Hauslektüre im Deutschunterricht
Didaktisierungsvorschlag zum Buch «Momo» von Michael Ende
Erstellt von Dr. Dana Bartosch, Ruth-Ulrike Deutschmann, Natalia Koslowa
Fortsetzung aus Nr. 01, 02, 03, 04, 05/2009
Lesetext
Sechstes Kapitel
Die Rechnung ist falsch und geht doch auf
Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit.
Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.
Und genau das wusste niemand besser als die grauen Herren. Niemand kannte den Wert einer Stunde, einer Minute, ja einer einzigen Sekunde Leben so wie sie. Freilich verstanden sie sich auf ihre Weise darauf so, wie Blutegel sich aufs Blut verstehen, und auf ihre Weise handelten sie danach.
Sie hatten ihre Pläne mit der Zeit der Menschen. Es waren weit gesteckte und sorgfältig vorbereitete Pläne.
Das Wichtigste war ihnen, dass niemand auf ihre Tätigkeit aufmerksam wurde. Unauffällig hatten sie sich im Leben der großen Stadt und ihrer Bewohner festgesetzt. Und Schritt für Schritt, ohne dass jemand es bemerkte, drangen sie täglich weiter vor und ergriffen Besitz von den Menschen.
Sie kannten jeden, der für ihre Absichten in Frage kam, schon lange bevor der Betreffende selbst etwas davon ahnte. Sie warteten nur den richtigen Augenblick ab, in dem sie ihn fassen konnten. Und sie taten das Ihre dazu, dass dieser Augenblick eintrat.
Da war zum Beispiel Herr Fusi, der Friseur. Er war zwar kein berühmter Haarkünstler, aber er war in seiner Straße gut angesehen. Er war nicht arm und nicht reich. Sein Laden, der mitten in der Stadt lag, war klein und er beschäftigte einen Lehrjungen.
Eines Tages stand Herr Fusi in der Tür seines Ladens und wartete auf Kundschaft. Der Lehrjunge hatte frei und Herr Fusi war allein. Er sah zu, wie der Regen auf die Straße platschte, es war ein grauer Tag und auch in Herrn Fusis Seele war trübes Wetter.
«Mein Leben geht so dahin», dachte er, «mit Scherengeklapper und Geschwätz und Seifenschaum. Was habe ich eigentlich von meinem Dasein? Und wenn ich einmal tot bin, wird es sein, als hätte es mich nie gegeben.»
Es war nun durchaus nicht so, dass Herr Fusi etwas gegen ein Schwätzchen hatte. Er liebte es sogar sehr den Kunden weitläufig seine Ansichten auseinander zu setzen und von ihnen zu hören, was sie darüber dachten. Auch gegen Scherengeklapper und Seifenschaum hatte er nichts. Seine Arbeit bereitete ihm ausgesprochenes Vergnügen und er wusste, dass er sie gut machte. Besonders beim Rasieren unter dem Kinn gegen den Strich war ihm so leicht keiner über. Aber es gibt eben manchmal Augenblicke, in denen das alles kein Gewicht hat. Das geht jedem so.
«Mein ganzes Leben ist verfehlt», dachte Herr Fusi. «Wer bin ich schon? Ein kleiner Friseur, das ist nun aus mir geworden. Wenn ich das richtige Leben führen könnte, dann wäre ich ein ganz anderer Mensch!»
Wie dieses richtige Leben allerdings beschaffen sein sollte, war Herrn Fusi nicht klar. Er stellte sich nur irgendetwas Bedeutendes vor, etwas Luxuriöses, etwas, wie man es immer in den Illustrierten sah.
«Aber», dachte er missmutig, «für so etwas lässt mir meine Arbeit keine Zeit. Denn für das richtige Leben muss man Zeit haben. Man muss frei sein. Ich aber bleibe mein Leben lang ein Gefangener von Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum.»
In diesem Augenblick fuhr ein feines, aschengraues Auto vor und hielt genau vor Herrn Fusis Friseurgeschäft. Ein grauer Herr stieg aus und betrat den Laden. Er stellte seine bleigraue Aktentasche auf den Tisch vor dem Spiegel, hängte seinen runden steifen Hut an den Kleiderhaken, setzte sich auf den Rasierstuhl, nahm sein Notizbüchlein aus der Tasche und begann darin zu blättern, während er an seiner kleinen grauen Zigarre paffte.
Herr Fusi schloss die Ladentür, denn es war ihm, als würde es plötzlich ungewöhnlich kalt in dem kleinen Raum.
