Literatur
Helmut Sakowski
Wie ein Vogel im Schwarm
(Fortsetzung aus Nr. 17, 18/2008)
2.
Frau Lindner wurde nicht ohne weiteres vorgelassen. Sie war in Begleitung des Großen und des Kleinen bei Amte erschienen, wähnte sich möglicherweise von den Tieren behütet und hatte doch erst vorigen Tages erfahren müssen, wie wenig die gebändigte und gezähmte Kreatur gegen die Wildheit des Menschen ausrichten kann. Vielleicht erwartete sie stumme Zeugenschaft von ihren Lieblingen, denn deren Wunden und Schrunden sprachen für sich.
Sie stieß nicht ohne Beklemmung einen Flügel des schweren Portals auf und verschaffte sich Zutritt, raffte die Leine, um die Tiere kurz zu halten, und neigte grüßend den Kopf: Tagschön, guten Tag.
Sie näherten sich trippelnd, der Kleine und der Große schwanzwedelnd, zutraulich jedenfalls alle drei, einer mit Glas verschlagenen Sperre. Die Frau war im Umgang mit Behörden nicht geübt, sie erwartete Rat und Hilfe von dem stattlichen Herrn am Empfang; soviel sie sehen konnte, blickte er nicht unfreundlich drein. Sie hatte das Bedürfnis, ihr Herz auszuschütten, und begann in aller Arglosigkeit, ihre Geschichte auszubreiten. Der Angesprochene war aber an Unterhaltung nicht interessiert und verwies sie des Ortes mit der Bemerkung, Hunden sei der Zutritt nicht gestattet.
Ja aber, sie sind doch dabeigewesen.
Der Arm blieb gegen das Tor ausgereckt. Nichts da!
Sie ging mit hängenden Schultern davon und sprach nach einer Weile wieder vor. Jetzt war sie nicht mehr zutraulich.
Ausweis!
Bitte sehr.
Käthe Lindner also der Name der Besucherin. Brüderstraße 12.
Ganz recht.
Das Paßbild ist nicht ähnlich.
Früher ist sie hübscher gewesen. Das Alter. Was soll man machen?
Die Brille fehlt.
Wegen der Brille kommt sie ja.
Da soll sie zum Optiker gehen.
Der verlangt einen Stempel von der Versicherung. Hat am Schloßberg ihren Sitz. Erste Baracke.
Die sagen aber, erst müsse sie zum Arzt wegen der Bescheinigung.
Ist das hier die Poliklinik?
Dort hat sie schon vorgesprochen und ist schließlich hierher verwiesen worden. Es handelt sich um einen Überfall.
Da muß sie ein Portal weiter, zur Polizei. Ja, vorzeiten war sie mal hier. Ist jetzt Sitz des Wirtschaftsrates. Und weiter! Der nächste! Ausweis!
Genosse Questenberg, dem Käthe Lindner schließlich vorgestellt wurde, reichte ihr liebenswürdig die Hand.
Ja, sagte die Lindner in einiger Verlegenheit und betrachtete enttäuscht den Mann, er konnte höchstens dreißig sein, jedenfalls trug er Jeans und wirkte flapsig auf die Frau, sie hätte gern den Kommissar gesprochen.
Er sei von der K, meinte Questenberg und bat sie, frei von der Leber weg zu reden.
Sie geht jeden Abend mit den Hunden an die Luft, den Tieren tut es wohl, ihr ebenfalls. Sie kann sagen, wann es gewesen ist, beinah auf die Minute genau. Von halb acht bis zur vollen Stunde betrachtet sie die Aktuelle Kamera, sieht nämlich gern, wie fleißig allerorten in den Fabriken gearbeitet wird, wie gewaltige Pflüge über die Felder kriechen, bis es draußen duster wird. Da sieht man doch gleich, daß was gemacht worden ist. Sie selber ist ja auch für Ordnung da, Putzfrau von Beruf, seit vielen Jahren schon auf dem Bahnhof beschäftigt, aber so was wie gestern ist ihr noch nicht vorgekommen. Junge Leute, vielleicht macht man es ihnen heut zu leicht, sie kriegen alles, sie dürfen alles.
Na, na, sagte der Genosse Questenberg und verbat sich ihre Weitschweifigkeit in netter Form. Bitte zur Sache, Frau Lindner.
