Literatur
Helga Schubert
Die Silberkrone
Fortsetzung aus Nr. 18, 19, 20, 21, 22/2009
Da war es so schön ruhig, und nach ein paar Minuten kam dann ihre Stieftochter in unsere Betten nach.
Du hättest es ja doch gemerkt, meint sie, wenn du jetzt nach Hause kommst. Da will ich es lieber gleich sagen.
Ist Paul auch noch nachgekommen, frage ich.
Nein, der hat mich nicht mal gesucht.
Zu Hause beziehe ich die Betten neu. Sie wüßte nicht, warum, wenn ich ihr das erzählen würde.
3
Das Haus hat Paul von seinen Eltern geerbt. Ein Bruder ist jung gestorben, nach der Operation im Krankenhaus. Nun hat er noch zwei Brüder und eine Schwester. Die Schwester kommt nur zu Hochzeiten hier ins Haus. Sie ist richtig fein geworden in ihrer Ehe. Zur Silberhochzeit trug sie alles aus Silber, eine silberne Bluse und auch etwas Silbernes im Haar. Das hat sich Marie genau angesehen. Sie wohnen ein Dorf weiter. Der eine Bruder wohnt zwei Dörfer weiter. Er kommt manchmal am Sonntag mit seiner Familie und dem Pony-Gespann zu Besuch. Der andere Bruder lebt in unserm Dorf. Er kommt nicht zu Besuch. Dieser Bruder hat eine fröhliche Familie. Am Sonntag geht er mit seiner Frau am Arm auf der Dorfstraße spazieren und vor allem: Er hat ein Pferd, das ihm gehorcht. Paul hat auch ein Pferd, doch vor dem hat er Angst. Eigentlich sollte es eine Geldanlage sein, und er wollte mit der Zucht beginnen. Aber nun steht es nur herum. Vor dem Pflug tänzelt es schweißüberströmt, oder es bleibt stehen. Wenn Paul das Pferd zum Weiden angepflockt hat, reißt es sich bald los. Dann sehen wir es in großen weiten Sprüngen am Horizont. Und Paul fährt mit dem Moped umher und erkundigt sich, wo sein Pferd sein könnte. Verkaufen kann er es nicht, dann hätte er ja kein Pferd. Und um das Pferd seines Bruders kann er schon gar nicht bitten. Da leiht er sich lieber das von der LPG, wenn er wirklich mal eins zum Arbeiten braucht.
4
Paul lebt schon immer hier. Marie ist da geboren, wo heute Polen ist. Eine Geburtsurkunde besitzt sie nicht, aber dafür hat sie eine richtige Geschichte. In einem Schulheft, das sie in der Anrichte im Wohnzimmer verwahrt, hebt sie drei Beweise für ihr Leben auf. Den ersten Beweis gab ihr die Pflegemutter, als Marie volljährig wurde. Es ist eine Erklärung, auf Rechenpapier geschrieben: «Am 15. 1. 1939 wurde mir das Kind von der Schwester eines Kinderheims übergeben. Das Kind war unehelich geboren und seit dem Alter von neun Tagen im Kinderheim, da die Mutter in Stellung war. Wie mir mein erster Mann, der verstorben ist, mitgeteilt hat, ist die Mutter des Kindes später in ein Konzentrationslager eingeliefert worden, weil sie Verkehr mit einem französischen Kriegsgefangenen hatte, und ist dort im Lager umgekommen. Der Vater des Kindes ist als Soldat gefallen.» Der zweite Beweis ist der Entlassungsschein aus dem Waisenhaus, als sie sechs war. Auf dem steht der Name der Mutter und daß sie im KZ gestorben ist. «Grund der Aufnahme: unbekannt.» Der dritte Beweis ist der erste Brief ihrer Schwester, den Marie mit einunddreißig Jahren erhielt. So lange hatte sie sie über den Suchdienst des Roten Kreuzes suchen lassen. Elf Jahre lang hörte sie die Durchsagen im Rundfunk, immer wieder, Jahr für Jahr.
