Hauslektüre im Deutschunterricht
Didaktisierungsvorschlag zum Buch «Momo» von Michael Ende
Erstellt von Dr. Dana Bartosch, Ruth-Ulrike Deutschmann, Natalia Koslowa
Fortsetzung aus Nr. 01, 02, 03, 04, 05, 07, 08/2009
Lesetext
Siebentes Kapitel
Momo sucht ihre Freunde und wird von einem Feind besucht
«Ich weiß nicht», sagte Momo eines Tages, «es kommt mir so vor, als ob unsere alten Freunde jetzt immer seltener zu mir kommen. Manche hab ich schon lang nicht mehr gesehen.»
Gigi Fremdenführer und Beppo Straßenkehrer saßen neben ihr auf den grasbewachsenen Steinstufen der Ruine und sahen dem Sonnenuntergang zu.
«Ja», meinte Gigi nachdenklich, «mir geht’s genauso. Es werden immer weniger, die meinen Geschichten zuhören. Es ist nicht mehr wie früher. Irgendwas ist los.»
«Aber was?», fragte Momo.
Gigi zuckte die Schultern und löschte gedankenvoll einige Buchstaben, die er auf eine alte Schiefertafel gekratzt hatte, mit Spucke aus. Die Schiefertafel hatte der alte Beppo vor einigen Wochen in einer Mülltonne gefunden und Momo mitgebracht. Sie war natürlich nicht mehr ganz neu und hatte in der Mitte einen großen Sprung, aber sonst war sie noch gut zu gebrauchen.
Seither zeigte Gigi Momo jeden Tag, wie man den oder jenen Buchstaben schreibt. Und da Momo ein sehr gutes Gedächtnis hatte, konnte sie mittlerweile schon ganz gut lesen. Nur mit dem Schreiben ging es noch nicht so recht.
Beppo Straßenkehrer, der über Momos Frage nachgedacht hatte, nickte langsam und sagte: «Ja, das ist wahr. Es kommt näher. In der Stadt ist es schon überall. Es ist mir schon lang aufgefallen.»
«Was denn?», fragte Momo.
Beppo dachte eine Weile nach, dann antwortete er: «Nichts Gutes.» Und abermals nach einer Weile fügte er hinzu: «Es wird kalt.»
«Ach was!», sagte Gigi und legte Momo tröstend den Arm um die Schulter, «dafür kommen jetzt immer mehr Kinder hierher.»
«Ja, deswegen», meinte Beppo, «deswegen.»
«Was meinst du damit?», fragte Momo.
Beppo überlegte lang und antwortete schließlich: «Sie kommen nicht wegen uns. Sie suchen nur einen Unterschlupf.»
Alle drei blickten hinunter auf die runde Grasfläche in der Mitte des Amphitheaters, wo mehrere Kinder ein neues Ballspiel spielten, das sie erst diesen Nachmittag erfunden hatten. Es waren einige von Momos alten Freunden darunter: der Junge mit der Brille, der Paolo gerufen wurde, das Mädchen Maria mit dem kleinen Geschwisterchen Dedé, der dicke Junge mit der hohen Stimme, dessen Name Massima lautete und der andere Junge, der immer etwas verwahrlost aussah und Franco hieß. Aber außerdem waren da noch andere Kinder, die erst seit wenigen Tagen dazugehörten und ein kleinerer Junge, der erst diesen Nachmittag gekommen war. Es schien tatsächlich so, wie Gigi gesagt hatte: Es wurden immer mehr, von Tag zu Tag.
Eigentlich hätte Momo sich gern darüber gefreut. Aber die meisten von diesen Kindern konnten einfach nicht spielen. Sie saßen nur verdrossen und gelangweilt herum und guckten Momo und ihren Freunden zu. Manchmal störten sie auch absichtlich und verdarben alles. Nicht selten gab es jetzt Zank und Streit. Das blieb freilich nicht so, denn Momos Gegenwart tat auch bei diesen Kindern ihre Wirkung und bald fingen sie an selber die besten Ideen zu haben und begeistert mitzuspielen. Aber es kamen eben fast täglich neue Kinder, sie kamen sogar von weit her aus anderen Stadtteilen. Und so fing alles immer wieder von vorn an, denn wie man weiß, genügt ja oft ein einziger Spielverderber, um den anderen alles zu zerstören.
