Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №24/2009

Literatur

Helga Schubert
Die Silberkrone

Fortsetzung aus Nr. 18, 19, 20, 21, 22, 23/2009

Da war sie froh, als sie achtzehn wurde und von zu Hause weglaufen konnte. Ihre Sachen wollte sie sich von der Polizei holen lassen, trotzdem mußte sie noch einmal allein zurück. Sie bekam nichts, weder Bett noch Kopfkissen. In eine Lehre hatten die Pflegeeltern sie nicht geschickt, aber von der Landwirtschaft verstand sie was. Sie ging weit weg, fast an die Ostsee, in ein Dorf, arbeitete im Kuhstall, war endlich frei. Damals las sie die Heiratsannonce von Paul und kam hierher. Auch hier hörte sie die Suchmeldungen im Radio. Wartete auf Nachricht von der Schwester.
Und plötzlich, mit einunddreißig, bekam sie einen Brief, halb deutsch, halb polnisch.
«Meine herzallerliebste Marie. Ich bin sehr erregt und weiß nicht, wie ich anfangen soll. Zum erstenmal in meinem Leben kann ich zu meiner Schwester schreiben. Ich bin zwei Jahre jünger als du und habe nicht gewußt, daß ich Geschwister habe. Das Schicksal hat es gemacht, daß unsere Familie auseinandergekommen ist und alle in der Welt verstreut wurden. Ich war bei fremden Leuten, heute hier und morgen da, ohne Mutter, Vater und Geschwister. Ich und du, wir sind ins Waisenhaus gekommen, von wo uns deutsche Familien adoptiert haben. 1946 mit Hilfe des englischen Roten Kreuzes bin ich nach Polen heimgekehrt.»
Marie weinte vor Freude, antwortete gleich und lud die Schwester mit Familie zu sich ein. Alle wollte sie kennenlernen und von nun an nie wieder verlieren.
Der Brief war ihr über den Bürgermeister zugeleitet worden. Darum war das Ereignis auch offiziell bekannt. Der Rat der nächsten Stadt bereitete einen Empfang vor. Die Zeitung von der großen Partei eine Stadtrundfahrt mit gemeinsamem Mittagessen und ein Foto für die nächste Sonntagsbeilage. Die Schwester kam, schmal und elegant gekleidet, eine Städterin. Sie konnte kein Wort Deutsch. Doch ihr Mann stammte aus einer deutschen Familie und übersetzte. Es wurde ein festlicher Tag mit Ansprache, voll Rührung. Dann fuhren sie zu Marie ins Dorf. Dort hatten Paul und Marie das Haus renoviert, die Fenster gestrichen, Gardinen gewaschen, das Gras im Vorgarten gemäht. Der Mann übersetzte: Maries Schwester war nach dem Krieg von einem polnischen Buchhändler adoptiert und wie ein eigenes Kind geliebt worden. Sie arbeitete als Buchhalterin. Dort lernte sie ihren Mann kennen.
Nun sollte auch Marie zu Besuch kommen. Sie fuhr mit der gesamten Familie, sehr beschwerlich, einen Tag lang. Fast durch das ganze Polen. Dort übersetzte wieder der Schwager. Sie nahmen sich vor, einander jedes Jahr zu besuchen. Aber die folgenden zwölf Jahre schrieben sie sich nur, zu den Festtagen und zu den Geburtstagen. Im vergangenen Jahr bekam Marie von der Schwester eine Karte mit fremder Schrift. Ihr Mann sei krank, und sie könne darum nicht reisen. Dann, er sei gestorben, und sie komme.
Die Schwester erschien mit ihrem Sohn und einem anderen Mann, einem Kollegen. Er hatte sie die achthundert Kilometer in seinem Auto gefahren. Er konnte kein Deutsch. Als der Sohn der Schwester mit seiner Cousine, Maries Tochter, die Dorfstraße entlang spazierenging, unterhielten sie sich halb polnisch, halb russisch. Er erzählte ihr, daß er den Vater gefunden habe, zu Hause, erhängt. Der Sohn hat ihn als erster von allen gesehen und kann das nicht vergessen.
Die Schwester schlief mit dem Kollegen in einem Zimmer, wollte nicht so viel Mühe machen. Und morgen sollte es zurückgehen. Was sollten sie auch miteinander reden. Nur Zeichensprache über das Essen und das Wetter? Und nach den Gründen für den Tod konnte Marie auch nicht fragen. Wer hätte das übersetzen wollen.
Wie sie abfuhren in dem neuen weißen Auto, sahen sie aus wie eine frohe Familie.
Nein, die Schwester hat seitdem nicht wieder geschrieben. Marie auch nicht. Schon ein ganzes Jahr. Man hat ja in der eigenen Familie so viel zu tun.
Aber schön ist es doch, daß Marie nun weiß, die Schwester lebt und ist gesund.
Was soll man sich auch immer schreiben?

