Literatur
Ralf Rothmann: Messers Schneide
(Fortsetzung aus Nr. 13, 14/2008)
Er schaltete das Taxameter aus, was sie aber nicht gesprächiger machte. Daß sie, die doch wohl irgend wie erbeutet werden wollte, sich jagend gab, rührte ihn auch. Er bewunderte ihre Schlauheit, diesen Mut zur Schwäche, der ein Kraftakt war. Die Verletzlichkeit, in die sie sich begeben hatte, mußte jeden Angreifer beschämen, ihn unschädlich machen mit seiner eigenen Gewalt. Als sie lächelte, bemerkte er, daß ihr ein Zahn fehlte; eine sympathische Lücke weit hinten. Welchen Wein willst du, fragte sie vor der Handlung. Das hängt davon ab, was du kochst, sagte er.
Ihre Wohnung im Souterrain war klein, ein Zimmer, Küche, Bad, er sah wenig Bücher. Noch im Mantel, stellte Iris einen Topf auf den Herd und zerschnitt das Gemüse. Auf mehreren Fotos an der Wand hielt sie einen Säugling, das Kind ihrer Schwester, wie sie ihm aus der Küche zurief, ohne daß er etwas gefragt hatte. Er wollte ihr helfen, gab es aber auf, als sie ihn mit flinken, zuvorkommenden Bewegungen immer täppischer dastehen ließ, und schaltete den Fernseher ein.
Nach dem Essen deckte man einen Tisch in dem Film, dann flog irgend etwas in die Luft. Welche Art von Gedichten schreibst du, fragte Iris, auf den Bildschirm blickend: auch Liebesgedichte. Es gibt keine anderen, sagte er. Als sie den Fernseher ausschaltete, bemerkte er eine Laufmasche an ihrer Ferse, von einem Tropfen Nagellack gestoppt.
Es war jetzt still in dem Zimmer bis auf das Knistern in der Bildröhre. In der Tapete steckten unzählige Nadeln, die im flackernden Kerzenlicht unzählige Schatten warfen, kleine Zeiger. Iris wollte wissen, ob er sie aufdringlich finde. Er winkte gähnend ab. Sie stellte sich breitbeinig vor ihn hin und verschränkte die Arme vor der Brust. Ob er sich denn geschmeichelt fühle. Ohne den Kopf besonders zu heben, blickte er von ganz unten zu ihr auf. Ich fühle nichts, sagte er, und ihr Lächeln war ein milder Verweis, als sollte er sich das noch einmal überlegen. Sie nahm ihm das Weinglas aus der Hand, und sie zogen sich, jeder in einer Ecke des Zimmers, rasch aus. Kleingeld prasselte zu Boden. In der jähen Nacktheit wie auf einem anderen Stern, fragte Assen nach der Monatsmiete. Vor Scham über die Frage verstand er ihre Antwort nicht.
*
Der Flügel des Eckhauses, in dem er wohnte, stand, bis auf seine Zimmer im dritten Stock, leer. Früher hatten hier junge Maler, Bildhauer und Video-Filmer gelebt. Sie wurden auf die Straße gejagt. Das werden jetzt alles Künstlerwohnungen, sagte der Vermieter, als Assen noch mit ihm sprach. Er renovierte eigenhändig und übernachtete zwischen Zementsäcken und Werkzeugkisten auf einer Luftmatratze. Wegen des Staubs ließ er sein tragbares Fernsehgerät unter einer Plastikplane spielen. Tagsüber hallten seine Flüche, unverständliches Gebell, durch das Rohrsystem des Hauses. Wenn er mit dem Vorschlaghammer wütete, schossen kleine Brisen Kalkstaub aus alten Nagellöchern in der Wand in Assens Wohnung. Der, in einem Anflug von Abenteuerlust, hatte seine Kündigung zerrissen. Sie ist ungesetzlich, sagte er aufs Geratewohl durch die geschlossene Tür hindurch und horchte eine Weile. Wie Sie meinen, sagte der Vermieter schließlich und ging langsam die Treppe hinunter.