Und dann war da noch etwas, das Momo nicht recht begreifen konnte. Es hatte auch erst in allerjüngster Zeit angefangen. Immer häufiger kam es jetzt vor, dass Kinder allerlei Spielzeug brachten, mit dem man nicht wirklich spielen konnte, zum Beispiel ein ferngesteuerter Tank, den man herumfahren lassen konnte –, aber weiter taugte er zu nichts. Oder eine Weltraumrakete, die an einer Stange im Kreis herumsauste –, aber sonst konnte man nichts damit anfangen. Oder ein kleiner Roboter, der mit glühenden Augen dahinwackelte und den Kopf drehte –, aber zu etwas anderem war er nicht zu gebrauchen.
Es waren natürlich sehr teure Spielsachen, wie Momos Freunde nie welche besessen hatten – und Momo selbst schon gar nicht. Vor allem waren alle diese Dinge so vollkommen bis in jede kleinste Einzelheit hinein, dass man sich dabei gar nichts mehr selber vorzustellen brauchte. So saßen die Kinder oft stundenlang da und schauten gebannt und doch gelangweilt so einem Ding zu, das da herumschnurrte, dahinwackelte oder im Kreis sauste –, aber es fiel ihnen nichts dazu ein. Darum kehrten sie schließlich doch wieder zu ihren alten Spielen zurück, bei denen ihnen ein paar Schachteln, ein zerrissenes Tischtuch, ein Maulwurfshügel oder eine Hand voll Steinchen genügten. Dabei konnte man sich alles vorstellen.
Irgendetwas schien auch heute Abend das Spiel nicht recht gelingen zu lassen. Die Kinder taten eines nach dem anderen nicht mehr mit, bis schließlich alle um Gigi, Beppo und Momo herumsaßen. Sie hofften, dass Gigi vielleicht zu erzählen anfangen würde, aber das ging nicht. Der kleinere Junge, der heute zum ersten Mal erschienen war, hatte nämlich ein Kofferradio bei sich. Er saß ein wenig abseits von den anderen und hatte den Apparat ganz laut gedreht. Es war eine Reklamesendung.
«Könntest du deinen blöden Kasten nicht vielleicht leiser drehen?», fragte der verwahrloste Junge, der Franco hieß, in drohendem Ton.
«Ich kann dich nicht verstehen», sagte der fremde Junge und grinste, «mein Radio geht so laut.»
«Dreh’s sofort leise!», rief Franco und stand auf.
Der fremde Junge wurde ein bisschen blass, antwortete aber trotzig: «Du hast mir überhaupt nichts zu sagen und niemand. Ich kann mein Radio so laut drehen, wie ich mag.»
«Da hat er Recht», meinte der alte Beppo, «wir können’s ihm nicht verbieten. Wir können ihn höchstens bitten.»
Franco setzte sich wieder hin.
«Er soll doch woanders hingehen», sagte er erbittert, «er verdirbt uns schon den ganzen Nachmittag alles.»
«Er wird schon seinen Grund haben», antwortete Beppo und blickte den fremden Jungen freundlich und aufmerksam durch seine kleine Brille an. «Bestimmt hat er den.»
Der fremde Junge schwieg. Nach einer kleinen Weile drehte er sein Radio leise und schaute in eine andere Richtung.
Momo ging zu ihm und setzte sich still neben ihn. Er schaltete das Radio ab.
Eine Weile war es still.
«Erzählst du uns was, Gigi?», bat eines der Kinder, die neu waren. «O ja, bitte», riefen die anderen, «eine lustige Geschichte! – Nein, eine aufregende! – Nein, ein Märchen! – Ein Abenteuer!»
Aber Gigi wollte nicht. Es war das erste Mal, dass das geschah.
«Ich möchte viel lieber», sagte er schließlich, «dass ihr mir was erzählt über euch und euer Zuhause, was ihr so macht und warum ihr hier seid.»
