Literatur
Klaus Schlesinger
Leben im Winter
Fortsetzung aus Nr. 03, 04, 05/2009
Die Tür war noch verschlossen. Erst beim zweiten Griff hatte sie den richtigen Schlüssel zur Hand, und sie war, als der kleine verfrorene Mann vor ihr stand, für einen Moment sprachlos, sah, die Stirn gerunzelt, auf den Koffer in seiner Hand, faßte sich aber schnell, rief: Nanu, Albert, so früh schon, breitete die Arme aus, umarmte ihn und küßte sogar seine Wange.
Er hatte sich zwingen müssen, bis zum Frühstück zu warten, doch als die Küchenfrau Punkt halb acht auf den Gong schlug, und der helle scheppernde Ton durch den langen Gang mit dem Ölpaneel raste, vorbei am Büro, an der Bank mit den Primeln, die Treppe hinauf bis ins Zimmer 112, in dem der Krumme stand und mit seinen dürren Händen die Tassen spülte, da schrie es in ihm vor Schmerz und Triumph, und er saß einen Moment atemlos und still und mußte dann alle Kraft zusammenreißen, um sich vom Stuhl zu erheben, nach dem kleinen Koffer zu greifen und nach der Ziehharmonika, die neben dem Kleiderschrank stand.
Der Krumme zappelte mit seinen langen Beinen und rief: Nu warte doch! Warte doch!, er aber hörte nicht, stieß die Tür auf und ging, so schnell er konnte, zur Treppe.
– Albert, rief der Krumme hinter ihm her. Mensch, Albert!
Jetzt haßte er den Krummen, wie er manchmal, in jungen Jahren, Anna gehaßt hatte, weil sie so selbstverständlich da war und so zu ihm gehörig, als könnte es nie mehr anders sein.
Auf der Treppe überfiel ihn die Vorstellung, der Krumme könne begreifen, was er vorhatte, und er ging schneller, die Augen starr auf die ausgetretenen Stufen gerichtet, die Hand am Geländer, und horchte, ob jemand hinter ihm herkäme, aber er hörte nur das Klappern seiner Schuhe und die eigenen kurzen Atemstöße.
Am Fuß der Treppe mußte er verschnaufen. Oben schlug eine Tür zu, aber er war nicht fähig zu sagen, ob es im ersten oder im zweiten Stock gewesen war, und er lief weiter, vorbei an der Tür zum Eßraum und an der Bank mit den Primeln, und jetzt fluchte er auf den Krummen, weil er dessentwegen auf etwas verzichten mußte, was er sich hundertmal vorgestellt hatte: durch den vollbesetzten Raum zu gehen, piekfein zurechtgemacht, den kleinen Koffer in der Hand und ohne jemanden eines Blickes zu würdigen. Der fette Steckling sitzt da und die ganze klapprige Bande: Kuck mal den Albert an, stolz wie ein Spanier, und sagt nich mal wat!
Er spürte nicht den scharfen Wind, nicht den hartgefrorenen Schneematsch unter den Füßen. In der S-Bahn fuhr er bis Ostkreuz allein im Abteil, den Blick aus dem Fenster gerichtet, die Hand am Griff des kleinen Koffers. Schönhauser fuhr keine Straßenbahn.
– Umbau, sagte ein Mann mit einem Hund an der Leine. Die baun doch jetzt um.
– Fährt denn nichts andres, fragte er.
– Doch, sagte der Mann mit dem Hund. Es fährt jetzt ein Bus.
Er schüttelte den Kopf. Einmal, als junger Mensch, hatte er die erste lederne Brieftasche seines Lebens mit zwei Mark siebzig und Kennkarte im Autobus verloren.
– Nee, sagte er, ich fahr mit keinem Bus.
Der Hund schnüffelte an der Erde herum und drängte sich an sein Bein. Er bewegte es vorsichtig, aber der Hund ließ nicht von ihm ab.
– So ein Quatsch, sagte der Mann und lachte. Wollen Sie deswegen laufen?
– Nehmen Sie den Köter weg, sagte er und stampfte mit dem Fuß auf die Erde. Der Hund sprang zurück und bellte.
