädchen aus der guten Gesellschaft der Kleinstadt machten ihm Avancen. Doch er mochte es nicht, wenn ihm eine entgegenkam. Deshalb wollte er auch die Berliner Studentin, die sich bei ihm ummelden sollte, ihm, dem Leiter der Studentenschaft. Er nahm die Füße nicht vom Schreibtisch, sie antwortete schnippisch. Meine Eltern.
Dann war ich fünfundzwanzig. Was hat er da gemacht? 1938 war das. Und es gibt drei eingeklebte Fotos, von ihm, seinem Bruder und seinem Vater: Alle drei in der neuen SA-Uniform. Und meine Eltern verlobten sich. In dem Alter ließ ich meine erste Ehe scheiden.
Ich begann parallel zu ihm zu leben: siebenundzwanzig, achtundzwanzig, jetzt achtundzwanzig Jahre, drei Monate und einen Tag: Der 8. April 1968. Von heute an, dachte ich, überlebe ich ihn, lebe mein eigenes Leben, lebe nicht mehr im Schatten eines Erwachsenen, eines Verklärten, an den ich erinnere.
Denn ich bin ich und nicht nur seine Tochter.
Ich habe die Tage gezählt, dann die Jahre. Schon zehn Jahre. Elf Jahre. Zwölf Jahre.
Er hat Ähnlichkeit mit dir, sagen die Leute von meinem Sohn, besonders die Augen.
Neulich hab ich ihn so angesehn, sagte meine Mutter, die Frau meines Vaters, und da hab ich mit einemmal gemerkt, was er für eine Ähnlichkeit mit deinem Vater hat, der Gang, die Bewegungen, er hat ihn doch nie gesehen. Auch sein Wesen, sagte meine Mutter, dieser Familiensinn, dieses Gemütliche. Ja, ganz ohne Zweifel, er kommt nach seinem – ja, es ist ja nun sein Großvater.
Ich bin ganz sicher, sagte sie mit einem Blick auf mein Kind.
Die Silberkrone
1
Wenn Marie was von mir will, kommt sie hintenherum.
Durch den Garten, übern Hof. Wie sich alle hier im Dorf besuchen. Sie bringt einen Topf Suppe oder einen Teller mit Kartoffelpuffern, in Speck gebraten, eine Schüssel Eier, einen Strauß Rhabarber, frischen Zwiebellauch oder kleine Gurken. Und sagt: Da, nimm, hoffentlich stör ich nicht.
Ich bedanke mich. Sie holt sich den Schemel unterm Küchentisch vor, setzt sich breitbeinig und legt die Hände zwischen die mächtigen Schenkel. Eine junge Babuschka.
Essen brauch ich erst halb zwölf aufsetzen. Das Haus und das Vieh hab ich fertig. Da dacht ich, gehste mal rüber.
Marie sieht mir abwesend beim Teigrühren zu. Dann fällt ihr Blick auf die Johannisbeerreiser, die wir gestern eingepflanzt haben. Nimm mir’s nicht übel, die schwarzen Johannisbeeren habt ihr zu dicht gesteckt. Ich will mich ja nicht einmischen, aber das werden solche Büsche. Dabei breitet sie die Arme aus. Dann sieht sie sich unruhig um.
Ich rühre weiter.
Paul ist noch nicht zurück aus dem Stall, aber ich will dich nicht belasten, sagt sie leise und sieht mich an. Ihre Augen sind feucht.
Meinst du, er sitzt noch in der Kneipe?
Sicher. Und gestern nach der Silberhochzeit von seiner Schwester war er auch blau. Den Rückweg, das letzte Stück, bin ich zu Fuß gegangen. Ich hatte solche Angst. Denn wenn das Pferd die Peitsche sieht, läuft es zu schnell, das ist mir nichts. Was das mal werden soll mit ihm.
Sie hat Tränen in den Augen.
Er ist doch nicht schlecht zu dir, wenn er betrunken ist?