Die Kinder blieben stumm. Ihre Gesichter waren plötzlich traurig und verschlossen.
«Wir haben jetzt ein sehr schönes Auto», ließ sich schließlich eines vernehmen. «Am Samstag, wenn mein Papa und meine Mama Zeit haben, dann wird es gewaschen. Wenn ich brav war, darf ich dabei helfen. Später will ich auch so eins.»
«Aber ich», sagte ein kleines Mädchen, «ich darf jetzt jeden Tag ins Kino, wenn ich mag. Damit ich aufgehoben bin, weil sie leider keine Zeit haben.»
Und nach einer kleinen Pause setzte es hinzu: «Ich will aber nicht aufgehoben sein. Deswegen geh ich heimlich hierher und spar mir das Geld. Wenn ich genug Geld hab, dann kauf ich mir eine Fahrkarte, und dann fahr ich zu den sieben Zwergen.»
«Du bist dumm!», rief ein anderes Kind. «Die gibt’s doch gar nicht.»
«Doch gibt’s die!», sagte das kleine Mädchen trotzig. «Ich hab’s sogar in einem Reiseprospekt gesehen.»
«Ich hab schon elf Märchenschallplatten», erklärte ein kleiner Junge, «die kann ich mir so oft anhören, wie ich will. Früher hat mein Vater mir Abends, wenn er von der Arbeit gekommen ist, immer selber was erzählt. Das war schön. Aber jetzt ist er eben nie mehr da. Oder er ist müde und hat keine Lust.»
«Und deine Mutter?», fragte das Mädchen Maria.
«Die ist jetzt auch immer den ganzen Tag weg.»
«Ja», sagte Maria, «bei uns ist es genauso. Aber zum Glück hab ich Dedé.» Sie gab dem kleinen Geschwisterchen, das auf ihrem Schoß saß, einen Kuss und fuhr fort: «Wenn ich von der Schule komm, dann mach ich uns das Essen warm. Dann mach ich meine Aufgaben. Und dann ...», sie zuckte die Schultern, «na ja, dann laufen wir eben so rum, bis es Abend ist. Meistens kommen wir ja hierher.»
Alle Kinder nickten, denn mehr oder weniger ging es ihnen allen so. «Ich bin eigentlich ganz froh», meinte Franco und sah dabei gar nicht froh aus, «dass meine Alten keine Zeit mehr für mich haben. Sonst fangen sie bloß an zu streiten und ich krieg dann Prügel.»
Jetzt wandte sich ihnen plötzlich der Junge mit dem Kofferradio zu und sagte: «Aber ich, ich kriege jetzt viel mehr Taschengeld als früher!»
«Klar», antwortete Franco, «das machen sie, damit sie uns loswerden! Sie mögen uns nicht mehr. Aber sie mögen sich selbst auch nicht mehr. Sie mögen überhaupt nichts mehr. Das ist meine Meinung.»
«Das ist nicht wahr!», schrie der fremde Junge zornig. «Mich mögen meine Eltern sogar sehr. Sie können doch nichts dafür, dass sie keine Zeit mehr haben. Das ist eben so. Dafür haben sie mir aber jetzt sogar das Kofferradio geschenkt. Es war sehr teuer. Das ist doch ein Beweis – oder?»
Alle schwiegen.
Und plötzlich fing der Junge, der den ganzen Nachmittag der Spielverderber gewesen war, zu weinen an. Er versuchte es zu unterdrücken und wischte sich die Augen mit seinen schmutzigen Fäusten, aber die Tränen liefen in hellen Streifen durch die Schmutzflecken auf seinen Wangen.
Die anderen Kinder sahen ihn teilnahmsvoll an oder blickten zu Boden. Sie verstanden ihn nun. Eigentlich war jedem von ihnen ebenso zumute. Sie fühlten sich alle im Stich gelassen.
«Ja», sagte der alte Beppo nach einer Weile noch einmal, «es wird kalt.»
«Ich darf vielleicht bald nicht mehr kommen», sagte Paolo, der Junge mit der Brille.
«Warum denn nicht?», fragte Momo verwundert.
