Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №16/2008

Literatur

Ralf Rothmann: Messers Schneide

Fortsetzung aus Nr. 13, 14, 15/2008

Mehrmals klingelte das Telefon in den folgenden Tagen, er nahm den Hörer nicht ab. Er zwang sich, zu Hause zu bleiben, las viel und planlos, wie um etwas hinter sich zu bringen, und wünschte sich dabei eine Lektüre, die ihm das dauernde, quälende Gefühl nahm, nicht genug zu lesen, richtiger, nicht mehr genug Zeit zu haben, um in Ruhe weniger zu lesen. Von jedem Buch, besonders von jedem wissenschaftlichen, erhoffte er sich eine letztendliche Erklärung, freilich ohne zu wissen, wofür. Daß alles neue Fragen aufwarf, denen gemäß er seine Lektüre wählte, gab ihm schließlich einen schwankenden Halt, fragend, dachte er, war er ein wenig mehr auf der Welt. Aber die Antworten machten ihn stumm. Und doch ging er ihnen nach und wischte sie aus dem Weg, um endlich den Blick frei zu bekommen für sein Geheimnis oder wenigstens dessen Kontur, ihr flüchtiges Aufblitzen nur im alltäglichen Licht. Widerstrebend sehnte er sich nach einem Gesetz für sein Leben, seine Arbeit, und manchmal ängstigte ihn die Vorstellung, den entscheidenden Satz, die eigene Formel bereits gelesen, vielleicht sogar geschrieben, nur nicht erkannt zu haben.
Mit dem Mond, er sah ihn leuchten durch die Wolkenrisse, nahm auch seine Unruhe zu. Absätze kratzten über das Pflaster, lachende Frauen draußen, Plastiktüten voll klimpernder Flaschen. Die Kneipen trieben sich in ihm herum, und er schlüpfte in seine Straßenschuhe, weil er kalte Füße bekam.

Je mehr es ihn hinauszog, desto unsinniger wurden die Verrichtungen, mit denen er sich zurückhielt. Er drehte den Wecker mit dem Zifferblatt zur Wand und nahm die Schutzumschläge von den Büchern, gleich fühlten sie sich griffiger an. Er bügelte seine einzige Krawatte, spitzte alle Bleistifte, die er besaß, numerierte Manuskripte und polierte gerade eine Türklinke, als Iris an sein Fenster klopfte.
In ihrem engen schwarzen Kleid, zu dem sie einen Straßschmuck trug und eine weiße Lederjacke (ihre Schuhe steckten in den Seitentaschen), war sie das Baugerüst hochgeklettert und klatschte nun ihre schmutzigen Hände aneinander. Als er das Fenster öffnete, lächelte sie und bedeutete ihm mit einer Zigarette, daß sie Feuer wünschte. Er stieg hinaus, fand aber nicht gleich Tritt auf dem Fensterbrett, sie mußte ihm helfen. Sie ließ sich nur auf die Wange küssen: der frische Lippenstift. An die Brüstung aus Stahlrohr gelehnt, betrachteten sie eine Weile den Mond, der jetzt unverhüllt schien und den Iris gnadenlos nannte. Gnadenlos, fragte er. Sie antwortete nicht, sie rauchte; er sah ihr Gesicht, auf dem ein etwas mondäner Glanz lag, im Halbprofil. Von ihrem Ohrschmuck aus Straß ging ein feines, feiner als haarfeines Strahlen aus in dem blassen Licht, als strömte ihre Körperwärme allein durch das winzige Prisma der Steine in die beginnende Nacht hinaus.
[...]

Aus: Ralf Rothmann: Messers Schneide.
Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1986. S. 7–17.


Ver|rich|tung, die; -, -en: a) <o. Pl.> das Verrichten, Erledigen von etw.; b) zu erledigende Arbeit, Angelegenheit: seinen täglichen -en nachgehen.

grif|fig <Adj.> [mhd. griffec]: 1. leicht, gut zu ergreifen, zu umfassen, zu handhaben; handlich: ein -es Lenkrad; diese Bohrmaschine ist sehr g. 2. a) gut greifend: die Reifen haben ein sehr -es Profil; b) so beschaffen, dass etw. darauf gut greifen kann: eine -e Fahrbahn. 3. (von Textilien) fest gewebt: ein -es Kammgarngewebe; schwerer, -er Seidenstoff. 4. (bes. österr.) (von Mehl) grobkörnig, locker: -es Mehl. 5. (Jargon) wirkungsvoll; treffend; prägnant: eine -e Formulierung.