Literatur
Hans Joachim Schädlich
Irgend etwas irgendwie
Fortsetzung aus Nr. 21, 22/2008
Einer sagte zu der Anruferin, Irgendeinmal sage ich dir, wie es ist.
In seinem Kopf legte er Stücke von Bildern zurecht für irgendeinmal. Die Bilder sollten auf einer Treppe stehen, die er hinaufgeht oder hinunter. Auf unterster Stufe verwahrte er die Teile für solches Bild: Kein Vorsatz mehr, anders zu sein als bewegungslos, die Augen geschlossen, die Ohren verstopft, also ohne Wahrnehmung von Licht und Geräusch, keinem Ereignis zugeordnet als dem Ablauf der Zeit; früheren Gedanken ohne Ende ausgesetzt, ohne Gefühl von Hunger, Durst, je schwächer desto leichter (wie es logisch ist), Tag und Nacht, deren Wechsel verschwimmt, leerer, bis Angst des Tieres aufkommt vor der endlichen Löschung und nichts den Körper aufbringt außer Suche nach Nahrung, Mehl geleckt, das aus geplatzter Tüte rinnt, Wasser getrunken, so daß Wasser über das Gesicht läuft.
Auf anderer Stufe der Treppe die Stücke solchen Bilds: Die Absicht, etwas zu tun, unverkennbar, abgesehen von Zeiten (Stunden) völliger Erschlaffung (Erstarrung?). Erwogene Vergleiche, der Wunsch des Stummen, zu sprechen, der Wunsch des Lahmen, zu gehen, verworfen aus Gründen der Genauigkeit. Aus dem Vorsatz, aufzustehen von der Erde, geht Bewegung hervor: der Körper erhebt sich, steht schwankend, wendet sich Kleidern zu, die verstreut sind, und verharrt im Griff nach dem Kleidungsstück für einen Vormittag.
Auf dritter Stufe solche Stücke: Eine Mülltüte auskippen, ein Brot kaufen, den Satz notieren: Ich tue nichts.
Die Anruferin sagte, Sag es nicht nur mir.
Doch, sagte Einer. Und nur dir sage ich, daß mir gestern nacht mein Tod mitgeteilt wurde. Sie sind tot, sagte ein Arzt. Ziehen Sie sich aus, gehen Sie zur Obduktion in den Keller. Ich wußte, daß ein früher Freund von mir der Pathologe ist. Verzweifelt und beruhigt ging ich hinunter. Der Freund ließ mich still ein. Er wies mir einen Tisch zu, auf den ich mich legen sollte. Ich wußte, daß es mein letzter Aufenthalt wäre. Dennoch war ich zuversichtlich, wir würden nach der Obduktion über den Befund reden; eine endlose Zuversicht. Der Freund lächelte; sein Gesicht, seine Schultern, seine Hände bedauerten mich. Ich spürte auch Scham, daß er, obwohl ein Freund, jede Schwäche meines Körpers erkennen sollte.
Aber ich wollte ihm nicht hineinreden, bis die Arbeit getan wäre.
Was geht vor, sagte die Anruferin.
Einer sagte, Einige Tage zuvor reiste ich nachts zu B.
Ich hatte gehört, er wohne an einem See, dessen Grund man erkennen könne, in einem hellen Haus, das so fehlerlos ausgestattet, unverrückbar ordentlich, andauernd sauber sei wie ein Haus zur Ansicht, ohne Bewohner. Von B. und seiner Frau wußte ich, sie gingen in ausgesuchten Kleidern, aber nicht auffälligen, sicher umher, immer bedacht auf Gleichmaß der Gefühle, der Rede, der Bewegung. Ich kam dem Haus näher im Sonnenschein, über eine Wiese. Die Unordnung meines Gesichts und der Kleider waren rechtzeitig erkannt worden. B.’s Frau, ärmlich angezogen, lief mir entgegen. Sie trug einen kleinen Tisch, den sie ins Gras stellte. Bei dem schönen Wetter, sagte sie, wir dachten, sitzen wir doch hier. Ja, sagte ich. Aber ich ging noch bis zum Haus, aus dem B. kam. Ich wollte das Wasser des Sees sehen. Bis auf den Grund, sagte ich. B. trug Kleider, die Ähnlichkeit hatten mit meinen Kleidern. Er nahm mich am Arm und führte mich zurück an den Tisch auf der Wiese. Dort standen wir. Ich bewunderte die doppelte Vorsorglichkeit der Gastgeber.
Die Anruferin sagte, Du mußt durch Straßen gehen.
