Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №14/2008

Literatur

Ralf Rothmann: Messers Schneide

(Fortsetzung aus Nr. 13/2008)

Daß sie dieses Kind gegen seinen Willen austragen wollte, ließ sich nicht verachten. Bisher war ihm «austragen» nur in Bezug auf Streit oder Kampf vorgekommen; jetzt trug sie eine Liebe aus, ihre Gefühle hatten Gestalt angenommen. Ihr Entschluß klang ihm genauso kalt und unbezweifelbar wie eine Todesnachricht. Er sah sich dagegenreden, sah sie zuhören – und während sie widersprach, einsah oder weinte, stand er doch fest, in ihren Augen stand er fest seit Menschengedenken. Ihm blieb das Nachsehen. Und als er in seiner Verzagtheit gar vom desolaten Zustand der Welt, von Krieg und Krebs und saurem Regen sprach, sah sie ihn lange wortlos an und sagte schließlich: Das Risiko muß ich eingehen; «Ich», sagte sie; dabei hatte er das Kind gemeint. Vorsichtig ihren Bauch betastend, war sie davongegangen und drehte sich nicht um. Er würde schon spuren.
(In der Küche des Hauses, in dem Holzstoß neben dem Kamin, lebte eine Maus, die so groß und schwarz war, daß sie jeder zunächst für etwas Bedrohlicheres hielt. Manchmal, ohne sich um die Dasitzenden zu kümmern und auch ohne erkennbares Ziel, rannte sie in großen Zick-Zack-Linien über die Bodenfliesen, wobei sie sich mehrmals überschlug – wie gepeitscht von etwas, das fürchterlicher war, als jeder Anwesende es sein konnte.)

***

Daß er meistens allein stand in den Kneipen, ohne den nervösen Blick und die panische Gesprächsbereitschaft Alleinstehender, daß ihm Frauen nicht zu fehlen schienen, sagte Iris später, machte ihn bemerkenswert; der melancholische Trotz in seinem Gesicht und die Augen, in denen sie mehr als nur ein Nachtleben sah, zogen sie an.
Sie setzte sich neben ihn an die Bar, trank ein Bier und erbat sich nach einer sprachlosen Weile einen Pfennig. Er ließ sich ansehen, daß er das albern fand, gab ihr aber eine Mark. Sie schob die Münze zurück, offensichtlich verärgert; sie brauche kein Geld – einen Pfennig! Er kramte einen aus der Jackentasche, sie dankte unwirsch, blickte sich rasch um und zog, im Schatten der Tresenplatte, ihren Rock ein Stück hoch. Ein Knopf ihres Strumpfhalters war abgerissen, ein Strapsband hing schlaff herab; sie wickel­te die Kupfermünze in den schwarzen Saum und befestigte die haltlose Spange daran. Dann ging sie.

