Главная страница «Первого сентября»Главная страница журнала «Немецкий язык»Содержание №14/2009

Hauslektüre im Deutschunterricht

Didaktisierungsvorschlag zum Buch «Momo» von Michael Ende

Erstellt von Dr. Dana Bartosch, Ruth-Ulrike Deutschmann, Natalia Koslowa

Fortsetzung aus Nr. 01, 02, 03, 04, 05, 07, 08, 09, 10, 11, 12, 13/2009

Lesetext
Zehntes Kapitel

Eine wilde Verfolgung und eine geruhsame Flucht

Der alte Beppo radelte auf seinem quietschenden Fahrrad durch die Nacht. Er eilte sich, so sehr er konnte. Immer wieder klangen ihm die Worte des grauen Richters im Ohr: «... Wir werden uns dieses merkwürdigen Kindes annehmen ... Sie können versichert sein, Angeklagter, dass es uns nicht noch einmal schaden wird ... dafür werden wir mit allen Mitteln sorgen ...»
Kein Zweifel, Momo war in größter Gefahr! Er musste sofort zu ihr, musste sie vor den Grauen warnen, musste sie vor ihnen beschützen – obwohl er nicht wusste wie. Aber das würde er schon herausfinden. Beppo trat in die Pedale. Sein weißer Haarschopf flatterte. Der Weg bis zum Amphitheater war noch weit.

Die ganze Ruine war grell erleuchtet von den Scheinwerfern vieler eleganter grauer Autos, die sie von allen Seiten umstellt hatten. Dutzende von grauen Herren eilten die grasbewachsenen Stufen hinauf und hinunter und durchsuchten jeden Schlupfwinkel. Schließlich entdeckten sie auch das Loch in der Mauer, hinter dem Momos Zimmer lag. Einige von ihnen kletterten hinein und guckten unter das Bett und sogar in den gemauerten Ofen.
Dann kamen sie wieder heraus, klopften sich die feinen grauen Anzüge ab und zuckten die Schultern.
«Der Vogel ist ausgeflogen», sagte einer.
«Es ist empörend», meinte ein anderer, «dass Kinder in der Nacht herumstrolchen, anstatt ordentlich in ihren Betten zu liegen.»
«Das gefällt mir ganz und gar nicht», erklärte ein dritter. «Das sieht fast so aus, als hätte sie jemand rechtzeitig gewarnt.»
«Undenkbar!», sagte der erste. «Der Betreffende hätte ja schon früher als wir von unserem Beschluss wissen müssen!»
Die grauen Herren blickten einander alarmiert an.
«Falls sie tatsächlich von dem Betreffenden gewarnt worden ist», gab der dritte zu bedenken, «dann ist sie sicherlich nicht mehr hier in der Gegend. Wir würden gerade durch weiteres Suchen hier nur unnütz Zeit verlieren.»
«Haben Sie einen besseren Vorschlag?»
«Nach meiner Ansicht müssten wir sofort die Zentrale benachrichtigen, damit diese den Befehl zum Großeinsatz gibt.»
«Die Zentrale wird uns als Erstes fragen, ob wir die Umgebung auch tatsächlich gründlich abgesucht haben und das mit Recht.»
«Also gut», sagte der erste graue Herr, «durchsuchen wir zunächst die Umgebung. Aber wenn das Mädchen inzwischen von dem Betreffenden Hilfe bekommen hat, dann machen wir damit einen großen Fehler.»
«Lächerlich!», fuhr ihn der andere böse an. «In diesem Fall kann die Zentrale immer noch Großeinsatz anordnen. Dann werden sich sämtliche verfügbaren Agenten an der Jagd beteiligen. Das Kind hat nicht die geringste Chance uns zu entkommen. Und nun°– an die Arbeit, meine Herren! Sie wissen, was auf dem Spiel steht.»
In dieser Nacht wunderten sich viele Leute in der Gegend, warum der Lärm der vorbeirasenden Autos überhaupt nicht mehr verstummen wollte. Selbst die kleinsten Seitenstraßen und holperigsten Kieswege waren bis zum Morgengrauen von einem Getöse erfüllt wie sonst nur die großen Hauptverkehrsstraßen.
Man konnte kein Auge zutun. – Zur nämlichen Stunde wanderte die kleine Momo, von der Schildkröte geführt, langsam durch die große Stadt, die jetzt niemals mehr schlief, selbst zu dieser späten Nachtzeit nicht.
Rastlos jagten und hasteten die Menschen in riesigen Massen durcheinander, schoben sich gegenseitig ungeduldig beiseite, rempelten sich an oder trotteten hintereinander her in endlosen Kolonnen. Auf den Fahrbahnen drängten sich die Autos, dazwischen dröhnten riesige Omnibusse, die ständig überfüllt waren. An den Häuserfassaden flammten die Leuchtreklamen auf, übergossen das Gewühl mit ihrem bunten Licht und erloschen wieder.
Momo, die alles das noch nie gesehen hatte, ging wie im Traum und mit großen Augen immer hinter der Schildkröte her. Sie überquerten weite Plätze und hell erleuchtete Straßen, die Autos rasten hinter ihnen und vor ihnen vorüber, Passanten umdrängten sie, aber niemand beachtete das Kind mit der Schildkröte.
Die beiden mussten auch niemals jemand ausweichen, wurden niemals angestoßen, kein Auto musste ihretwegen bremsen. Es war, als wisse die Schildkröte mit völliger Sicherheit vorher, wo in welchem Augenblick gerade kein Auto fahren, kein Fußgänger gehen würde. So mussten sie sich niemals eilen und niemals anhalten, um zu warten. Und Momo begann sich zu wundern, wie man so langsam gehen und doch so schnell vorankommen konnte.