Fortsetzung folgt

Aus: Helga Schubert: Schöne Reise. Geschichten. Aufbau-Verlag,
Berlin und Weimar 1988. S. 54–66, 113–117.

 

Der Abdruck folgt dem Original von 1988 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.

ver|streu|en <sw. V.; hat>: 1. a) streuend verteilen: Asche auf dem Fußweg v.; b) versehentlich ausstreuen, verschütten: Zucker, Mehl auf dem Boden v. 2. beim Streuen verbrauchen: wir verstreuen jeden Winter ein paar Zentner Vogelfutter. 3. (ohne eine [erkennbare] Ordnung) da und dort verteilen: das Kind hat seine Spielsachen im ganzen Haus verstreut; <oft im 2. Part.:> ihre Kleider lagen im ganzen Zimmer verstreut (unachtsam, unordentlich an verschiedenen Stellen abgelegt); Ü verstreute (vereinzelte, weit auseinanderliegende) Höfe; in verschiedenen Zeitschriften verstreute Aufsätze; über die ganze Welt verstreute jüdische Gemeinschaften.

zu|lei|ten <sw. V.; hat>: 1. etw. an eine bestimmte Stelle leiten, gelangen lassen: der Mühle, dem Kraftwerk Wasser z.; Ü der Erlös der Veranstaltung soll dem Kinderhilfswerk zugeleitet (übergeben) werden. 2. (etw. Schriftliches) übermitteln, zustellen: jmdm. eine Nachricht, eine Mitteilung, ein Schreiben [auf dem Amtswege] z.

Emp|fang, der; -[e]s, Empfänge [mhd. en-, anphanc, ahd. antfanc]: 1. <o. Pl.> das Empfangen, Entgegennehmen: den E. einer Ware bestätigen; *etw. in E. nehmen (sich etw. aushändigen lassen; etw. entgegennehmen); jmdn. in E. nehmen (ugs.; jmdn. bei seiner Ankunft begrüßen, ihm zur Begrüßung [u. weiteren Betreuung] entgegengehen): jmdn. auf dem Bahnhof in E. nehmen; (iron.:) jmdn. mit dem Gummiknüppel in E. nehmen. 2. <o. Pl.> (Funkw., Rundf., Ferns.) das Empfangen: ein ungestörter E. 3. a) <o. Pl.> (geh.) [offizielle] Begrüßung eines Ankommenden: ihr wurde ein begeisterter E. zuteil; b) festliche [Begrüßungs]veranstaltung: einen E. geben. 4. Raum, Stelle in einem Hotel, wo sich die Gäste anmelden; Rezeption: am, beim E. liegen zwei Briefe für dich.

Rüh|rung, die; -: weich stimmende innere Bewegtheit: R. ergriff, übermannte, überkam, überwältigte sie; eine tiefe R. fühlen, verspüren; vor R. weinen, kaum sprechen können.

be|schwer|lich <Adj.>: mühsam, mit Anstrengung verbunden, ermüdend: eine -e Fahrt, Reise; der Anstieg wurde immer -er; es ging ihm schon besser, aber das Laufen fiel ihm noch b. (veraltend; schwer); ich möchte dir nicht b. (veraltend; zur Last) fallen.

vor|neh|men <st. V.; hat>: 1. <v. + sich> a) den Entschluss fassen, etw. Bestimmtes zu tun: sie hatte sich [für diesen Tag] einiges, allerhand vorgenommen; ich habe mir [fest] vorgenommen, in Zukunft darauf zu verzichten; b) (ugs.) im Rahmen einer beruflichen Tätigkeit od. um seine Zeit sinnvoll auszufüllen, sich mit etw., jmdm. zu beschäftigen beginnen: nimm dir doch ein Buch, eine Handarbeit vor; c) (ugs.) vorknöpfen: den Bengel werde ich mir mal [gehörig] v.! 2. (meist verblasst) durchführen: eine Änderung, Untersuchung v. (etw. ändern, untersuchen); an/bei jmdm. eine Operation, einen Eingriff v. (jmdn. operieren).