Marie besteht auf ihrer Geschichte: wie die Mutter mit ihnen beiden, die Schwester konnte noch gar nicht richtig laufen, auf der Straße stand, sich gegen andere Menschen wehrte und schrie. Aber trotzdem nahm man ihr die beiden Kinder weg und brachte sie in ein Kinderheim. Für Marie, aber für mich nicht, fügen sich Erinnerung und Beweise. Sie kann sich an alles noch genau erinnern. Immer unter fremden Leuten: in die deutsche Bauernwirtschaft, wo der Bauer ein Mädchen wollte. Als er starb, gab seine Frau das Kind wieder ins Heim. Doch auch ihr nächster Mann wollte ein Mädchen, und sie holte Marie zurück. Adoptiert wurde sie nie, wohl wegen der Erbschaft und der Verwandten. Auf dem Hof und im Stall mußte sie schon von Kind an so schwer arbeiten wie eine Magd. Bekam kein gutes Wort. Und hatte für die Schule weder Mut noch Kraft.
Aus: Helga Schubert: Schöne Reise. Geschichten. Aufbau-Verlag,
Berlin und Weimar 1988. S. 54–66, 113–117.
Der Abdruck folgt dem Original von 1988 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.
Stief|toch|ter, die; Stief|kind, das [mhd. stiefkint, ahd. stiufchint]: Kind aus einer früheren Ehe des Ehepartners: sie behandelt ihre -er wie ihre leiblichen Kinder; Ü sie ist ein S. des Glücks (hat wenig Glück, hat selten Glück); der Umweltschutz ist ein S. der Regierung (wird von ihr vernachlässigt).
fein <Adj.> [mhd. fin < (a)frz. fin = fein, zart, über ein galloroman. Wort mit der Bed. «Äußerstes, Bestes» zu lat. finis = Ende, Grenze; Äußerstes, Höchstes]: 1. a) von dünner, zarter Beschaffenheit: -es Gewebe; eine -e Röte überzog ihr Gesicht; ihr Haar ist sehr f.; f. geschliffenes Kristall; ein feines (engmaschiges) Sieb; f. gesponnenes Garn; b) von angenehm-zartem Äußeren; nichts Grobes enthaltend, in allen Einzelheiten ausgebildet: ein -es Profil; -e Hände haben; das Mädchen hat ein -es, ein f. geschnittenes Gesicht; f. geschwungene Augenbrauen; 2. (ugs.) (von Menschen) anständig, nett: er ist wirklich ein -er Kerl; (iron.:) du hast ja eine -e Verwandtschaft. 3. gepflegt, vornehm, elegant [aussehend]: -e Manieren; (abwertend:) ein -er Pinkel; du bist dir wohl zu f. dafür; f. aussehen; sich f. machen (sich gut anziehen, sich nett zurechtmachen).
ge|hor|chen <sw. V.; hat>: sich dem Willen einer [höhergestellten] Person od. Autorität unterordnen u. das tun, was sie bestimmt od. befiehlt: er muss g. lernen; jmdm. blind g.; der Hund gehorcht mir aufs Wort (befolgt meinen Befehl sofort).
Zucht, die; -, -en: a) <o. Pl.> das Pflegen, Aufziehen, Züchten (von Tieren od. Pflanzen); Züchtung: sie half ihm bei der Z. seiner Orchideen, von Rosen; sie beschäftigt sich mit der Z. von Rauhaardackeln; b) Gesamtheit von Tieren od. Pflanzen, die das Ergebnis des Züchtens, einer Zucht darstellt: Zuchten von Bakterien; eine Z. Windspiele; Rosen aus einer Z., aus verschiedenen -en.
An|rich|te, die; -, -n: a) Geschirrschrank mit einer Fläche zum Anrichten u. Bereitstellen der Speisen; Büfett: das Essen steht auf der A.; die Teller aus der A. nehmen; b) Raum mit Geschirrschränken u. Flächen zum Anrichten: in der A. arbeiten.
ein|lie|fern <sw. V.; hat>: a) an einen entsprechenden Ort bringen u. dort den zuständigen Personen zur besonderen Behandlung, zur Beaufsichtigung o. Ä. übergeben: jmdn. ins Gefängnis e.; <österr. auch mit Dativ:> jmdn. einem Spital e.; b) bei der zuständigen Stelle zur weiteren Bearbeitung, zur Abfertigung abliefern, abgeben: Pakete bei der Post e.
Magd, die; -, Mägde: (veraltend) dienende, zur Verrichtung grober Arbeiten (bes. von Haus- od. landwirtschaftlicher Arbeit) angestellte weibliche Person: die Knechte und Mägde des Bauernhofs; als M. dienen.