Als Beppo Straßenkehrer endlich beim alten Amphitheater ankam, entdeckte er, noch ehe er abgestiegen war, im schwachen Schein seiner Fahrradlampe die vielen Reifenspuren rund um die Ruine. Er ließ sein Rad ins Gras fallen und lief zu dem Loch in der Mauer.
«Momo!», raunte er zuerst und dann noch einmal lauter: «Momo!» Keine Antwort.
Beppo schluckte, seine Kehle war trocken. Er kletterte durch das Loch in den stockdunklen Raum hinunter, stolperte und verstauchte sich den Fuß. Mit zitternden Fingern entzündete er ein Streichholz und schaute sich um.
Das Tischchen und die beiden Stühle aus Kistenholz waren umgestoßen, die Decken und die Matratzewaren aus dem Bett gerissen. Und Momo war nicht da.
Beppo biss sich auf die Lippen und unterdrückte ein heiseres Aufschluchzen, das ihm für einen Augenblick die Brust zerreißen wollte.
«Mein Gott», murmelte er, «o mein Gott, sie haben sie schon weggeholt. Mein kleines Mädchen haben sie schon weggeholt. Ich bin zu spät gekommen. Was soll ich denn jetzt machen? Was mach ich denn jetzt nur?» Dann verbrannte ihm das Streichholz die Finger, er warf es weg und stand im Finstern.
So rasch er konnte, kletterte er wieder ins Freie und humpelte auf seinem verstauchten Fuß zu seinem Fahrrad. Er schwang sich hinauf und strampelte los.
«Gigi muss ran!», sagte er immer wieder vor sich hin. «Jetzt muss Gigi ran! Hoffentlich find ich den Schuppen, wo er schläft.»
Beppo wusste, dass Gigi sich seit kurzem ein paar zusätzliche Pfennige verdiente, indem er jeden Sonntag nachts im Werkzeugschuppen einer kleinen Autoausschlachterei schlief. Dort sollte er aufpassen, dass nicht wieder, wie früher schon öfter, noch brauchbare Autotei­le abhanden kamen.
Als Beppo den Schuppen endlich erreicht hatte und mit der Faust gegen die Tür hämmerte, hielt Gigi sich zunächst mucksmäuschenstill, für den Fall, dass es sich um die Autoteil-Diebe handeln sollte. Aber dann erkannte er Beppos Stimme und machte auf.
«Was ist denn los?», jammerte er erschrocken. «Ich kann es nicht leiden, wenn man mich so brutal aus dem Schlaf reißt.»
«Momo! ...», stieß Beppo hervor, der nach Atem rang, «Momo ist irgendwas Schreckliches passiert!»
«Was sagst du?», fragte Gigi und setzte sich fassungslos auf seine Liegestatt. «Momo? Was ist denn geschehen?»
«Ich weiß es selbst noch nicht», keuchte Beppo, «was Schlimmes.»