«Meine Eltern haben gesagt», erklärte Paolo, «ihr seid bloß Faulenzer und Tagediebe. Ihr stehlt dem lieben Gott die Zeit, haben sie gesagt. Deswegen habt ihr so viel. Und weil es von eurer Sorte viel zu viele gibt, haben andere Leute immer weniger Zeit, sagen sie. Und ich soll nicht mehr hierher kommen, weil ich sonst genauso werde wie ihr.»
Wieder nickten einige der Kinder, denen man schon Ähnliches gesagt hatte.
Gigi blickte die Kinder der Reihe nach an. «Glaubt ihr das etwa auch von uns? Oder warum kommt ihr trotzdem?»
Nach kurzem Stillschweigen meinte Franco: «Mir ist das gleich. Ich werd ja später sowieso Straßenräuber, sagt mein Alter immer. Ich bin auf eurer Seite.»
«Ach so», sagte Gigi und zog die Augenbrauen hoch, «ihr haltet uns also auch für Tagediebe?»
Die Kinder schauten verlegen zu Boden. Schließlich blickte Paolo dem alten Beppo forschend ins Gesicht.
«Meine Eltern lügen doch nicht», sagte er leise. Und dann fragte er noch leiser: «Seid ihr denn keine?»
Da erhob sich der alte Straßenkehrer in seiner ganzen, nicht sehr beträchtlichen Größe, streckte drei Finger in die Höhe und sprach: «Ich hab noch nie – noch niemals habe ich in meinem Leben dem lieben Gott oder einem Mitmenschen das kleinste bisschen Zeit gestohlen. Das schwöre ich, so wahr mir Gott helfe!»
«Ich auch!», fügte Momo hinzu.
«Und ich auch!», sagte Gigi ernst.
Die Kinder schwiegen beeindruckt. Keines unter ihnen bezweifelte die Worte der drei Freunde.
«Und überhaupt, jetzt will ich euch mal was sagen», fuhr Gigi fort. «Früher sind die Leute immer gern zu Momo gekommen, damit sie ihnen zuhört. Sie haben sich dabei selbst gefunden, wenn ihr versteht, was ich meine. Aber jetzt fragen sie danach nicht mehr viel. Früher sind die Leute auch immer gern gekommen, um mir zuzuhören. Dabei haben sie sich selbst vergessen. Danach fragen sie auch nicht mehr viel. Sie haben keine Zeit mehr für so was, sagen sie. Und für euch haben sie auch keine Zeit mehr. Merkt ihr was? Es ist doch merkwürdig, wofür sie keine Zeit mehr haben!»
Er machte die Augen schmal und nickte. Dann fuhr er fort: «Neulich habe ich in der Stadt einen alten Bekannten getroffen, einen Friseur, Fusi heißt er. Ich hatte ihn eine Weile nicht mehr gesehen und hätte ihn bald nicht mehr wiedererkannt, so verändert war er, nervös, mürrisch, freudlos. Früher war er ein netter Kerl gewesen, konnte sehr hübsch singen und hatte über alles seine ganz besonderen Gedanken. Für alles das hat er plötzlich keine Zeit mehr. Der Mann ist nur noch sein eigenes Gespenst, er ist überhaupt nicht mehr Fusi, versteht ihr? Wenn er’s nur allein wäre, dann würde ich einfach denken, dass er ein bisschen verrückt geworden ist. Aber wo man hinschaut, sieht man solche Leute. Und es werden immer mehr. Jetzt fangen sogar unsere alten Freunde auch damit an! Ich frage mich wirklich, ob es Verrücktheit gibt, die ansteckend ist?»
Der alte Beppo nickte. «Bestimmt», sagte er, «es muss eine Art Ansteckung sein.»
«Aber dann», meinte Momo ganz bestürzt, «müssen wir unseren Freunden doch helfen!»
An diesem Abend berieten sie alle gemeinsam noch lang, was sie tun könnten. Aber von den grauen Herren und deren rastloser Tätigkeit ahnten sie nichts.
Während der nächsten Tage machte Momo sich auf die Suche nach ihren alten Freunden, um von ihnen zu erfahren, was los war und warum sie nicht mehr zu ihr kamen.
