Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №10/2010

Literatur

Alice Schwarzer
Warum gerade sie? Weibliche Rebellen

Fortsetzung aus Nr. 03, 04, 05, 06, 07, 08/2010

Nina Hagen
Sängerin

Schwarzer: Sag mal genauer, was du damit meinst.
Hagen: Na ja, man muß versuchen, sich mit den jungen Leuten abzugeben. Also mit den 15- bis 16jährigen, denn die machen noch viele Spielchen, die man als Erwachsener nicht mehr macht. Am Anfang, als ich die Ariane kennengelernt habe, da hab ich mich unheimlich erwachsen gefühlt. Ich konnte ihre Späße ja manchmal nicht nachvollziehen. Es hat mich zum Beispiel mächtig Überwindung gekostet, sie auf ihr Drängen im Rollstuhl ins China-Restaurant zu fahren – nur, weil sie keine Lust hatte zu laufen. Ich hab dann gesagt: O.k., ich mach’s, aber nur, wenn du nicht aufstehst... So Scherze haben wir dauernd gemacht. Mit Ariane kann ich auch am besten über meine Arbeit reden. Die mag ich ganz wahnsinnig gern. Die ist auch unheimlich helle im Kopf. Das ist eine richtige Hexe!
Schwarzer: Demnächst gehst du wieder auf Tournee. Neue Lieder und Platten machst du auch. Hast du noch andere Pläne?
Hagen: Ja, ich hab einen Film geschrieben. Über eine Frau natürlich. Den Namen kann ich schon mal verraten: Eulalia Treppengeländer. Die rutscht nämlich so gern Treppengeländer und hat leider auf einer Schiffsweltreise ihr Gedächtnis verloren. Sie kommt nach Deutschland zurück, denn die deutsche Sprache spricht sie noch. Sonst ist alles weg. Sie weiß nicht mehr, wer sie ist und so. Dann stößt sie auf ein paar Leute, und da teilt ihr jemand mit, da gab’s ’ne «Liga für gestrandete Existenzen». In dieser Liga wird auch der Wolf Biermann vorgeführt, der spielt nur noch Bongo oder singt Lieder ohne Gitarre. Und Lindenberg singt mit sächsischem Akzent. Lieder, die die Gefühle der Leute verbessern und die Vergangenheit in den Griff kriegen wollen. Dann gibt’s aber da noch ’ne andere Liga, die die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen will. Und alles hängt mit der Eulalia zusammen wegen ihrem Gedächtnisschwund und mit den Eigenheiten des Liga-Präsidenten, der ist nämlich Fischmann und daran scheitert auch die Beziehung zu Eulalia, aber mehr will ich noch nicht verraten. Ich such noch jemand, mit dem ich das Drehbuch ausfeilen kann und der die Regie führt. Ich spiel natürlich die Eulalia.
Schwarzer: Du bist ja oft gefragt worden, was für dich denn nun der Unterschied sei zwischen der DDR und der BRD, ob du einen Kulturschock gekriegt hättest oder so.
Hagen: Von der DDR aus da sah so manches so progressiv aus. Der Beatclub zum Beispiel. Na, und von hier aus begreifst du, daß das ’ne ganz miese Bedürfnisindustrie ist. Und dann gab es in der DDR einen unheimlichen Zusammenhalt zwischen den Leuten, die manche Sachen nicht so dufte fanden und irgendwie was ändern wollten. Drüben hat es so eine richtig große Szene. Die fahren im Sommer vielleicht alle nach Ungarn oder ins Sandsteingebirge oder woanders hin. Wenn man da mal jemand besucht, ist immer offene Tür und es wird Tee gemacht und ist ganz toll. Im Westen, da verläuft sich das alles so. Das ist größer und bunter, da kann man leicht den Anschluß verlieren. Man kann leichter traurig werden, weil man mehr allein ist. Man kann sich hier leichter langweilen, wahnsinnig langweilen. In den Diskotheken, da ist zwar alles ganz bunt, aber die Menschen haben sich nicht viel zu sagen. Du guckst dir den Verrückten an, und dann den, und dann den Hintern und den Busen und dann hat es sich. Dann langweilst du dich wieder. Und dann kommt wieder ein anderes Lied, verstehst du, und das alles ist eine große Einsamkeitsschaffe. Jeder produziert sich, so gut er kann. Es ist auch schwer, mit den Leuten in Kontakt zu kommen, weil es so laut ist. Darum fände ich es gut, wenn sich wieder mehr Bands trauen würden, live zu spielen. Das hat dann einen ganz anderen Charakter. Da kann man brüllen, Sachen sagen, Fressen schneiden, unübliche Sachen machen, sich befreien, sich nicht so alleine fühlen.
Schwarzer: Wie lebst du eigentlich, Nina? Wie vergeht so ein ganz normaler Tag?
Hagen: Ich wohne mit dem Manne, unser Gitarrist und mein Freund, in einer Altbauwohnung in Steglitz. Oft haben wir Besuch, von Lothar zum Beispiel oder dem schwulen Thomas, der arbeitet mal als Vertreter für Rasenmäher bei Karstadt und mal als Kellner. Wenn ich morgens aufstehe und in die Küche gehe, dann kommt meistens aus einer der Türen einer von denen, denn wenn die abends lange bleiben, dann frühstücken wir auch gleich zusammen. Später kommt der Pot und mit dem fahren wir zu unserem Kreuzberger Proberaum. Unterwegs rauchen wir ein Pfeifchen und kommen da ganz munter an. Das zieht sich dann so ein paar Stunden hin, wir gehen was essen, kriegen Besuch von anderen Bands, arbeiten weiter, und abends guckt auch schon mal jemand von den Flying Lesbians hoch. Dann wird noch mal gejamt oder so. Ganz netter Tag. Abends geht’s wieder nach Hause, und ich guck in den Kühlschrank, was es da gibt, und mach noch was. Dann mach ich in der letzten Zeit leider öfter den Fernseher an, und dann geh ich ins Bett, schlaf ein und freu mich auf den nächsten Tag. Oder ich geh auch mal abends weg, wenn Bands spielen, oder in ’ne komische Kneipe.
Schwarzer: Wie reagieren denn da die andern auf dich?
Hagen: Ach, wie reagieren sie... Die kennen mich ja schon alle so. Wenn ich auftauche, dann gucken sie immer, als wär ich ein großes exotisches Wunder, keiner quatscht mit mir. Ich steh dann alleine rum. Höchstens die Schwulen, die quatschen mit mir. Die gehören ja selber auch nicht richtig dazu. Oder nette Frauen, mit denen quatsche ich natürlich auch, so ist es nicht. Aber die meisten staunen eben und denken, ich wär ein bißchen abgehoben oder überkandidelt. Dabei ist das nur Lebensfreude, reine Lebensfreude.