«Womit kann ich dienen?», fragte er verwirrt. «Rasieren oder Haare schneiden?», und verwünschte sich im gleichen Augenblick wegen seiner Taktlosigkeit, denn der Herr hatte eine spiegelnde Glatze.
«Keines von beidem», sagte der graue Herr ohne zu lächeln, mit einer seltsam tonlosen, sozusagen aschengrauen Stimme. «Ich komme von der Zeit-Spar-Kasse. Ich bin Agent Nr. XYQ/384/b. Wir wissen, dass Sie ein Sparkonto bei uns eröffnen wollen.»
«Das ist mir neu», erklärte Herr Fusi noch verwirrter: «Offen gestanden, ich wusste bisher nicht einmal, dass es ein solches Institut überhaupt gibt.»
«Nun, jetzt wissen Sie es», antwortete der Agent knapp. Er blätterte in seinem Notizbüchlein und fuhr fort: «Sie sind doch Herr Fusi, der Friseur?»
«Ganz recht, der bin ich», versetzte Herr Fusi.
«Dann bin ich an der rechten Stelle», meinte der graue Herr und klappte das Büchlein zu. «Sie sind Anwärter bei uns.»
«Wie das?», fragte Herr Fusi, noch immer erstaunt.
«Sehen Sie, lieber Herr Fusi», sagte der Agent, «Sie vergeuden Ihr Leben mit Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum. Wenn Sie einmal tot sind, wird es sein, als hätte es Sie nie gegeben. Wenn Sie Zeit hätten das richtige Leben zu führen, wie Sie das wünschen, dann wären Sie ein ganz anderer Mensch. Alles, was Sie also benötigen, ist Zeit. Habe ich Recht?»
«Darüber habe ich eben nachgedacht», murmelte Herr Fusi und fröstelte, denn trotz der geschlossenen Tür wurde es immer kälter.
«Na, sehen Sie!», erwiderte der graue Herr und zog zufrieden an seiner kleinen Zigarre. «Aber woher nimmt man Zeit? Man muss sie eben ersparen! Sie, Herr Fusi, vergeuden Ihre Zeit auf ganz verantwortungslose Weise. Ich will es Ihnen durch eine kleine Rechnung beweisen. Eine Minute hat sechzig Sekunden. Und eine Stunde hat sechzig Minuten. Können Sie mir folgen?»
«Gewiss», sagte Herr Fusi.
Der Agent Nr. XYQ/384/b begann die Zahlen mit einem grauen Stift auf den Spiegel zu schreiben.
«Sechzig mal sechzig ist dreitausendsechshundert. Also hat eine Stunde dreitausendsechshundert Sekunden.
Ein Tag hat vierundzwanzig Stunden, also dreitausendsechshundert mal vierundzwanzig, das macht sechsundachtzigtausendvierhundert Sekunden pro Tag. Ein Jahr hat aber, wie bekannt, dreihundertfünfundsechzig Tage. Das macht mithin einunddreißigmillionenfünfhundertundsechsunddreißigtausend Sekunden pro Jahr.
Oder dreihundertfünfzehnmillionendreihundertundsechzigtausend Sekunden in zehn Jahren.
Wie lange, Herr Fusi, schätzen Sie die Dauer Ihres Lebens?»
«Nun», stotterte Herr Fusi verwirrt, «ich hoffe so siebzig, achtzig Jahre alt zu werden, so Gott will.»
«Gut», fuhr der graue Herr fort, «nehmen wir vorsichtshalber einmal nur siebzig Jahre an.
Das wäre also dreihundertfünfzehnmillionendreihundertsechzigtausend mal sieben. Das ergibt zweimilliardenzweihundertsiebenmillionenfünfhundertzwanzigtausend Sekunden.»
Und er schrieb diese Zahl groß an den Spiegel:
2 207 520 000 Sekunden
Dann unterstrich er sie mehrmals und erklärte: «Dies also, Herr Fusi, ist das Vermögen, welches Ihnen zur Verfügung steht.»
Herr Fusi schluckte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Die Summe machte ihn schwindelig. Er hätte nie gedacht, dass er so reich sei.
«Ja», sagte der Agent nickend und zog wieder an seiner kleinen grauen Zigarre, «es ist eine eindrucksvolle Zahl, nicht wahr? Aber nun wollen wir weitersehen. Wie alt sind Sie, Herr Fusi?»
«Zweiundvierzig», stammelte der und fühlte sich plötzlich schuldbewusst, als habe er eine Unterschlagung begangen.
«Wie lange schlafen Sie durchschnittlich pro Nacht?», forschte der graue Herr weiter.
«Acht Stunden etwa», gestand Herr Fusi.