Assen erhielt noch einmal ein Schreiben, in dem der andere ihm anbot, eine Ersatzwohnung zu beschaffen. Er korrigierte die Rechtschreibfehler und gab es wortlos zurück. Das zuständige Gericht teilte mit, daß der Fall wegen Überlastung nicht vor Ende nächsten Jahres bearbeitet werde: so begann der Krieg zwischen ihnen. Im Treppenhaus nickten sie sich ernst zu, wie Duellanten. Kaum waren sie aneinander vorbei, spuckte der Vermieter aus. Er hielt die Tür auf, wenn Assen das Haus verließ, damit er sie nachdrücklich hinter ihm zuschlagen konnte, warf ihm das Badezimmerfenster ein mit einer Ziegelscherbe, steckte brennende Streichhölzer und einmal eine tote Ratte in den Postkasten. Assen stopfte sie in einen seiner herumstehenden Gummistiefel, ließ die Luft aus den Reifen seines Mopeds, schüttete Gips in den Tank und behielt wegen zunehmender Staub- und Lärmbelästigung mehr und mehr Miete ein. Einen Lkw-Fahrer, der ihn fragte, wo er den Sand hinkippen solle, schickte er ein Grundstück weiter, auf einen Kinderspielplatz, und sah den Vermieter tagelang mit der Schubkarre über die Straße traben. Manchmal, nachts, wenn er aufblickte von seinen Büchern, hockte der andere im düsteren Gestänge des Baugerüsts und starrte bös in sein Zimmer, bewegungslos. Die Fäuste geballt, das Kinn erhoben, starrte Assen so lange zurück, bis die Gesichtsmuskeln schmerzten vor unterdrücktem Grinsen. Dann richtete er blitzschnell die Schreibtischlampe auf ihn, woraufhin er, derart ausgeleuchtet vor allen Nachbarn, wieselstill verschwand.
er|beu|ten <sw. V.; hat> [zu mhd. biuten, ausbeuten]: durch Kampf, Raub, Plünderung o. Ä. in seinen Besitz bringen u. mitnehmen; als Beute erringen: feindliche Panzer e.; erbeutetes Diebesgut.
Sou|ter|rain, das, landsch.: der; -s, -s [frz. souterrain, zu: souterrain = unterirdisch < lat. subterraneus, zu: sub = unter(halb) u. terra = Erde]: Kellergeschoss.
täp|pisch [mhd. tæpisch] <Adj.> (meist abwertend): ungeschickt, unbeholfen; linkisch: ein -er Bursche; -e Bewegungen; wie kann man nur so t. sein!
Lauf|ma|sche, die: (bei Strick- od. Wirkwaren, bes. Strümpfen) Masche, die sich gelöst hat u. nach unten od. oben gleitet.
Ver|weis, der; -es, -e: 1. Rüge, Tadel: ein strenger, scharfer V.; jmdm. einen V. erteilen; einen V. erhalten, bekommen; ihre Äußerung hat ihr einen V. eingetragen. 2. (in einem Buch, Text o. Ä.) Hinweis auf eine andere Textstelle o. Ä., die im vorliegenden Zusammenhang nachzulesen, zu vergleichen empfohlen wird: zahlreiche -e anbringen.
pras|seln <sw. V.> [zu mhd. brasteln, Iterativ-Intensiv-Bildung zu mhd. brasten, ahd. braston = krachen, dröhnen, verw. mit bersten]: 1. (von Mengen) längere Zeit mit einem dumpfen, klopfenden od. trommelnden Geräusch sehr schnell hintereinander aufprallen <hat/ist>: der Regen prasselt [auf das Dach]; Ü prasselnder Applaus. 2. (im Zusammenhang mit und als Folge der Hitze bei einem Feuer) knackende Geräusche von sich geben <hat>: die Holzscheite prasselten; im Kamin prasselte ein Feuer.
Bri|se, die; -, -n: leichter Wind, bes. über dem Meer u. an der Küste: eine schwache, kräftige, steife B.
Tank, der; -s, -s, seltener: -e: 1. größerer Behälter zum Aufbewahren od. Mitführen von Flüssigkeiten: der T. ist voll, leer, fasst 70 Liter [Wasser, Benzin]; den T. füllen. 2. (veraltend) Panzer.
tra|ben <sw. V.> : (ugs.) in oft beschleunigtem Tempo, meist zu einem bestimmten Ziel laufen; mit beschleunigten Schritten gehen <ist>: der Junge trabte zur Schule; eilig trabte sie hinter ihm her.
Aus: Ralf Rothmann: Messers Schneide.
Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1986. S. 7–17.