Fortsetzung folgt

Aus: Alice Schwarzer: Warum gerade sie?
Weibliche Rebellen. 15 Begegnungen
mit berühmten Frauen. Frankfurt am Main:
Luchterband Literaturverlag, 1989. S. 183–190, 219–230.

 

Der Abdruck folgt dem Original von 1989 und entspricht damit nicht den heute gültigen Rechtschreibregelungen.

ab|ge|ben <st. V.; hat>: <a. + sich> sich mit etw., jmdm. beschäftigen, befassen: sich mit Gartenarbeit a.; sich viel mit kleinen Kindern, mit Tieren a.; damit gebe ich mich nicht ab.

Bon|go <meist Pl.> [span. (südamerik.) bongó, wohl lautm.]: Trommel kubanischen Ursprungs mit nur einem Fell, paarweise als Jazzinstrument verwendet.

aus|fei|len <sw. V.; hat>: 1. a) durch Feilen in die gewünschte Form bringen; zurechtfeilen: einen Schlüssel a.; b) durch Feilen herstellen: ein Loch a. 2. bis ins Einzelne ausformen, ausarbeiten: eine Rede, einen Aufsatz a.; eine ausgefeilte Skizze.

mies <Adj.> (ugs.): (abwertend) in Verdruss, Ärger, Ablehnung hervorrufender Weise schlecht; unter dem zu erwartenden Niveau: ein -er Job; -es Wetter; eine -e Bruchbude; sie hatte -e Laune; die Bezahlung ist m.

Schaf|fe, die; - [zu schaffen] (Jugendspr. veraltend): großartige Sache, Angelegenheit.

ab|he|ben <st. V.; hat>: (von Flugzeugen, Raketen) sich in die Luft erheben: die Rakete hat von der Startrampe abgehoben; Ü er ist Realist geblieben, hat innerlich nicht abgehoben (hat den Bezug zur Realität nicht verloren).

kan|di|del <Adj>: heiter, lustig: die Kranke war schon wieder k.