– Na, hör mal, Opa, sagte der Mann und zog an der Leine. Laß das Tier in Ruhe.
Er fuhr mit der U-Bahn die drei Stationen bis Luxemburgplatz. Von dort ging er die frühere Lothringer hinunter in Richtung Post.
Anna lief neben ihm. Sie trug das weiße Kleid und den Strohhut.
Er sagte: Fritz isn Flachkopp. Der hat sein Leben lang in Niederfinow an der Schleuse gestanden. Kannste dir das vorstellen? Der hat nie einen Berg gesehn!
Anna schwieg und lief neben ihm.
– Ich hätt es ihm sagen sollen, sagte er und nickte im Laufen und sagte laut und bestimmt: Das wär ich ihm schuldig gewesen!
Anna sagte: Werf dir nur nichts vor. Was hättest du ihm sagen sollen. Du weißt ja selber nicht...
– Ich soll nich wissen? Na, hör mal, sagte er.
Jetzt war er auf der Höhe der Post.
Er sagte: Werner is raus. Werner hat ein Liebchen.
– Und wenn er zurückkommt? sagte Anna leise.
– Man soll nich immer alles so schwarz sehen, sagte er.
– Du hättest mal vorher mit Martha reden sollen, sagte Anna ganz leise und vorsichtig.
– Soll ich mit der Tür ins Haus fallen? sagte er.
Aus: Klaus Schlesinger: Leben im Winter.
Hinstorff, Rostock 1989. S. 6–17
Der Abdruck folgt dem Original von 1989 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.
zwin|gen <st. V.; hat>: 1. a) durch Drohung, Anwendung von Gewalt o. Ä. dazu veranlassen, etw. zu tun; zu etw. bringen; nötigen: jmdn. z., etw. zu tun; jmdn. zu einem Geständnis, zum Rücktritt z.; das Flugzeug wurde zum Landen gezwungen; du musst nicht gehen, es zwingt dich niemand; b) <z. + sich> sich mit großer Selbstüberwindung dazu bringen, etw. zu tun; sich sehr zu etw. überwinden: du musst dich z., etwas mehr zu essen; er zwang sich zu einem Lächeln, zur Ruhe. 2. ein bestimmtes Verhalten, Handeln notwendig, unbedingt erforderlich machen, notwendigerweise herbeiführen: die Situation zwang uns, rasch zu handeln, zwang uns zur Eile; wir sind gezwungen, das Geschäft aufzugeben; wir sehen uns gezwungen, gerichtlich vorzugehen; ich sehe mich zu diesen Maßnahmen gezwungen; <häufig im 1. Part.:> diese Gründe sind nicht, sind durchaus zwingend (sehr überzeugend, stichhaltig); es besteht dazu eine zwingende (unbedingte, unerlässliche) Notwendigkeit; eine Aussage von zwingender (unwiderlegbarer, schlagender, stringenter) Logik.
schep|pern <sw. V.> [lautm.] (ugs.): 1. (bes. von aneinanderschlagenden, durcheinanderfallenden o. ä. Gegenständen, Teilen [aus Metall]) klappern, klirren <hat>: der Eimer fiel scheppernd zu Boden; die Stahltür fiel scheppernd ins Schloss; <unpers.:> auf der Kreuzung hat es gescheppert (salopp; gab es eine Kollision). 2. a) sich scheppernd (irgendwohin) bewegen <ist> b) mit schepperndem, verzerrtem Klang tönen <hat>.
zap|peln <sw. V.; hat> [landsch. Form von mhd. zabelen, ahd. zabalon, H. u.]: (mit den Gliedmaßen, mit dem ganzen Körper) schnelle, kurze, heftige, stoßartige Hin-und-her-Bewegungen ausführen: ein Fisch zappelte an der Angel, im Netz; hör auf zu z.!; die Kinder zappelten vor Ungeduld; mit den Beinen z.; Ü der Ball zappelt im Netz (Sport Jargon; ist im Tor); *jmdn. z. lassen (ugs.; jmdn. absichtlich länger als nötig auf eine ungeduldig erwartete Nachricht, Entscheidung o. Ä. warten lassen, über etw. im Ungewissen lassen).