Das war einmal, sagt sie bitter. Jetzt geh ich ihm aus dem Weg. Ein falsches Wort – und er ist hoch.
Sie hält den Kopf gesenkt, sieht nach links und rechts in die Richtung der anderen Häuser und redet noch leiser: Sprich nicht drüber, aber manchmal denke ich, wenn er mal auf der Straße liegenbleibt – ich weine ihm nicht nach. Sie verbirgt ihr Gesicht in den Händen.
Er hat sich vielleicht an den Alkohol schon gewöhnt. Es richtet sich nicht gegen dich.
Aus: Helga Schubert: Schöne Reise. Geschichten. Aufbau-Verlag,
Berlin und Weimar 1988. S. 54–66, 113–117.
Der Abdruck folgt dem Original von 1988 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.
auf|blät|tern <sw. V.; hat>: 1. a) (die Seiten eines Buches, einer Zeitung o. Ä.) aufschlagen [um etw. zu suchen]: ein Wörterbuch, den Anzeigenteil der Zeitung a.; b) die Seiten eines Buches o. Ä. flüchtig u. schnell umschlagen: gelangweilt eine Illustrierte a. 2. <a. + sich> (geh.) (von Blüten) sich öffnen: die Rosen haben sich schon aufgeblättert.
Avan|ce, die; -, -n [frz. avance, zu: avancer, avancieren]: 1. (veraltet) a) Vorteil, Gewinn; b) Geldvorschuss. 2. *jmdm. -n machen (1. geh.; jmdm. gegenüber sein Interesse an ihm, an einer Beziehung mit ihm deutlich erkennen lassen. 2. jmdm. bestimmter Vorteile wegen deutliches Entgegenkommen zeigen, um ihn für sich zu gewinnen).
ent|ge|gen|kom|men <st. V.; ist>: 1. a) auf jmdn., etw. [Herankommendes] zukommen: er kam mir ein Stück entgegen; der entgegenkommende Wagen hat ihn geblendet; b) sich in bestimmter Weise gegenüber jmdm. verhalten: man kam ihm freundlich, mit Achtung entgegen. 2. a) Zugeständnisse machen; auf jmds. Wünsche, Forderungen eingehen: wir kommen Ihnen, Ihren Wünschen gerne entgegen; sich [gegenseitig] auf halbem Weg e. (sich aufgrund beiderseitiger Zugeständnisse einigen); b) entsprechen, gerecht werden: diese Arbeit kommt seinen Neigungen sehr entgegen.
schnip|pisch <Adj.> [älter auch: schnuppisch, zu frühnhd. aufschnüppich = hochmütig, ostmd. aufschnuppen = die Luft durch die Nase ziehen (um eine Missbilligung zu zeigen), zu schnupfen] (abwertend): (meist auf Mädchen od. Frauen bezogen) kurz angebunden, spitz u. oft respektlos-ungezogen [antwortend, jmdm. begegnend]: sie ist eine -e Person; s. sein, antworten.
ver|klärt <Adj.>: beseligt, beglückt (im Ausdruck): ein -es Gesicht; mit -em Blick; v. lächeln.
ab|we|send <Adj.> [1: aus dem Niederd., für lat. absens, absent]: 1. nicht an dem erwarteten Ort befindlich, nicht zugegen, nicht vorhanden, nicht da: der -e Geschäftsführer; er war viel von zu Hause a. 2. in Gedanken verloren, nicht bei der Sache, unaufmerksam: mit -en Blicken, Augen; a. lächeln.
blau <Adj.> [viell. nach dem Schwindelgefühl des Betrunkenen, dem blau (blümerant) vor den Augen wird]: (ugs.) betrunken: wir waren alle ziemlich b.; *b. sein [wie ein Veilchen/wie ein Eckhaus/wie eine Frostbeule/wie [zehn]tausend Mann/wie eine [Strand]haubitze o. Ä.] (ugs.; [völlig] betrunken sein).
nach|wei|nen <sw. V.; hat>: nachtrauern, um einen Verstorbenen trauern: einem verstorbenen Freund n.