Der Agent rechnete blitzgeschwind. Der Stift kreischte über das Spiegelglas, dass sich Herrn Fusi die Haut kräuselte.
«Zweiundvierzig Jahre – täglich acht Stunden – das macht also bereits vierhunderteinundvierzigmillionenfünfhundertundviertausend. Diese Summe dürfen wir wohl mit gutem Recht als verloren betrachten. Wie viel Zeit müssen Sie täglich der Arbeit opfern, Herr Fusi?»
«Auch acht Stunden, so ungefähr», gab Herr Fusi kleinlaut zu.
«Dann müssen wir also noch einmal die gleiche Summe auf das Minuskonto verbuchen», fuhr der Agent unerbittlich fort. «Nun kommt Ihnen aber auch noch eine gewisse Zeit abhanden durch die Notwendigkeit sich zu ernähren. Wie viel Zeit benötigen Sie insgesamt für alle Mahlzeiten des Tages?»
«Ich weiß nicht genau», meinte Herr Fusi ängstlich, «vielleicht zwei Stunden?»
«Das scheint mir zu wenig», sagte der Agent, «aber nehmen wir es einmal an, dann ergibt es in zweiundvierzig Jahren den Betrag von hundertzehnmillionendreihundertsechsundsiebzigtausend. Fahren wir fort! Sie leben allein mit Ihrer alten Mutter, wie wir wissen. Täglich widmen Sie der alten Frau eine volle Stunde, das heißt, Sie sitzen bei ihr und sprechen mit ihr, obgleich sie taub ist und sie kaum noch hört.
Es ist also hinausgeworfene Zeit: macht fünfundfünfzigmillioneneinhundertachtundachtzigtausend. Ferner haben Sie überflüssigerweise einen Wellensittich, dessen Pflege Sie täglich eine Viertelstunde kostet, das bedeutet umgerechnet dreizehnmillionensiebenhundertsiebenundneunzigtausend.»
«Aber...», warf Herr Fusi flehend ein.
«Unterbrechen Sie mich nicht!», herrschte ihn der Agent an, der immer schneller und schneller rechnete. «Da ihre Mutter ja behindert ist, müssen Sie, Herr Fusi, einen Teil der Hausarbeit selbst machen. Sie müssen einkaufen gehen, Schuhe putzen und dergleichen lästige Dinge mehr. Wie viel Zeit kostet Sie das täglich?»
«Vielleicht eine Stunde, aber...»
«Macht weitere fünfundfünfzigmillioneneinhundertachtundachtzigtausend, die Sie verlieren, Herr Fusi. Wir wissen ferner, dass Sie einmal wöchentlich ins Kino gehen, einmal wöchentlich in einem Gesangverein mitwirken, einen Stammtisch haben, den Sie zweimal in der Woche besuchen und sich an den übrigen Tagen abends mit Freunden treffen oder manchmal sogar ein Buch lesen. Kurz, Sie schlagen ihre Zeit mit nutzlosen Dingen tot und zwar etwa drei Stunden täglich, das macht einhundertfünfundsechzigmillionenfünfhundertvierundsechzigtausend. – Ist Ihnen nicht gut, Herr Fusi?»
«Nein», antwortete Herr Fusi, «entschuldigen Sie bitte...»
«Wir sind gleich zu Ende», sagte der graue Herr. «Aber wir müssen noch auf ein besonderes Kapitel Ihres Lebens zu sprechen kommen. Sie haben da nämlich dieses kleine Geheimnis, Sie wissen schon.»
Herr Fusi begann mit den Zähnen zu klappern, so kalt war ihm geworden.
«Das wissen Sie auch?», murmelte er kraftlos. «Ich dachte, außer mir und Fräulein Daria ...»
«In unserer modernen Welt», unterbrach ihn der Agent Nr. XYQ/384/b, «haben Geheimnisse nichts mehr verloren. Betrachten Sie die Dinge einmal sachlich und realistisch, Herr Fusi. Beantworten Sie mir eine Frage: Wollen Sie Fräulein Daria heiraten?»
«Nein», sagte Herr Fusi, «das geht doch nicht ...»
«Ganz recht», fuhr der graue Herr fort, «denn Fräulein Daria wird ihr Leben lang an den Rollstuhl gefesselt bleiben, weil ihre Beine verkrüppelt sind. Trotzdem besuchen Sie sie täglich eine halbe Stunde, um ihr eine Blume zu bringen. Wozu?»
