Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №22/2008

Literatur

Hans Joachim Schädlich
Irgend etwas irgendwie

Fortsetzung aus Nr. 21/2008

Deshalb hat Einer nicht geantwortet, Warum sollte ich was aufschreiben.
Einer sagte, Ich gehe manchmal auf den Hinterhof und kippe eine Plastiktüte voll Abfall in eine Mülltonne. Im zweiten Stock des Hinterhauses stand gestern eine alte Frau am Fenster und rief mir zu, In die letzte Tonne, in die letzte! Tatsächlich war in der letzten Tonne noch Platz. Ich kannte die alte Frau. Wir waren uns im Herbst an der Mülltonne begegnet. Sie fegte Blätter zusammen, die auf den Hof geraten waren und sagte, Ich wohne fünfzig Jahre hier, aber Sie habe ich noch nie gesehen. Sie sind neu im Haus, wie? Ja, sagte ich, neu, im Vorderhaus. Es sind viel neue hier, sagte sie, meistens junge. Die wissen gar nichts. Vom Krieg wissen die gar nichts. Wie die Bomben gefallen sind. Wie wir im Keller gesessen haben. Wenn ich vom Krieg rede, sagen die, Krieg, jaja. Die stellen sich das so einfach vor, Krieg. Die alte Frau sagte, Das Stück Hof vor meinem Fenster halte ich sauber, ich will auch was Schönes haben, wenn ich rausgucke.
Die alte Frau, sagte Einer, kennt den Hinterhof besser als ich. Ich lerne von ihr. Sie braucht keine Beschreibung. Auch die anderen, die aus ihren Fenstern auf den Hinterhof blicken, sehen, was ich sehe. Sie sehen in ein Fenster und erkennen einen Mann, der ein Zimmer renoviert. An die Wand gegenüber dem Fenster hat er einen Palmenstrand geklebt, Palmen so hoch wie das Zimmer. Am Strand sitzt ein Mädchen, und das Meer blau. Vor dem Fenster auf dem Hof der Schnee ist braun von Asche und ist schwarz von Dreck, wo kommt der her? Von der Straße, und vom Himmel. Die alte Frau hat mir gesagt. Das war schon immer so. Ich habe geantwortet. Aber anders ist es doch. Heutzutage weiß jeder, der ein Radio besitzt, warum das Atmen solche Mühe macht. Wer besaß vor fünfzig Jahren ein Radio? Sie haben doch ein Radio. Schon am Morgen erfahren Sie, daß etwas zuviel Gift in der Luft liegt. Das ist ein Vorteil, daß einer alles wissen kann. Es wird einem auch gesagt, was zu tun ist. Nicht den Ofen heizen. Lieber in der Kälte sitzen, wenn die Luft schon schlecht ist. Nicht mit dem Auto fahren. Das fällt leicht, ohne Auto. Nicht das Fenster öffnen. Auch wenn die Luft im Zimmer abgenutzt ist. Bessere Luft kommt nicht herein. Außerdem bleibt es wärmer, ohne warmen Ofen. Und: nicht rauchen. Es hat sein Gutes. Bloß, nie sagen sie einem, wer das Gift in die Luft gibt. Es heißt, das ist bedauerlich, aber nötig, damit wir alles haben, was wir brauchen: Autos, Medikamente, Waschpulver.
Die Anruferin fragte, Schreibst du das auf?
Nein, sagte Einer, ich erzähle es dir. Wer soll das aufschreiben. Dazu habe ich keine Zeit.
Wieso, fragte die Anruferin. Was tust du.
Einer sagte, Ich tue nichts. Am Morgen schlafe ich. Mittags, in dem hellen Licht, erwache ich und schließe die Augen. Nachmittags, in der Dämmerung, öffne ich die Augen und warte auf den Abend. Abends versuche ich zu schlafen. Aber nachts stehe ich auf und gehe im Zimmer umher.
Die Anruferin sagte, Das begreife ich nicht. Du mußt essen, trinken.
Einer sagte, Ich esse, trinke, rauche, sehe aus dem Fenster, gehe auf die Straße, kaufe ein Brot, eine Gurke, sieben Tomaten, ich kehre zurück. Aber ich tue nichts.
Das ist, ich weiß es nicht, sagte die Anruferin.
Ich weiß, sagte Einer.
Schreib wenigstens auf, daß du nichts tust, sagte die Anruferin.
(Einer hat Papier und Kugelschreiber zur Hand genommen. Es ist nachlesbar, daß er schreibt: Ich tue nichts. Während Einer schreibt, daß er nichts tut, tut er etwas. Wenn Einer immerfort schriebe: Ich tue nichts: täte er immerfort etwas. Einer darf nicht aufhören zu schreiben: Ich tue nichts. So erfährt Einer, daß er etwas tut. Er darf schreiben: Ich tue etwas. Er schreibt immer­fort: Ich tue etwas. So tut er etwas. Riefe die Anruferin jetzt an und fragte, Was tust du?, könnte er antworten. Ich schreibe: Ich tue etwas. Sie könnte ihn auffordern. Schreib, was du tust. Er würde erwidern, Das tue ich. Ich schreibe, daß ich schreibe: Ich tue etwas.)
(Die Frage, Wer redet (schreibt) hier, wird lauter. Wieso tut einer etwas, der schreibt, daß er nichts tut.) (Ein ruhiger Betrachter, unverdächtig des begünstigen­den Vorurteils, könnte einwerfen: Nein, das Brot der anderen will er nicht. Es ist vorgekommen, daß er Brot, das er nicht bezahlt hatte, nicht aß. Er mußte sich nicht willentlich bemühen, es zu verweigern. Es blieb ihm im Hals stecken. Die Erscheinungsform: Stöhnen, wie­gende Bewegung des Oberkörpers (seitwärts); Würgen; Verlassen des Eßplatzes (schleppender Gang); Selbstbe­zichtigung (murmelnd, also teilweise unverständlich) der Art: der Nahrung nicht wert, oder (gesteigert), dem Nichts das Nichts, etcetera; (im extremen Fall) lautloser Ausbruch von Tränen, deutbar als Ausdruck von Unerträglichkeit einer Last; die Körperhaltung entsprechend gekrümmt.)