Ich bin erschöpft, ohne den Kopf zu heben, durch Straßen gegangen, sagte Einer. Es war Nacht. Ich hatte Angst vor der nächsten Stunde, Angst vor dem Tag, vor der Erschöpfung. Ich fror, ich war hungrig, durstig. Gegen die Kälte stellte ich mich in Hauseingänge, gegen Hunger und Durst rauchte ich eine Zigarette. Ich hätte in eine Kneipe gehen sollen, ich hätte mich aufwärmen sollen, ich hätte essen sollen und trinken. Aber ich wollte niemanden sehen. Endlich konnte ich nicht mehr gehen. Vor einer Tür, neben der eine Karte hing, blieb ich stehen. Ich öffnete die Tür und ging in den Raum. Er war fast dunkel, nur blaue und rote Lampen gaben etwas Licht. Ich ging zu einem leeren Tisch in einer Ecke, zog den Mantel aus, legte ihn über eine Stuhllehne und setzte mich. Eine Frauenstimme vor dem Tisch sagte, Was möchten Sie trinken. Ich hob den Kopf und sah, daß die Frau nackt war. Ihre Brüste hingen schlaff, die Haut ihres Bauches war welk, ihr Schamhaar verblichen und schütter. Ich sagte, Was gibt es. Die Frau sagte, Alles. Ich sagte, Ich will essen und trinken. Sie sagte, Essen gibt es nicht, was trinken Sie? Bier, sagte ich. Sie sagte, Zwanzig Mark. Ich gab ihr zwanzig Mark, sie legte drei Gutscheine auf den Tisch. Die Frau brachte eine Flasche Bier, öffnete sie, goß das Bier in ein Glas und nahm einen Gutschein.
Aus: Hans Joachim Schädlich: Ostwestberlin. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1987. S. 81–98.
Der Abdruck folgt dem Original von 1987 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.
ver|wah|ren <sw. V.; hat> [spätmhd. verwarn]: 1. a) sicher, sorgfältig aufbewahren: etw. im Schreibtisch, in der Brieftasche, hinter Glas v.; Schmuck in den Tresorschließfächern v.; die Dokumente müssen sorgfältig verwahrt werden; b) (landsch.) etw. für eine Weile, für einen späteren Zeitpunkt aufheben: sie wollte die Schokolade für den Nachmittag v.; ich habe dir den Pudding verwahrt; c) (veraltet) jmdn. gefangen halten; 2. <v. + sich> mit Nachdruck gegen etw. protestieren; etw. energisch zurückweisen: sich gegen eine Anschuldigung, Verdächtigung, ein Ansinnen v.
Vor|satz, der; -es, Vorsätze [mhd. vür-, vorsaz, wohl nach lat. propositum]: 1. etw., was sich jmd. bewusst, entschlossen vorgenommen hat; feste Absicht; fester Entschluss: ein löblicher V.; gute Vorsätze haben; den [festen] V. fassen, nicht mehr zu rauchen; einen V. fallen lassen, vergessen; an seinem V. festhalten; ich bestärkte sie in ihrem V.; der Angeklagte handelte nicht mit V. (vorsätzlich, bewusst). 2. <auch: das> (Buchbinderei) Doppelblatt, dessen eine Hälfte auf die Innenseite eines Buchdeckels geklebt wird u. dessen andere Hälfte beweglich bleibt. 3. Vorrichtung od. Zusatzgerät für bestimmte Maschinen, Werkzeuge, das das Ausführen zusätzlicher, speziellerer Arbeiten ermöglicht.
un|ver|kenn|bar <Adj.>: eindeutig erkennbar: -e Symptome.
ver|har|ren <sw. V.; hat> [mhd. verharren] (geh.): a) [in einer Bewegung innehaltend] sich für eine Weile nicht von seinem Platz fortbewegen, von der Stelle rühren: einen Augenblick v.; unschlüssig an der Tür, auf dem Platz v.; Ü die Zinsen verharren schon länger auf hohem Niveau; b) [beharrlich] in, bei etw. bleiben: in Resignation, in Schweigen v.
Ob|duk|ti|on, die; -, -en [lat. obductio = das Verhüllen, Bedecken, zu: obducere, obduzieren; wohl nach dem Verhüllen der Leiche nach dem Eingriff] (Med.): [gerichtlich angeordnete] Öffnung einer Leiche zur Feststellung der Todesursache: eine O. anordnen.
Gut|schein, der: Schein, der den Anspruch auf eine bestimmte Sache, auf Waren mit einem bestimmten Gegenwert bestätigt: ein G. auf/für eine Warenprobe; -e ausgeben; einen G. einlösen; jmdm. [zu Weihnachten] einen G. [im Wert von 100 Euro] schenken.