«Sie freut sich doch immer so», antwortete Herr Fusi, den Tränen nah. «Aber nüchtern betrachtet», versetzte der Agent, «ist sie für Sie, Herr Fusi, verlorene Zeit. Und zwar insgesamt bereits siebenundzwanzigmillionenfünfhundertvierundneunzigtausend Sekunden. Und wenn wir nun dazurechnen, dass Sie die Gewohnheit haben, jeden Abend vor dem Schlafengehen eine Viertelstunde am Fenster zu sitzen und über den vergangenen Tag nachzudenken, dann bekommen wir nochmals eine abzuschreibende Summe von dreizehnmillionensiebenhundertsiebenundneunzigtausend. Nun wollen wir einmal sehen, was Ihnen eigentlich übrig bleibt, Herr Fusi.»
Auf dem Spiegel stand nun folgende Rechnung:
Schlaf |
441 504 000 |
Sekunden |
Arbeit |
441 504 000 |
˝ |
Nahrung |
110 376 000 |
˝ |
Mutter |
55 188 000 |
˝ |
Wellensittich |
13 797 000 |
˝ |
Einkauf usw. |
55 188 000 |
˝ |
Freunde, Singen usw. |
165 564 000 |
˝ |
Geheimnis |
27 594 000 |
˝ |
Fenster |
1 3797 000 |
˝ |
Zusammen: |
1 324 512 000 |
Sekunden |
«Diese Summe», sagte der graue Herr und tippte mit dem Stift mehrmals so hart gegen den Spiegel, dass es wie Revolverschüsse klang, «diese Summe also ist die Zeit, die Sie bis jetzt bereits verloren haben. Was sagen Sie dazu, Herr Fusi?»
Herr Fusi sagte gar nichts. Er setzte sich auf einen Stuhl in der Ecke und wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn, denn trotz der eisigen Kälte brach ihm der Schweiß aus.
Der graue Herr nickte ernst.
«Ja, Sie sehen ganz recht», sagte er, «es ist bereits mehr als die Hälfte Ihres ursprünglichen Gesamtvermögens, Herr Fusi. Aber nun wollen wir einmal sehen, was Ihnen von Ihren zweiundvierzig Jahren eigentlich geblieben ist. Ein Jahr, das sind einunddreißigmillionenfünfhundertsechsunddreißigtausend Sekunden, wie Sie wissen. Und das mal zweiundvierzig genommen macht einemilliardedreihundertvierundzwanzigmillionenfünfhundertundzwölftausend.»
Er schrieb die Zahl unter die Summe der verlorenen Zeit:
_ 1 324 512 000 Sekunden
1 324 512 000 ˝
0 000 000 000 Sekunden
Er steckte seinen Stift ein und machte eine längere Pause, um den Anblick der vielen Nullen auf Herrn Fusi wirken zu lassen.
Und er tat seine Wirkung.
Das, dachte Herr Fusi zerschmettert, ist also die Bilanz meines ganzen bisherigen Lebens.
Er war so beeindruckt von der Rechnung, die so haargenau aufging, dass er alles widerspruchslos hinnahm. Und die Rechnung selbst stimmte. Das war einer der Tricks, mit denen die grauen Herren die Menschen bei tausend Gelegenheiten betrogen.
«Finden Sie nicht», ergriff nun der Agent
Nr. XYQ/384/b in sanftem Ton wieder das Wort, «dass Sie so nicht weiterwirtschaften können, Herr Fusi? Wollen Sie nicht lieber zu sparen anfangen?»
Herr Fusi nickte stumm und mit blau gefrorenen Lippen.
«Hätten Sie beispielsweise», klang die aschenfarbene Stimme des Agenten an Herrn Fusis Ohr, «schon vor zwanzig Jahren angefangen täglich nur eine einzige Stunde einzusparen, dann besäßen Sie jetzt ein Guthaben von sechsundzwanzigmillionenzweihundertundachtzigtausend Sekunden. Bei zwei Stunden täglich ersparter Zeit wäre es natürlich das Doppelte, also zweiundfünfzigmillionenfünfhundertundsechzigtausend. Und ich bitte Sie, Herr Fusi, was sind schon zwei lumpige kleine Stunden angesichts einer solchen Summe?»
«Nichts», rief Herr Fusi, «eine lächerliche Kleinigkeit!»
«Es freut mich, dass Sie das einsehen», fuhr der Agent gleichmütig fort. «Und wenn wir nun noch ausrechnen, was Sie unter denselben Bedingungen in weiteren zwanzig Jahren erspart haben würden, so kämen wir auf die stolze Summe von einhundertfünfmillioneneinhundertundzwanzigtausend Sekunden. Dieses ganze Kapital stünde Ihnen in Ihrem zweiundsechzigsten Lebensjahr zur freien Verfügung.»