Zuerst ging sie zu Nicola, dem Maurer. Sie kannte das Haus gut, wo er oben unter dem Dach ein kleines Zimmer bewohnte. Aber er war nicht da. Die anderen Leute im Haus wussten nur, dass er jetzt drüben in den großen Neubauvierteln auf der anderen Seite der Stadt arbeite und eine Menge Geld verdiene. Er käme jetzt nur noch selten nach Hause und wenn, dann meistens sehr spät. Er sei jetzt auch oft nicht mehr ganz nüchtern und man könne überhaupt nicht mehr gut mit ihm auskommen.
Momo beschloss, auf ihn zu warten. Sie setzte sich vor seine Zimmertür auf die Treppe. Es wurde langsam dunkel und sie schlief ein.
Es musste schon spät in der Nacht sein, als sie durch polternde Schritte und rauen Gesang geweckt wurde. Es war Nicola, der die Treppe heraufschwankte. Als er das Kind sah, blieb er verdutzt stehen.
«He, Momo!», brummte er und es bereitete ihm sichtlich Verlegenheit, dass sie ihn so sah. «Gibt’s dich auch noch! Was suchst du denn hier?»
«Dich», antwortete Momo schüchtern.
«Na, du bist mir vielleicht eine!», sagte Nicola und schüttelte lächelnd den Kopf. «Kommt hier mitten in der Nacht her, um nach ihrem alten Freund Nicola zu sehen. Ja, ich hätte dich ja auch schon längst mal wieder besucht, aber ich hab einfach keine Zeit mehr für solche ... Privatsachen.»
Er machte eine fahrige Bewegung mit der Hand und setzte sich schwer neben Momo auf die Treppe.
«Was meinst du, was bei mir jetzt los ist, Kind! Das ist nicht mehr wie früher. Die Zeiten ändern sich. Da drüben, wo ich jetzt bin, da wird ein anderes Tempo vorgelegt. Das geht wie der Teufel. Jeden Tag hauen wir ein ganzes Stockwerk drauf, eins nach dem anderen. Ja, das ist eine andere Sache als früher! Da ist alles organisiert, jeder Handgriff, verstehst du, bis ins Letzte hinein ...»
Er redete weiter und Momo hörte ihm aufmerksam zu. Und je länger sie das tat, desto weniger begeistert klang seine Rede. Plötzlich hielt er inne und wischte sich mit seinen schwieligen Händen übers Gesicht. «Alles Unsinn, was ich da rede», sagte er auf einmal traurig. «Du siehst, Momo, ich hab wieder mal zu viel getrunken. Ich geb’s zu. Ich trink jetzt oft zu viel. Anders kann ichs nicht aushalten, was wir da machen. Das geht einem ehrlichen Maurer gegen das Gewissen. Viel zu viel Sand im Mörtel, verstehst du? Das hält alles vier, fünf Jahre, dann fällt es zusammen, wenn einer hustet. Alles Pfusch, hundsgemeiner Pfusch! Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste sind die Häuser, die wir da bauen. Das sind überhaupt keine Häuser, das sind – das sind – – Seelensilos sind das! Da dreht sich einem der Magen um! Aber was geht mich das alles an? Ich kriege eben mein Geld und basta. Na ja, die Zeiten ändern sich. Früher, da war das anders bei mir, da war ich stolz auf meine Arbeit, wenn wir was gebaut hatten, was sich sehen lassen konnte. Aber jetzt ... Irgendwann, wenn ich genug verdient hab, häng ich meinen Beruf an den Nagel und mach was anderes.»
Er ließ den Kopf hängen und starrte trübe vor sich hin. Momo sagte nichts, sie hörte ihm nur zu.
«Vielleicht», fuhr Nicola leise nach einer Weile fort, «sollte ich wirklich mal wieder zu dir kommen und dir alles erzählen. Ja, wirklich, das sollte ich. Sagen wir gleich morgen, ja? Oder lieber übermorgen? Na, ich muss sehen, wie ich’s einrichten kann. Aber ich komm bestimmt. Also, abgemacht?»
«Abgemacht», antwortete Momo und freute sich. Und dann trennten sie sich, denn sie waren beide sehr müde.
