Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №3/2009

Literatur

Klaus Schlesinger
Leben im Winter

I

Der erste Gast war Marthas Cousin. Kurz nach neun Uhr stand er, hustend und blaugefroren, vor der Tür, lange bevor er erwartet wurde.
Irgendwann zwischen vier und fünf war er, wie öfter in letzter Zeit, durch einen hellen Schlag im Kopf geweckt worden, hatte aber, nach Momenten der Klarheit, die Augen wieder geschlossen, an Anna gedacht und an das Isergebirge, war den Bach hinabgefahren, schneller als sonst, beängstigend schnell, zwischen den gräflichen Wiesen und der Burg Schönstein, Anna lief am Ufer neben ihm her, lachte und rief: Herr Knecht, Herr Knecht!, im Bett gegenüber schnarchte der Krumme und wälzte sich auf die andere Seite, er zwang sich, noch einmal an Anna zu denken, sah aber Martha und dachte: Heut ist ja Sonntag!, und sein Herz klopfte so heftig und schnell, daß er es nicht mehr aushielt und mit der flachen Hand auf den Nachttisch schlug.
Augenblicklich erstarb das Geräusch gegenüber. Er hörte Bettzeug rascheln, als habe der Krumme sich aufgerichtet und lausche in das Dunkel des Zimmers.
Er atmete tief, als schliefe er, dachte: Die Uhr! Jetzt muß er zur Uhr sehn!, hörte ein leises, kaum vernehmbares Klappern, und schließlich, nach einer langen Stille, seinen Namen.
– Albert? flüsterte der Krumme.
Er stöhnte und genoß die Momente, da Ruhe in seinen Körper zurückkehrte, wie früher den Geruch von Heu und Pferdeschweiß, schob sich auf die andere Seite, murmelte, mit Unwillen in der Stimme: Wie spät is denn? und fuhr, als der Krumme, immer noch flüsternd, geantwortet hatte, es sei gleich halb fünf, von seinem Bett hoch und sagte: Ach, Scheiß! Nich mal am Sonntag kannste schlafen!
– Entschuldige, sagte der Krumme. Ich dachte, du bist wach.
– Um halb fünf? sagte er und schob seine Beine aus dem Bett.
– Entschuldige, sagte der Krumme noch einmal.
– Mach wenigstens Licht, sagte er und kniff die Lider zusammen und suchte die Augen des Krummen und gähnte und reckte sich erst, als er kein Mißtrauen in ihnen fand. Hundeaugen, dachte er.
– Wie wärs mitm Spiel, sagte der Krumme und schüttelte den Karton mit den Figuren.
– Nee, du! sagte er. Ich hab noch zu tun.
Der Krumme schwieg verdutzt und sah ihm zu, wie er frische Wäsche aus dem Kleiderschrank nahm, dann eines der weißen Hemden und den Anzug, und alles sorgfältig über den Stuhl legte, der am Ende des Bettes stand.
– Aber, sagte der Krumme, in die Quelle gehn wir doch?
Er sah in den Spiegel über dem Waschbecken und sah hinter sich die gedrechselten Aufbauten des Kleiderschrankes und sah Anna.
– Mensch, wenn der wüßte, sagte er zu ihr.
Sie saß vor der Waschtoilette und steckte sich das Haar auf, die dünnen Nadeln zwischen den Lippen. Wie in der Wohnung in der Schönhauser, vierter Stock mit Innenklosett.
– Einer muß es ihm doch sagen, sagte er zu Anna.
Mit der Linken hielt sie das Haar zusammen, mit der Rechten zog sie die Nadeln, eine nach der anderen, aus dem Mund.
– Kein Mensch muß müssen, sagte er und starrte in den Spiegel und hob die Schultern und sagte zu dem Krummen:
– Beim besten Willen nich.
– Aber heut ist doch Sonntag, sagte der Krumme.
Wie immer, wenn man ihm etwas abschlug, bekam seine Stimme einen weinerlichen Ton.
– Warum hast du denn nischt gesagt, sagte der Krumme. Du hättest doch was sagen können.

Fortsetzung folgt

Aus: Klaus Schlesinger: Leben im Winter. Hinstorff, Rostock 1989. S. 6–17

Der Abdruck folgt dem Original von 1989 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.