«Großartig!», stammelte Herr Fusi und riss die Augen auf.
«Warten Sie ab», fuhr der graue Herr fort, «denn es kommt noch viel besser. Wir, das heißt die Zeit-Spar-Kasse, bewahren nämlich die eingesparte Zeit nicht nur für Sie auf, sondern wir zahlen Ihnen auch noch Zinsen dafür. Das heißt, Sie hätten in Wirklichkeit noch viel mehr.»
«Wie viel mehr?», fragte Herr Fusi atemlos.
«Das läge ganz bei Ihnen», erklärte der Agent, «je nachdem, wie viel Sie eben einsparen würden und wie lange Sie das Ersparte bei uns liegen lassen.»
«Liegen lassen?», erkundigte sich Herr Fusi. «Was heißt das?»
«Nun, ganz einfach», meinte der graue Herr. «Wenn Sie Ihre ersparte Zeit nicht vor fünf Jahren von uns zurückverlangen, dann bezahlen wir Ihnen noch einmal dieselbe Summe dazu. Ihr Vermögen verdoppelt sich alle fünf Jahre, verstehen Sie? Nach zehn Jahren wäre es bereits das Vierfache der ursprünglichen Summe, nach fünfzehn Jahren das Achtfache und so weiter. Wenn Sie vor zwanzig Jahren angefangen hätten, täglich nur zwei Stunden einzusparen, dann stünde für Sie in Ihrem zweiundsechzigsten Lebensjahr, also nach vierzig Jahren insgesamt, das Zweihundertsechsundfünfzigfache der bis dahin von Ihnen ersparten Zeit zur Verfügung. Das wären sechsundzwanzigmilliardenneunhundertundzehnmillionensiebenhundertundzwanzigtausend.»
Und er nahm noch einmal seinen grauen Stift heraus und schrieb auch diese Zahl an den Spiegel: 26 910 720 000 Sekunden.
«Sie sehen selbst, Herr Fusi», sagte er dann und lächelte zum ersten Mal dünn, «es wäre mehr als das Zehnfache Ihrer ursprünglichen gesamten Lebenszeit. Und das bei nur zwei ersparten Stunden täglich. Bedenken Sie, ob dies nicht ein lohnendes Angebot ist.»
«Das ist es!», sagte Herr Fusi erschöpft. «Das ist es ganz ohne Zweifel! Ich bin ein Unglücksrabe, dass ich nicht schon längst angefangen habe zu sparen. Jetzt erst sehe ich es völlig ein und ich muss gestehen – ich bin verzweifelt!»
«Dazu», erwiderte der graue Herr sanft, «besteht durchaus kein Grund. Es ist niemals zu spät. Wenn Sie wollen, können Sie noch heute anfangen. Sie werden sehen, es lohnt sich.»
«Und ob ich will!», rief Herr Fusi. «Was muss ich tun?»
«Aber, mein Bester», antwortete der Agent und zog die Augenbrauen hoch, «Sie werden doch wissen, wie man Zeit spart! Sie müssen zum Beispiel einfach schneller arbeiten und alles Überflüssige weglassen. Statt einer halben Stunde widmen Sie sich einem Kunden nur noch eine Viertelstunde. Sie vermeiden zeitraubende Unterhaltungen. Sie verkürzen die Stunde bei Ihrer alten Mutter auf eine halbe. Am besten geben Sie sie überhaupt in ein gutes, billiges Altersheim, wo für sie gesorgt wird, dann haben Sie bereits eine ganze Stunde täglich gewonnen. Schaffen Sie den unnützen Wellensittich ab! Besuchen Sie Fräulein Daria nur noch alle vierzehn Tage einmal, wenn es überhaupt sein muss. Lassen Sie die Viertelstunde Tagesrückschau ausfallen und vor allem, vertun Sie Ihre kostbare Zeit nicht mehr so oft mit Singen, Lesen oder gar mit Ihren sogenannten Freunden. Ich empfehle Ihnen übrigens ganz nebenbei, eine große, gut gehende Uhr in ihren Laden zu hängen, damit Sie die Arbeit Ihres Lehrjungen genau kontrollieren können.»
«Nun gut», meinte Herr Fusi, «das alles kann ich tun, aber die Zeit, die mir auf diese Weise übrig bleibt – was soll ich mit ihr machen? Muss ich sie abliefern? Und wo? Oder soll ich sie aufbewahren? Wie geht das Ganze vor sich?»
(Aus: Michael Ende: Momo. K. Thienemanns Verlag, Stuttgart 2002)