Aber Nicola kam weder am nächsten noch am übernächsten Tag. Er kam überhaupt nicht. Vielleicht hatte er wirklich nie mehr Zeit.
Als Nächsten besuchte Momo den Wirt Nino und seine dicke Frau. Das kleine alte Haus, mit dem regenfleckigen Verputz und der Weinlaube vor der Tür, lag am Stadtrand. Wie früher ging Momo hinten herum zur Küchentür. Die stand offen und Momo hörte schon von weitem, dass Nino und seine Frau Liliana einen heftigen Wortwechsel hatten. Liliana hantierte mit Töpfen und Pfannen am Herd. Ihr dickes Gesicht glänzte von Schweiß. Nino redete gestikulierend auf seine Frau ein. In einer Ecke saß das Baby der beiden in einem Korb und schrie.
Momo setzte sich leise neben das Baby. Sie nahm es auf den Schoß und schaukelte es sacht, bis es still war. Die beiden Eheleute unterbrachen ihr Wortgefecht und schauten hin.
«Ach, Momo, du bist es», sagte Nino und lächelte flüchtig. «Nett, dass man dich mal wieder sieht.»
«Willst du was zu essen?», fragte Liliana ein wenig barsch.
Momo schüttelte den Kopf.
«Was willst du denn?», erkundigte Nino sich nervös. «Wir haben im Moment wahrhaftig keine Zeit für dich.»
«Ich wollte nur fragen», antwortete Momo leise, «warum ihr schon so lang nicht mehr zu mir gekommen seid?»
«Ich weiß auch nicht!», sagte Nino gereizt. «Wir haben jetzt wirklich andere Sorgen.»
«Ja», rief Liliana und klapperte mit den Töpfen, «er hat jetzt ganz andere Sorgen! Zum Beispiel, wie man alte Gäste hinausekelt, das sind jetzt seine Sorgen! Erinnerst du dich an die alten Männer, Momo, die früher immer an dem Tisch in der Ecke saßen? Weggejagt hat er sie! Hinausgeworfen hat er sie!»
«Das habe ich nicht getan!», verteidigte sich Nino. «Ich habe sie höflich gebeten, sich ein anderes Lokal zu suchen. Dazu habe ich als Wirt das Recht.»
«Das Recht, das Recht!», erwiderte Liliana aufgebracht. «So was tut man einfach nicht. Das ist unmenschlich und gemein. Du weißt genau, dass sie kein anderes Lokal finden. Bei uns haben sie keine Menschenseele gestört!»
«Natürlich haben sie keine Menschenseele gestört!», rief Nino. «Weil nämlich kein anständiges, zahlendes Publikum zu uns gekommen ist, so lang diese unrasierten alten Kerle da herumhackten. Glaubst du, so was gefällt den Leuten? Und an dem einzigen Glas billigen Rotwein, das jeder von denen sich pro Abend leisten kann, ist für uns nichts zu verdienen! Da bringen wir es nie zu was!»
«Wir sind bis jetzt ganz gut ausgekommen», gab Liliana zurück.
«Bis jetzt, ja!», antwortete Nino heftig.
«Aber du weißt ganz genau, dass es so nicht weitergeht. Der Hausbesitzer hat mir die Pacht erhöht. Ich muss jetzt ein Drittel mehr bezahlen als früher. Alles wird teurer. Woher soll ich das Geld nehmen, wenn ich aus meinem Lokal ein Asyl für arme alte Tatterer mache? Warum soll ich die anderen schonen? Mich schont ja auch keiner.»
Die dicke Liliana stellte eine Pfanne so hart auf den Herd, dass es knallte.
«Jetzt will ich dir mal was sagen», rief sie und stemmte die Arme in ihre breiten Hüften. «Zu diesen armen alten Tatterern, wie du sie nennst, gehört zum Beispiel auch mein Onkel Ettore! Und ich erlaube nicht, dass du meine Familie beschimpfst! Er ist ein guter und ehrlicher Mann, auch wenn er nicht so viel Geld hat wie dein zahlendes Publikum!»
