Literatur
Helga Schubert
Mein Vater
Fortsetzung aus Nr. 18/2009
Sie waren fünf Jahre heimlich verlobt, ein Jahr offiziell, jetzt heirateten sie und waren acht Wochen ein richtiger Ehemann und eine richtige Ehefrau. Mit Wohnung im Kreuzberg in Berlin. Die schweren Gardinen, die Lederklubsesselgarnitur, der echte Teppich, das Tafelsilber, das Porzellanservice Maria Weiß. Und die modernen Ansichten von der Ehe: Beide wollten sie arbeiten. Mittagessen natürlich im Restaurant.
Acht Wochen eine richtige Ehe mit Nachhausekommen, Erwarten, Erwartetwerden, Gespräche über die Tagesarbeit, den geplanten Lampenkauf.
Am vierten September 1939 hatte mein Vater Geburtstag, seinen sechsundzwanzigsten. Da war er schon Soldat, da wurde schon geschossen, angeblich zurück. Vom Januar 1940 bis zum Dezember 1941 hat er noch gelebt, einige Urlaubstage zu Hause.
Zur Taufe sein Foto mit der halbweißen Stirn, die sonst unterm Stahlhelm steckte. Im Herbst das Foto im eleganten Anzug, meine Mutter im Seidenkleid, in einem Park mit Tauben, mit einem kleinen Kind im Arm. Im Winter in Uniform im Schnee mit meiner Mutter und einem kleinen Kind im Kinderwagen, auch im Park.
Dann das Foto von seinem fast zweijährigen Kind und seiner Frau, die Zähne entblößt zum Lächeln, mit todernsten Augen. Dies Foto kam zurück an die Absenderin, zusammen mit dem übrigen Päckcheninhalt, den Weihnachtsplätzchen, den gestrickten Handschuhen, der Weste und seinen Ringen, dem Ehering und dem Siegelring, der Stein ein Bluttopas. Das Päckchen hat er nicht mehr bekommen.
Fürs Vaterland, auf dem Felde der Ehre, im Kampf gegen die Bolschewisten in deren eigenem Land.
Zu Hause hat er immer gleich die Uniform ausgezogen. Keiner Fliege konnte er etwas zuleide tun, aber im Krieg nahm er einem alten russischen Bauern die einzige Kuh weg. Fleischbeschaffungskommando, schrieb er.
Er war groß und breitschultrig, als Student war er in einer schlagenden Verbindung, ruderte, lief Mittelstrecken. Es gibt ein Foto von ihm in pfauenhafter Aufmachung. Er konnte Rauch nicht leiden – sein Bruder mußte den rauchigen Anzug im Wohnungsflur aufhängen, wenn er vom Tanzen kam.
Er war streng erzogen. Pünktlich um sechs Uhr abends war er zu Hause beim Abendbrot, weil es danach nichts mehr gab. Die Jungens wurden von früh an Ordnung gewöhnt. Als kleines Kind saß er, wie seine Mutter sagte, stundenlang ruhig am Fenster, wenn Besuch da war. So ein guterzogenes Kind hatte es in Schwedt noch nicht gegeben.
Aber auch in Greifswald, nach dem Umzug der Eltern, fiel die Familie auf. Die Mutter gab Hausunterricht für die Söhne der reichen Bauern aus umliegenden Dörfern, damit sie das Einjährige schafften. Der Vater promovierte summa cum laude in Staatswissenschaften und wurde, so steht es auf seinem Grabstein, Mittelschulkonrektor. Auch er kam mittags pünktlich um zwölf Uhr in der Schulpause nach Hause. Wenn die Glocken läuteten, goß meine Großmutter die Kartoffeln ab.
Der Bruder war zwei Jahre jünger und starb zwei Jahre später. Auch im Krieg. Seine Mutter überlebte ihn um siebenundzwanzig Jahre, aber sein Vater nur um vier. Ich kann mich an meinen Vater nicht erinnern. Aber ich lebe mit ihm: seinen Aussprüchen, seiner Kindersprache, seinen Fotos mit den kurzsichtigen Augen, seiner zerschlagenen Wange, seinen weiten Anzughosen, seinen Ruderholmen in den Händen, seiner Zärtlichkeit, seinem Humor, seinem ausgeglichenen Wesen, seiner Anziehung, seinem wiegenden Gang, seinen früheren Freundinnen, seiner vermeintlichen Arroganz, seinen Locken, als er drei war, seinem Ring mit dem Bluttopas, der für mich enger gemacht wurde. Denn ich war wie er, hatte seinen wiegenden Gang, sein ausgeglichenes Wesen, seine Sprunghaftigkeit, seine Begeisterungsfähigkeit, seine großen Hände, seine schweren Augenlider.
