Das liest man in Deutschland
Beziehungskonstrukte
Peter Stamms Roman «Sieben Jahre» erzählt von der beengenden Architektur einer vernünftigen Ehe und bleibt bis zur letzten Seite spannend.
«Alles ist anders. Alles ist neu. Alles ist schön.» Schön ist Sonja, die selbstbewusste Münchner Architekturstudentin aus wohlhabendem, gutbürgerlichem Hause mit besten Aussichten auf eine erfolgreiche Karriere. Schön sind auch die Vorstellungen einer gemeinsamen Zukunft mit Alex, dem begabten Kommilitonen, mit dem sie nach überstandenen Strapazen des Studienabschlusses auf der Sommerfahrt nach Marseille eine Beziehung eingeht. Ihre Liebe ist von Anfang an wohlüberlegt; die erste Annäherung keineswegs «aus einer Laune heraus» unternommen, der erste Kuss «eine Entscheidung» – wie so vieles, auch dies eine «Frage der Einstellung». Kontrolliert und ebenso befangen lässt sie die ersten Liebesberührungen über sich ergehen, sie, die strategische Planerin, die niemals kopflos zu handeln, sich niemals zu vergessen scheint. Auch Alex empfindet «nicht so sehr Liebe als Glück und Zuversicht und vielleicht auch Stolz» in jenen Marseiller Tagen, in denen sie als frisch diplomiertes Architektenpaar berühmten Gebäuden namhafter Baumeister nachspürten. Dennoch, blickt Alex zurück, waren es wohl die schönsten Momente und «vielleicht die glücklichsten» Tage ihrer Beziehung.
Neu ist auf einmal vieles im Leben von Alex, als er kurz vor der Reise an die französische Küste Iwona, der unscheinbaren, blassen, meist vollkommen teilnahmslosen, rückständigen Frau begegnet, die kaum spricht, sich nicht zu kleiden weiß und dem ersten Eindruck nach jedweder Reize und Talente entbehrt. Kurz vor der Beziehung mit Sonja lässt er sich mit der eigenartigen jungen Polin ein, die sich illegal in der Stadt aufhält und anfangs in einer christlichen Buchhandlung arbeitet. Ihr kann er sich nicht entziehen, Iwona, die ihn gleichzeitig «Angst und Befreiung» spüren lässt und in ihm, kaum hat er sich ihrer bemächtigt, das Bedürfnis hervorruft, sie im nächsten Augenblick «zu kränken». Iwona, die ihn «auserwählt» und beschlossen hat, ihn in vollkommener Hingabe bedingungslos zu lieben in einer «Parallelwelt», in der alles seinem Willen zu unterliegen scheint. Damals stürzt sich Alex mit der gleichen Obsession in das Vorhaben, seine Abschlussarbeit unmittelbar vor dem Diplom komplett neu zu entwickeln. Mit solch großem Eifer wird er sich später im gemeinsamen Architekturbüro mit Sonja keinem Auftrag mehr widmen.
Anders als vorgesehen, verläuft das Leben mit Sonja: kein Einfamilienhaus am See mit zwei Kindern, sondern ein Reihenhaus nach Heirat und Firmengründung in der Nähe der Schwiegereltern. Haus und Geschäft gehen beinahe verloren, doch finanzielle Krise und Beziehungstief werden überwunden. Der Kinderwunsch bleibt unerfüllt. Später werden sie ein Mädchen adoptieren – das Kind von Alex und Iwona. So manches Vorhaben ist Entwurf, ist Skizze geblieben. Wie die neu angeschafften, noch unbenutzten Gegenstände in der ersten gemeinsamen Wohnung dann doch nur «ein Versprechen waren auf ein neues Leben», verstaubt auch Sonjas Hausmodell, das sie einst für sich und Alex entworfen hatte. Kein Resultat in Sicht in den achtzehn Ehejahren, «mit Sonja baute ich mir etwas auf, was nie ganz fertig wurde». Alex und Sonja, «ein schönes Paar in einer schönen Wohnung», die für andere Wohnhäuser bauen. «Es ist absurd, hatte sie einmal gesagt, wir beschäftigen uns den ganzen Tag mit schönen Gebäuden, aber wir werden es uns nie leisten können, eines zu bewohnen.»
«Alles ist anders. Alles ist neu. Alles ist schön.» Damals in Marseille, als er gemeinsam mit Sonja die Cité Radieuse besuchte, entdeckte Alex in einem Schaukasten dieses Zitat von Le Corbusier, dem Meisterarchitekten – und Sonjas Idol – mit seinem Traum von der «ideal» maßgeschneiderten Wohneinheit, den Wohnmaschinen und Reißbrettstädten. Und einen Moment lang dachte Alex, er könne daran glauben. Doch dann – nach sieben Jahren – erneute Treffen mit Iwona. Iwona, die so ganz anders war als Sonja. Und eines Tages war Iwona schwanger.