«Ettore kann ja wiederkommen!», erwiderte Nino mit großer Geste. «Ich hab’s ihm gesagt, er kann bleiben, wenn er will. Aber er will ja nicht.»
«Natürlich will er nicht – ohne seine alten Freunde! Was stellst du dir vor? Soll er vielleicht ganz allein da draußen in einem Winkel hocken?»
«Dann kann ich’s eben nicht ändern!», schrie Nino. «Ich habe jedenfalls keine Lust, mein Leben als kleiner Spelunkenwirt zu beenden – bloß aus Rücksicht auf deinen Onkel Ettore! Ich will es auch zu was bringen! Ist das vielleicht ein Verbrechen? Ich will diesen Laden hier in Schwung bringen! Ich will etwas machen aus meinem Lokal! Und ich tue es nicht nur für mich. Ich tue es genauso für dich und für unser Kind. Kannst du das denn nicht begreifen, Liliana?»
«Nein», sagte Liliana hart, «wenn es nur mit Herzlosigkeit geht – wenn es schon so anfängt, dann ohne mich! Dann geh ich eines Tages auf und davon. Mach, was du willst!»
Und sie nahm Momo das Baby, das inzwischen wieder zu weinen angefangen hatte, aus dem Arm und lief aus der Küche.
Längere Zeit sagte Nino nichts. Er zündete sich eine Zigarette an und drehte sie zwischen den Fingern.
Momo schaute ihn an.
«Na ja», sagte er schließlich, «es waren ja nette Kerle. Ich mochte sie ja selber gern. Weißt du, Momo, es tut mir ja selber Leid, dass ich ... aber was soll ich machen? Die Zeiten ändern sich eben. Vielleicht hat Liliana Recht», fuhr er nach einer Weile fort. «Seit die Alten weg sind, kommt mir mein Lokal irgendwie fremd vor. Kalt, verstehst du? Ich kann’s selbst nicht mehr leiden. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll. Aber alle machen’s doch heute so. Warum soll ich allein es anders machen? Oder meinst du, ich soll’s?» Momo nickte unmerklich.
Nino schaute sie an und nickte ebenfalls. Dann lächelten sie beide.
«Gut, dass du gekommen bist», sagte Nino. «Ich hatte schon ganz vergessen, dass wir früher bei so was immer gesagt haben: Geh doch zu Momo! – Aber jetzt werde ich wieder kommen, mit Liliana. Übermorgen ist bei uns Ruhetag, da kommen wir. Einverstanden?»
«Einverstanden», antwortete Momo.
Dann gab Nino ihr noch eine Tüte voll Äpfel und Orangen und sie ging nach Hause.
Und Nino und seine dicke Frau kamen tatsächlich. Auch das Baby brachten sie mit und einen Korb voll guter Sachen.
«Stell dir vor, Momo», sagte Liliana strahlend, «Nino ist zu Onkel Ettore und den anderen Alten, jedem Einzelnen, hingegangen, hat sich entschuldigt und sie gebeten, wiederzukommen.»
«Ja», fügte Nino lächelnd hinzu und kratzte sich hinter dem Ohr, «sie sind alle wieder da – mit dem Aufschwung meines Lokals wird es wohl nichts werden. Aber es gefällt mir wieder.»
Er lachte und seine Frau sagte: «Wir werden schon weiterleben, Nino.»
Es wurde ein sehr schöner Nachmittag und als sie schließlich gingen, versprachen sie, bald wiederzukommen.
Und so suchte Momo einen ihrer alten Freunde nach dem anderen auf. Sie ging zu dem Schreiner, der ihr damals das Tischchen und die Stühle aus Kistenbrettern gemacht hatte. Sie ging zu den Frauen, die ihr das Bett gebracht hatten. Kurz, sie sah nach allen, denen sie früher zugehört hatte und die davon gescheit, entschlossen oder froh geworden waren. Alle versprachen wiederzukommen. Manche hielten ihr Versprechen nicht oder konnten es nicht halten, weil sie keine Zeit dazu fanden. Aber viele alte Freunde kamen tatsächlich wieder und es war fast so wie früher.
Ohne es zu wissen, kam Momo damit den grauen Herren in die Quere. Und das konnten sie nicht dulden.