Auf einer Party in Kreuzberg – sein Freund Lauter lag unter einem Bett und trank aus einem Flachmann – sah er sie wieder. Sie stand in seiner Nähe, versuchte aber, ihrem Gesicht den Ausdruck einer gewissen Entfernung zu geben. Immer nur mit Frauen plaudernd, schlenderte sie durch die lange Halle und übersah ihn im Lauf des Festes derart ausdrücklich, daß er sich doch beachtet fühlte. Tatsächlich bemerkte er auf einem der überall installierten Bildschirme, daß sie ihn musterte auf einem der Bildschirme. Schließlich kam sie auf ihn zu, langsam, schwarzweiß. Dann – sie streckte den Arm erschreсkend schnell vor – gab sie ihm den Pfennig zurück, in Farbe. Nach Mitternacht manövrierte sie den sturzbetrunkenen Assen in ein kleines Zimmer, in dem zwei Kühlschränke voller Bücher und ein ausziehbares Sofa standen; außerdem erinnerte er sich nur noch daran, daß ihr Körper nichts zu wünschen übrigließ. Vielleicht dachte er darum nicht mehr an sie. Nach ein paar Tagen rief ihn eine Fremde an.
Er lehnte eine Einladung zum Essen ab, gab vor, arbeiten zu müssen, er wollte nichts anfangen mit ihr. Wie du meinst, sagte sie. Es klang ein wenig drohend, und sie legte nicht auf. Doch gerade weil sie ihm Zeit gab, sich anders zu besinnen, tat er es nicht. Und jetzt erinnerte er sich wieder an die atemlose Heftigkeit, mit der sie übereinander hergefallen waren ohne jedes zärtliche Vorfühlen und ohne einen einzigen Kuß – als wollte jeder durch den anderen durchgehen, um ihn ein für alle Mal hinter sich zu bringen.
Am nächsten Tag schickte ihn die Taxi-Zentrale zu einer Telefonzelle in der Akazienstraße. Iris trug einen schwarzen Regenmantel mit gelben Knöpfen und lächelte nicht. Sie wollte zwei Straßen weiter gefahren werden, zu einem Bäcker, es war kurz vor Geschäftsschluß, also schnell. Assen schaltete das Taxameter ein. Vor dem Laden sollte er warten, seine Gedanken ahnend, ließ sie Mantel und Tasche auf dem Rücksitz. Sie kaufte ein langes Baguette, das noch ein Stück aus dem Wagen ragte, als sie eilig die Tür ins Schloß schlug. Von dem Rest biß sie ab und nannte mit vollem Mund das nächste Fahrtziel, einen türkischen Gemüseladen in der nächsten Querstraße. Sie hielt ihm das Brot hin, es war Lippenstift daran, er schüttelte den Kopf. Es folgten eine Apotheke, eine Wäscherei, ein Schuster, eine Weinhandlung. Auf den Sitzen, fuhr Assen in die Kurve, verrutschten die Plastiktüten; eine Tomate kollerte zwischen die Pedale, er trat sie, versehentlich, platt. Er betrachtete Iris im Rücksspiegel, ohne jedoch mehr zu sehen als die gespielte Ahnungslosigkeit einer Frau, die sich beobachtet weiß. Die Lichter der Läden wischten über ihr Gesicht, in den Wimpern glitzerte ein Regentropfen. Auf den ersten Blick war sie beunruhigend schön. Konnte also, stellte er beruhigend fest, bei jedem weiteren nur noch verlieren.

Fortsetzung folgt

un|be|zwei|fel|bar <Adj.>: nicht zu bezweifeln: eine -e Tatsache; die -e Wahrheit.
Nach|se|hen: in der Wendung das N. haben (nichts mehr, nur noch das Schlechtere [ab]bekommen).
ver|za|gen <sw. V.; ist/(seltener:) hat> [mhd. verzagen] (geh.): den Mut, das Selbstvertrauen verlieren; in einer schwierigen Situation kleinmütig werden: man darf nicht immer gleich v.; sie war ganz verzagt.
de|so|lat <Adj.> [zu lat. desolatum, 2. Part. von: desolare = einsam lassen, verlassen] (bildungsspr.): trostlos, traurig; schlecht, miserabel: eine -e Lage, Verfassung; ein -er Anblick, Zustand.
über|schla|gen <st. V.; hat> <ü. + sich> nach vorne od. hinten überkippen u. sich um die eigene Querachse drehen: der Wagen überschlug sich zweimal; die Wellen überschlugen sich; Ü der Verkäufer überschlug sich fast (ugs.; war überaus beflissen); sich vor Liebenswürdigkeit ü. (ugs.; überaus liebenswürdig sein).
er|bit|ten <st. V.; hat>: (geh.) höflich, in höflichen Worten um etw. für sich selbst bitten [u. es bekommen]: jmds. Rat, Verzeihung e.; ich erbat mir seine Hilfe; baldige Antwort erbeten.
un|wirsch <Adj.>: mürrisch u. unfreundlich: -e Antworten; jmdn. u. abfertigen.
Flach|mann, der <Pl. ...männer>: (ugs. scherzh.) kleine, flache [Schnaps]flasche, die man in die Tasche stecken kann: er nimmt einen Schluck aus dem F.
kol|lern <sw. V.> (landsch.): a) purzeln, rollen; kullern <ist>: Steine, Früchte kollern zu Boden; b) <k. + sich> sich irgendwohin wälzen <hat>.
ver|se|hent|lich <Adj.>: aus Versehen zustande gekommen, geschehen: eine -e Falschmeldung.

Aus: Ralf Rothmann: Messers Schneide. Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1986. S. 7–17.