Ich war nicht nur ganz mein Vater, ich wurde geliebt als sein Kind von seiner Mutter und seiner Frau.
Diese Ähnlichkeit, und sie hat ihn doch gar nicht mit Bewußtsein gesehn.
Aus: Helga Schubert: Schöne Reise. Geschichten. Aufbau-Verlag,
Berlin und Weimar 1988. S. 54–66, 113–117.
Der Abdruck folgt dem Original von 1988 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.
ent|blö|ßen <sw. V.; hat>: 1. a) die Bekleidung (vom Körper, von einem Körperteil) entfernen: sich, die Brust e.; mit entblößtem Kopf stand er am Grabe; Ü ich habe mich, mein Innerstes vor dir entblößt (dir alle meine geheimen Gedanken mitgeteilt); b) bloß legen: beim Sprechen die Zähne e. 2. von etw. frei machen; (nützlicher, notwendiger Dinge) berauben: er entblößte die Stadt von allen Truppen; ich bin von allen Mitteln/(geh.:) aller Mittel entblößt (ich habe kein Geld mehr); die Abwehr e. (Fußball; durch das Aufrücken von Abwehrspielern die eigene Abwehr schwächen u. so dem Gegner Möglichkeit zum Kontern geben).
Sie|gel|ring, der: Fingerring mit einem in eine Metallfläche od. einen Stein eingravierten Siegelbild, der (anstelle eines Petschafts) zum Siegeln benutzt werden kann.
um|lie|gend <Adj.>: in der näheren Umgebung, im Umkreis von etw. liegend: Neustadt und die -en Dörfer.
Ein|jäh|ri|ge, das; -n <Dekl. Junge, das> [nach dem für den Einjährigen erforderlichen Schulabschluss] (veraltend): mittlere Reife.
Kon|rek|tor, der; -s, ...oren [aus lat. con- = mit- u. Rektor] (Schulw.): Stellvertreter des Rektors [einer Grund-, Haupt- od. Realschule].
ab|gie|ßen <st. V.; hat>: 1. a) einen Teil einer Flüssigkeit, der als zu viel erscheint, aus einem Gefäß heraus-, weggießen: gieß Wasser [aus dem Eimer] ab!; b) durch das Herausgießen von Flüssigkeit den Inhalt eines Gefäßes verringern: den Eimer a. 2. a) von etwas gießen, weggießen: das Wasser von den Nudeln a.; b) etw. Gekochtes vom Kochwasser befreien: die Kartoffeln a. 3. (bild. Kunst; Gießerei) durch einen Guss formen, nachbilden: eine Büste a. 4. (Gießerei) (eine Form) mit flüssigem Metall füllen: eine Form a.
aus|ge|gli|chen <Adj.>: a) harmonisch, in sich ruhend, gelassen: ein ausgeglichener Mensch; b) gleichmäßig, frei von Schwankungen: eine -e Bilanz; eine -es Klima; die Mannschaft ist ein -es (auf allen Positionen gleich gut besetztes) Team.
An|zie|hung, die; -, -en: 1. <o. Pl.> das Anziehen; Anziehungskraft, Vermögen, jmdn. in seinen Bann zu ziehen: eine starke A. auf jmdn. ausüben. 2. Verlockung, Reiz: den -en der Großstadt erliegen.
ver|meint|lich <Adj.>: (irrtümlich, fälschlich) vermutet, angenommen; scheinbar: der -e Gangster entpuppte sich als harmloser Tourist; eine v. günstige Gelegenheit.
Ar|ro|ganz, die; - [lat. arrogantia] (abwertend): arrogante, dünkelhafte, überhebliche, Art, arrogantes Wesen: von aufreizender A. der Kundin gegenüber.