Kurze Zeit später – es war an einem besonders heißen Mittag – fand Momo auf den Steinstufen der Ruine eine Puppe.
Nun war es schon öfter vorgekommen, dass Kinder eines der teuren Spielzeuge, mit denen man nicht wirklich spielen konnte, einfach vergessen und liegen gelassen hatten. Aber Momo konnte sich nicht erinnern, diese Puppe bei einem der Kinder gesehen zu haben. Und sie wäre ihr bestimmt aufgefallen, denn es war eine ganz besondere Puppe. Sie war fast so groß wie Momo selbst und so naturgetreu gemacht, dass man sie beinahe für einen kleinen Menschen halten konnte. Aber sie sah nicht aus wie ein Kind oder ein Baby, sondern wie eine schicke junge Dame oder eine Schaufensterfigur. Sie trug ein rotes Kleid mit kurzem Rock und Riemchenschuhe mit hohen Absätzen.
Momo starrte sie fasziniert an.
Als sie sie nach einer Weile mit der Hand berührte, klapperte die Puppe einige Male mit den Augendeckeln, bewegte den Mund und sagte mit einer Stimme, die etwas quäkend klang, als käme sie aus einem Telefon: «Guten Tag. Ich bin Bibigirl, die vollkommene Puppe.»
Momo fuhr erschrocken zurück, aber dann antwortete sie unwillkürlich: «Guten Tag, ich heiße Momo.»
Wieder bewegte die Puppe ihre Lippen und sagte: «Ich gehöre dir. Alle beneiden dich um mich.»
«Ich glaub nicht, dass du mir gehörst», meinte Momo. «Ich glaub eher, dass dich jemand hier vergessen hat.»
Sie nahm die Puppe und hob sie hoch. Da bewegten sich deren Lippen wieder und sie sagte: «Ich möchte noch mehr Sachen haben.»
«So?», antwortete Momo und überlegte. «Ich weiß nicht, ob ich was hab, das zu dir passt. Aber warte mal, ich zeig dir meine Sachen, dann kannst du ja sagen, was dir gefällt.»
Sie nahm die Puppe und kletterte mit ihr durch das Loch in der Mauer in ihr Zimmer hinunter. Sie holte eine Schachtel mit allerlei Schätzen unter dem Bett hervor und stellte sie vor Bibigirl hin.
«Hier», sagte sie, «das ist alles, was ich hab. Wenn dir was gefällt, dann sag’s nur.»
Und sie zeigte ihr eine hübsche bunte Vogelfeder, einen schön gemaserten Stein, einen goldenen Knopf, ein Stückchen buntes Glas. Die Puppe sagte nichts und Momo stieß sie an.
«Guten Tag», quäkte die Puppe, «ich bin Bibigirl, die vollkommene Puppe.»
«Ja», sagte Momo, «ich weiß schon. Aber du wolltest dir doch was aussuchen, Bibigirl. Hier hab ich zum Beispiel eine schöne rosa Muschel. Gefällt sie dir?»
«Ich gehöre dir», antwortete die Puppe, «alle beneiden dich um mich.»
«Ja, das hast du schon gesagt», meinte Momo. «Aber wenn du nichts von meinen Sachen magst, dann können wir vielleicht spielen, ja?»
«Ich möchte noch mehr Sachen haben», wiederholte die Puppe.
«Mehr hab ich nicht», sagte Momo. Sie nahm die Puppe und kletterte wieder ins Freie hinaus. Dort setzte sie die vollkommene Bibigirl auf den Boden und nahm ihr gegenüber Platz.
«Wir spielen jetzt, dass du zu mir zu Besuch kommst», schlug Momo vor.
«Guten Tag», sagte die Puppe, «ich bin Bibigirl, die vollkommene Puppe.»
«Wie nett, dass Sie mich besuchen!», erwiderte Momo. «Woher kommen Sie denn, verehrte Dame?»
«Ich gehöre dir», fuhr Bibigirl fort, «alle beneiden dich um mich.»
(Aus: Michael Ende: Momo. K. Thienemanns Verlag,
Stuttgart 2002)