Fortsetzung folgt

Aus: Hans Joachim Schädlich: Ostwestberlin. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1987. S. 81–98.

Der Abdruck folgt dem Original von 1987 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.

 

Hin|ter|haus, das: a) Haus im Hinterhof eines an die Straße grenzenden Hauses: sie wohnten in der Fasanenstraße im dritten H.; b) hinterer Teil eines größeren an der Straße gelegenen Hauses.

Vor|der|haus, das: a) nach vorn zur Straße gelegenes Haus; b) vorderer, zur Straße gelegener Gebäudeteil eines größeren Hauses.

re|no|vie|ren <sw. V.; hat>: (schadhaft, unansehnlich gewordene Gebäude, Innenausstattungen o. Ä.) wieder instand setzen, neu herrichten; erneuern: eine Villa, Kirche, Fassade r.; sie haben das Hotel innen und außen r. lassen.

Vor|teil, der; -[e]s, -e: etw. (Umstand, Lage, Eigenschaft o. Ä.), was sich für jmdn. gegenüber anderen günstig auswirkt, ihm Nutzen, Gewinn bringt: ein großer, entscheidender V.; materielle, finanzielle -e; dieser Umstand ist nicht unbedingt ein V.; diese Sache hat den [einen] V., dass ...; er hat dadurch/davon viele -e; seinen V. aus etw. ziehen, herausschlagen; sich auf unlautere Weise einen V., -e zu verschaffen suchen; diese Methode hat, bietet viele -e; -e und Nachteile einer Sache gegeneinander abwägen; sich von etw. -e versprechen; er ist immer nur auf seinen eigenen V. bedacht; er ist [gegenüber den anderen] im V. (in einer günstigeren Lage); von V. (vorteilhaft) sein; etw. gereicht jmdm. zum V. /gereicht zu jmds. V; er hat sich zu seinem V. verändert (hat sich in positiver Weise, zu seinen Gunsten verändert); der Schiedsrichter hat V. gelten lassen (Sport; einer Mannschaft die Möglichkeit gelassen, in eine günstige Position zu kommen, indem er wegen eines Fouls der anderen Mannschaft das Spiel nicht unterbrochen hat).

ab|nut|zen (bes. nordd.), ab|nüt|zen (bes. südd., österr. u. schweiz.) <sw. V.; hat>: a) durch Gebrauch, Beanspruchung im Wert, in der Brauchbarkeit mindern: die Autoreifen a.; <häufig im 2. Part.:> ein abgenutzter Teppich; b) <a. + sich> durch Benutzung an Wert und Brauchbarkeit verlieren: die Bürste hat sich rasch abgenutzt; Ü große Worte nutzen sich ab.

im|mer|fort <Adv.>: ständig, fortdauernd; immer wieder: jmdn. i. anstarren.

ein|wer|fen <st. V.; hat>: in einem Gespräch eine [kritische] Zwischenbemerkung machen: eine Bemerkung e.; sie warf ein, das könne wohl nicht stimmen.