 

schnar|chen <sw. V.; hat> [mhd. snarchen, lautm.]: beim Schlafen meist mit geöffnetem Mund tief ein- u. ausatmen u. dabei ein dumpfes, kehliges Geräusch (ähnlich einem Achlaut) von sich geben: laut, mit offenem Mund s.; sie schnarcht schon (ugs. scherzh.; schläft schon fest [u. schnarcht]).

ra|scheln <sw. V.; hat> [lautm., Iterativbildung zu veraltet (noch mundartl.) raschen = ein raschelndes Geräusch verursachen]: a) ein Geräusch wie von bewegtem [trockenem] Laub von sich geben: das Laub raschelt im Wind; sie hörte Papier r.; <auch unpers.:> es raschelte im Stroh; b) ein raschelndes (a) Geräusch erzeugen: mit der Zeitung r.

re|cken <sw. V.; hat>: (den Körper, eine Gliedmaße) strecken u. dehnen: sich tüchtig r.; den Hals r.; sich [im Bett] r. und strecken.

ver|dutzt <Adj.>: überrascht, verblüfft, verwirrt: ein -es Gesicht machen; v. sein, wirken, gucken.

drech|seln <sw. V.; hat>: durch Bearbeiten von Holz, Elfenbein, Horn o. Ä. auf der Drechselbank herstellen: eine Figur, einen Leuchter d.; gedrechselte Stuhlbeine; Ü Sätze, Phrasen d.; kunstvoll gedrechselte Verse.

ab|schla|gen <st. V.; hat>: ablehnen, verweigern, nicht gewähren: jmdm. eine Bitte a.; er hat mein Anliegen glatt, rundweg abgeschlagen.


Klaus Schlesinger (* 9. Januar 1937 in Berlin; † 11. Mai 2001 in Berlin) war ein deutscher Schriftsteller und Journalist.
Schlesinger wuchs in Berlin, Prenzlauer Berg auf. Schlesinger absolvierte 1951 bis 1957 eine Ausbildung als Chemielaborant und begann daneben 1956/57 ein Studium als Chemieingenieur in Westberlin, das er abbrechen musste. Danach arbeitete er als Lebensmittelchemiker und 1958–1964 als Chemielaborant am Institut für Virologie der Berliner Charité.
1964/65 nahm er an einem Kurs zur literarischen Reportage bei der Zeitschrift «Neue Berliner Illustrierte» (NBI) unter Leitung des in der DDR lebenden Schweizer Journalisten und Schriftstellers Jean Villain teil. 1965 wurde er bei der NBI entlassen. Nach einem Verfahren wegen Urheberrechtsverletzung wurden seine journalistischen Arbeiten bis 1968 nicht mehr veröffentlicht.
1968–1971 hatte Schlesinger einen Fördervertrag beim Hinstorff Verlag Rostock für die Fertigstellung seines Romans Michael. 1972 absolvierte Schlesinger einen Fernkurs am Literaturinstitut «Johannes R. Becher» in Leipzig und wurde 1973 Mitglied des DDR-Schriftstellerverbandes.
Die gemeinsam mit Ulrich Plenzdorf und Martin Stade im Selbstverlag geplante Veröffentlichung einer Anthologie junger DDR-Autoren unter dem Arbeitstitel Berliner Geschichten wurde von der Staatssicherheit durch gezielte «operative Maßnahmen» verhindert. Schlesinger wurde seit dieser Zeit von der Staatssicherheit observiert.
1974/75 organisierte Schlesinger mit Bettina Wegner, mit der er 1970 bis 1982 verheiratet war, zunächst die Veranstaltungsreihe «Eintopp» mit Literatur, Musik und Gesprächen bis zu ihrem Verbot und danach die Reihe «Kramladen», die «aus technischen Gründen» von staatlicher Seite geschlossen wurde.
Nach Beteiligung an mehreren Protestschreiben (gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976, für die im Zusammenhang der Biermann-Proteste Verhafteten) wurde er am 7. Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen.
Daraufhin übersiedelte er 1980 mit einem dreijährigen Reisevisum nach Westberlin. Dort war er 1982 bis 1992 in der Hausbesetzer-Szene (Potsdamer Straße) aktiv.
2000 wurde Schlesinger Mitglied der Akademie der Künste und erhielt den Erich-Fried-Preis. Am 11. Mai 2001 starb er in Berlin an Leukämie. Klaus Schlesinger wurde auf dem Französischen Friedhof beigesetzt.

Auszeichnungen: 1965 Preis des Staatlichen Rundfunkkomitees; 1972 Preis «Der erste Roman» von der Neuen literarischen Gesellschaft Hamburg; 1986 Ernst-Reuter-Preis für die Fernsehverfilmung von Leben im Winter; 1996 Stipendium im Schloss Wiepersdorf (Hörfunkbearbeitung der Tagebücher Victor Klemperers); 2000 Erich-Fried-Preis.

Werke: David. Erzählung (1960); Michael. Roman (1971); Hotel oder Hospital (1973); Neun (1974); Alte Filme. Erzählungen (1975); Berliner Traum. Erzählungen (1977); Leben im Winter. Erzählung (1980); Matulla und Busch. Kurzroman (1984); Fliegender Wechsel. Eine persönliche Chronik (1990); Berliner Geschichten. «Operativer Schwerpunkt ‹Selbstverlag›. Eine Autoren-Anthologie», Herausgegeben von Klaus Schlesinger, Ulrich Plenzdorf und Martin Stade (1995); Die Sache mit Randow. Roman (1996); Von der Schwierigkeit, Westler zu werden. Publizistik. Prosa (1998); Trug. Roman (2000); Die Seele der Männer. Erzählungen (2003).