Wissenschaft und Technik
Tanzende Gedanken
Forscher streiten: Entstehen neue Ideen im Gehirn durch Zufall, oder ist Kreativität ein rein logischer Prozess, den bald auch Computer beherrschen können?
Ein weiteres Ergebnis der Wissenschaftsforschung spricht nur auf den ersten Blick gegen die Zufallstheorie: In jedem Fach produziert gerade mal ein Zehntel der Wissenschaftler die Hälfte der Kongressbeiträge, Aufsätze und Bücher. Auch für die Hälfte der viel zitierten Top-Arbeiten zeichnet nur ein Zehntel verantwortlich. Sind das die Superhirne, wie sie deutsche Politiker neuerdings so gerne an Elite-Universitäten heranzüchten wollen?
Kaum. Denn die gleichen Leute produzieren auch das Gros der Flops, wie Simonton bei der Analyse von Untersuchungen zum Thema herausfand. Selbst Einstein leistete sich einen mit seiner einheitlichen Feldtheorie. Die schnellen Brüter bringen zwar mehr Ideen hervor, aber im Schnitt keine besseren. Auch wenn es schwer zu glauben ist: Von Zufallsschwankungen abgesehen ist der Anteil brillanter Ideen bei gefeierten Wissenschaftlern nicht höher als bei anderen. Simonton nennt dies die «Regel der gleichen Chancen». Da bleibt wenig vom Mythos des Genies.
Auch hohe Intelligenz scheint nicht die entscheidende Ingredienz für wissenschaftliche Genieblitze zu sein. Natürlich müssen Wissenschaftler viel Verstand mitbringen.
«Man braucht einen IQ von etwa 140, um genug Physik zu lernen, damit man dort kreativ sein kann», sagt Simonton. Andere setzen die Schwelle etwas niedriger. Aber wo die Grenze auch immer liegt: Ist sie einmal überschritten, erhöhen zusätzliche IQ-Punkte die Kreativität nicht weiter, so die Studienlage. Für Simonton beginnt hier das Reich des Zufalls.
Auch andere Persönlichkeitseigenschaften verhelfen offenbar nicht zu einem höheren Anteil guter Ideen. Zwar gibt es eine Fülle von Belegen, dass eminent kreative Wissenschaftler ein besonderer Menschenschlag seien. So zählen sie nicht unbedingt zu den freundlichsten Zeitgenossen. Sie sind «dominant, arrogant, feindselig und von sich selbst überzeugt», fasst Gregory Feist, Psychologie-Professor am College of William and Mary im amerikanischen Williamsburg, die Ergebnisse vieler Studien zusammen. Aber solche Züge befördern nicht unbedingt die Kreativität selbst. Feist zufolge helfen sie jedoch, in der «sehr wettbewerbsorientierten Welt der Wissenschaft» an die nötigen Forschungsmittel zu kommen.
Überdies braucht es einen gewissen Eigensinn, sich von althergebrachten Schulweisheiten zu lösen. «Alles hinterfragen», rät Klaus von Klitzing – und sich nicht zu viel sagen lassen «von irgendeinem Vorgesetzten, der die Wahrheit gepachtet hat». Aber Sturköpfigkeit allein macht noch keinen originellen Geist.
Was zeichnet dann Menschen aus, die mehr – gute und schlechte – Einfälle hervorbringen? Zumindest eine wesentliche Eigenheit ist bekannt: Im Kopf von Kreativen werden Ideen freier als bei anderen kombiniert. Jeder Gedanke ruft ungewöhnlich viele Assoziationen hervor, auch wenn die natürlich längst nicht alle einen Sinn ergeben.
Bei Kreativen herrscht mehr Chaos im Kopf als bei anderen. In diesem Punkt ähneln sie Schizophrenen. Diesen verblüffenden Befund präsentierte ein Team um die Harvard-Psychologin Shelley Carson im vergangenen Jahr. Die Forscher befassten sich mit der sogenannten latenten Hemmung. Sie dient dazu, Reize auszublenden, die erfahrungsgemäß unwichtig sind für das, was gerade im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Bei Schizophrenen mit Wahnzuständen ist diese Fähigkeit schwach ausgeprägt. Shelley Carson vermutete jedoch, dass die gleiche Eigenheit bei hoch intelligenten Menschen zu mehr kreativen Ideen führt.
Darum testete das Team die latente Hemmung von Harvard-Studenten und erfasste gleichzeitig deren Kreativität. Es zählte beispielsweise die Preise, die die Versuchspersonen mit ihren Arbeiten bekommen hatten. Tatsächlich zeichnete sich der kreative Nachwuchs durch eine ungewöhnlich geringe latente Hemmung aus.
Geringe latente Hemmung geht einher mit hoher «Offenheit für neue Erfahrungen», einer der zentralen fünf Persönlichkeitseigenschaften, die als «Big Five» bekannt sind. Neben Offenheit zählen dazu Extraversion, emotionale Stabilität, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit. Offene Menschen probieren gern Neues aus und lassen sich auf Ungewöhnliches ein. So kommen sie an zusätzliche Ideen, die dann im Kopf ganz neue Kombinationen bilden können.
Die Zusammensetzung von Forschergruppen spielt daher eine wichtige Rolle. Denn viele Entdeckungen werden heute im Team gemacht. Der kanadische Psychologie-Professor Kevin Dunbar von der McGill University in Montreal konnte nachweisen, dass Teams mit Vertretern unterschiedlicher Fachrichtungen Probleme effektiver lösen.
Martin Ruef, Soziologie-Dozent an der Stanford Graduate School of Business, hat vor Kurzem gezeigt, dass Ähnliches auch für Innovationen in Unternehmen gilt. Er untersuchte, wie erfolgreich 766 ehemalige Studenten der Elite-Hochschule waren, die sich als Firmengründer versucht hatten. Als entscheidend erwies sich, mit wem die Jung-Unternehmer Umgang pflegten. Wer seine Zeit nicht nur mit Freunden und der Familie verbringt, sondern auch mit Fremden und entfernten Bekannten, ist dreimal so innovativ wie jene, die im eigenen Sumpf verharren. Als Maßstab für Innovationen dienten beispielsweise Patente und die Eroberung neuer Marktnischen. Kontakte mit Menschen, die man nicht so gut kennt, «erlauben mehr Experimentieren mit der Kombination von Ideen aus ganz unterschiedlichen Quellen», erläutert Ruef.
Paul Erdös, einer der größten Mathematiker des vergangenen Jahrhunderts, nutzte die Vorteile der Begegnung mit Fremden auf seine Weise. Mehrere Jahrzehnte reiste er fast ununterbrochen durch die Welt und löste mit Kollegen mathematische Probleme. Ein neues Dach über dem Kopf brachte dabei oft einen neuen Beweis. Und das war auch das legendäre Motto von Erdös: «Another roof, another proof.»
Der Text ist entnommen aus: http://www.bild-der-wissenschaft.de