Sie geht also kurz nach zwanzig Uhr aus dem Haus und spricht wegen Hühnerknochen in der Broilerbar vor. Unwahrscheinlich, was auf den Tellern liegenbleibt, die Leute sind mäklig, die Hunde haben den Vorteil davon. So auch am gestrigen Tag.
Questenberg fragte: Hühnerknochen für Hunde?
Gewiß! Sie hat einen Beutel vollgesackt, auch ein paar Flaschen Bier erstanden, denn Richard trinkt gern, wenn es sein muß, mag er das zu Hause tun, und tritt hinaus vor die Tür des Lokals, drei Schritte bis zum Fahrradständer, dort sind die Tiere angebunden, sie löst den Knoten, freudig begrüßt, die Hunde riechen den Braten sozusagen und erheben sich bettelnd auf die Hinterläufe. Da nimmt sie aufblickend die Kerle wahr, wie sie am Gemäuer des Bahnhofs lümmeln. Gott, wie alt mögen sie gewesen sein, vierzehn oder sechzehn vielleicht, beinahe noch Schulkinder, sie trugen meterlange Strickschals in den Farben Blau und Gelb, und hoch die Flaschen, Goldener Nektar wahrscheinlich oder Gothano, was noch besser dunen soll. Sie denkt nichts Böses, denkt nur, ihr fangt ja beizeiten zu saufen an, wohl bekomm’s, ich dürfte nicht eure Mutter sein, und will schon davon, als es mit einemmal knallt. Sie ist ein bißchen schreckhaft und fährt herum, da sieht sie, wie die Jungen im Übermut die leeren Pullen an der Wand zerschlagen, als sollte Polterabend gefeiert werden.
Aus: Helmut Sakowski: Wie ein Vogel im Schwarm. Verlag Neues Leben, Berlin 1984. S. 5–14.
vor|las|sen <st. V.; hat>: 1. (ugs.) a) beim Warten damit einverstanden sein, dass jmd., der später gekommen ist, früher als man selbst an die Reihe kommt: sie hat mich an der Kasse vorgelassen; b) jmdn. passieren, überholen lassen: einen schnelleren Läufer v. 2. jmdm. eine Unterredung o. Ä. gewähren, in einer amtlichen Angelegenheit empfangen: man ließ sie sofort vor.
wäh|nen <sw. V.; hat> [mhd. wænen, ahd. wan(n)en, zu Wahn] (geh.): a) irrigerweise annehmen: er wähnte, die Sache sei längst erledigt; b) irrigerweise annehmen, dass es sich mit jmdm., einer Sache in bestimmter Weise verhält: ich wähnte dich auf Reisen, in Rom.
bän|di|gen <sw. V.; hat> [zu veraltet bändig, mhd. bendec = (von Hunden) festgebunden]: [trotz starken Widerstandes] unter seinen Willen zwingen; [be]zähmen, zum Gehorsam bringen: das Pferd b.; er konnte sich überhaupt nicht b. (zusammennehmen); die Kinder sind heute nicht zu b. (sind sehr ausgelassen); Ü Naturgewalten, seinen Zorn b.; sie hatte ihr Haar in einem Knoten gebändigt.
Schrun|de, die; -, -n [mhd. schrunde, ahd. scrunta = Riss, Spalt, Felshöhle, zu veraltet schrinden, schrinnen]: (durch Verletzung zugefügter) Riss in der Haut: ihre Hände waren voller Blasen und -n.
statt|lich <Adj.> [aus dem Niederd. < mniederd. statelik = ansehnlich, zu Staat]: 1. von beeindruckender großer u. kräftiger Statur: ein -er Mann. 2. (in Hinsicht auf äußere Vorzüge) ansehnlich, bemerkenswert: ein -es Gebäude.
arg|los <Adj.>: 1. ohne Arg; nichts Böses vorhabend; unschuldig, harmlos: eine -e Bemerkung, Frage; -es (gedankenloses) Wegwerfen von Abfällen; a. lächeln. 2. nichts Böses ahnend, ohne Argwohn, vertrauensselig: ein -es Kind; sie ging völlig a. darauf ein.
zu|trau|lich <Adj.>: Zutrauen habend; vertrauend ohne Scheu u. Ängstlichkeit: ein -er Hund; die Kinder sind sehr z.
flap|sig <Adj.> (ugs.): in der Art eines Flapses, schlechte Manieren zeigend: eine -e Antwort.