Auf fast 300 Seiten, in seinem bisher umfangreichsten Roman, skizziert Peter Stamm Schlüsselszenen und Stationen der Ehe, indem er Alex in Rückblicken erzählen lässt, was sich in den zwanzig gemeinsamen Jahren mit Sonja zugetragen hat. Er schildert seine Erinnerungen der Malerin Antje, bis sich alles zu einem Ganzen fügt. Bei ihr verlebten sie damals jene glücklichen Tage in Marseille; dort, wo ihre Geschichte begann. Neben den Skizzen dieser einen Ehe bringt Stamm weitere Beziehungsmodelle zur Sprache, indem er die unterschiedlichen Entwürfe beleuchtet – von der scheinbar gut bürgerlichen Ehe bis zur tragisch endenden Amour fou
1 –, die sich im Freundes- und Bekanntenkreis rund um Sonja und Alex im Laufe der Zeit formieren.
Stamm entwirft in Sieben Jahre Menschenkonstellationen2 auf ähnliche Art und Weise, wie er die Protagonisten Haus und Leben planen und vermessen lässt. Wie bereits in früheren Werken (etwa Wir fliegen oder Ungefähre Landschaft) zeichnet Stamm auch hier in kurzen, prägnanten Sätzen aus einer gewissen Distanz die Versuche seiner Figuren nach, sich untereinander zu verbinden, sich gleichzeitig aus dem eigenen Beziehungsgeflecht zu entwirren3, sowie ihren Drang, der inneren Befangenheit zumindest ein wenig zu entkommen. Wie das bewusst eingeschränkt gehaltene Vokabular noch verdeutlicht, kommen sie in ihrem Handeln kaum über den begrenzten Rahmen ihrer Idealvorstellungen hinaus. Trotz der klar analysierten Spirale von Zwängen, denen sich Stamms Personal ausgeliefert sieht, entwickelt sich bei der Lektüre ein Sog4, dem sich der Leser nicht entziehen kann.
Die Spannung des Romans, die bis zur letzten Seite anhält, liegt in der Erwartung der Auflösung. Großartig erzählt Stamm vom unlebbaren Zustand der Enge. Die Statik der gemeinsamen Ehe-Konstruktion gerät zusehends ins Wanken. Die Außenhülle wird immer transparenter. Zur Freude des Lesers bekommt auch die so gradlinig gezeichnete Figur Sonja kleine Risse, wenn sie, herausgefordert durch Alex’ Handeln, kurzzeitig ihre Fassade fallen lässt. So wird einem ein immer größerer Einblick in die ursprünglich auf genau festgelegtem Grundriss so dicht konzipierte Form ihres Zusammenlebens gewährt. Der Leser wünscht sich mit dem Ende der Geschichte aus dieser unerträglichen Anspannung heraus, in der jeder Plan schon in den ersten Realisierungsentwürfen zur Stagnation verurteilt ist.
Von Iris Spalinger
Peter Stamm: Sieben Jahre. Roman. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2009.
Der Text ist entnommen aus: http://www.literaturkritik.de
1 Amour fou, die; - - [frz. amour fou]: verhängnisvolle, leidenschaftliche, rasende Liebe: zwischen den beiden entwickelte sich eine A. f.
2 Kon|stel|la|ti|on, die; -, -en [spätlat. constellatio = Stellung der Gestirne, zu lat. stella = Stern]: 1. (bildungsspr.) Gesamtlage, wie sie sich aus dem Zusammentreffen besonderer Umstände, Verhältnisse ergibt: eine neue, veränderte, [un]günstige politische K. 2. (Astron., Astrol.) Stellung der Planeten u. des Mondes zur Sonne u. zueinander [in ihrer astrologischen Bedeutung]: die Planeten erscheinen in einer seltenen K.
3 ent|wir|ren <sw.V.; hat> [zu wirren] (geh.): 1. (ungeordnet Verschlungenes) auseinanderziehen, ordnend auflösen: einen verknoteten Bindfaden nicht e. können. 2. a) die Unklarheit, Schwierigkeit einer Sache auflösen: die politische Lage e.; b) <e. + sich> seine Unklarheit, Schwierigkeit verlieren u. sich auflösen lassen: die Lage entwirrte sich.
4 Sog, der; -[e]s, -e [aus dem Niederd. < mniederd. soch, eigtl. = das Saugen, zu saugen]: 1. (in der nächsten Umgebung eines Strudels od. Wirbels od. hinter einem sich in Bewegung befindenden Gegenstand, z. B. einem fahrenden Fahrzeug, auftretende) saugende Strömung in Luft od. Wasser: einen S. erzeugen; in den S. der Schiffsschraube geraten; Ü der S. (die starke Anziehungskraft) der großen Städte. 2. (Meeresk.) Strömung, die unter landwärts gerichteten Wellen seewärts zieht.