Und nun erzählte er alles, was er erlebt hatte: vom Hochgericht auf der Müllhalde, von den Reifenspuren um die Ruine und dass Momo nicht mehr da war. Es dauerte natürlich eine Weile, bis er alles vorgebracht hatte, denn trotz aller Angst und Sorge um Momo konnte er nun einmal nicht schneller reden.
«Ich hab’s von Anfang an geahnt», schloss er seinen Bericht. «Ich hab gewusst, dass es nicht gut gehen würde. Jetzt haben sie sich gerächt. Sie haben Momo entführt! O Gott, Gigi, wir müssen ihr helfen! Aber wie? Aber wie?»
Während Beppos Worten war langsam alle Farbe aus Gigis Gesicht gewichen. Ihm war, als sei ihm plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen. Bis zu diesem Augenblick war alles für ihn ein großes Spiel gewesen. Er hatte es so ernst genommen, wie er jedes Spiel und jede Geschichte nahm – ohne dabei je an Folgen zu denken. Zum ersten Mal in seinem Leben ging eine Geschichte ohne ihn weiter, machte sich selbständig und alle Phantasie der Welt konnte sie nicht rückgängig machen! Er fühlte sich wie gelähmt.
«Weißt du, Beppo», begann er nach einer Weile, «es könnte ja auch sein, dass Momo einfach ein bisschen spazieren gegangen ist. Das tut sie doch manchmal. Einmal ist sie sogar schon drei Tage und Nächte im Land herumgestrolcht. Ich meine, bis jetzt haben wir vielleicht noch gar keinen Grund, uns solche Sorgen zu machen.»
«Und die Reifenspuren?», fragte Beppo aufgebracht. «Und die herausgerissene Matratze?»
«Na ja», gab Gigi ausweichend zur Antwort, «nehmen wir mal an, es wäre wirklich irgendwer da gewesen. Wer sagt dir denn, dass er Momo gefunden hat? Vielleicht war sie schon vorher weg. Sonst wäre doch nicht alles durchgesucht und umgewühlt.»
«Wenn sie sie aber doch gefunden haben», schrie Beppo, «was dann?»
Er packte den jüngeren Freund an den Jackenaufschlägen und schüttelte ihn. «Gigi, sei kein Narr! Die grauen Herren sind Wirklichkeit! Wir müssen irgendwas tun und zwar sofort!»
«Beruhige dich doch, Beppo», stotterte Gigi erschrocken. «Natürlich werden wir etwas unternehmen. Aber das muss gut überlegt sein. Wir wissen ja noch nicht mal, wo wir Momo überhaupt suchen sollen.»
Beppo ließ Gigi los. «Ich geh zur Polizei!», stieß er hervor.
«Sei doch vernünftig!», rief Gigi entsetzt. «Das kannst du doch nicht machen! Nimm mal an, die gehen los und finden unsere Momo wirklich. Weißt du, was die dann mit ihr machen? Weißt du das, Beppo? Weißt du, wo streunende elternlose Kinder hinkommen? In so ein Heim stecken sie sie, wo Gitter an den Fenstern sind! Das willst du unserer Momo antun?»
«Nein», murmelte Beppo und starrte ratlos vor sich hin, «das will ich nicht. Aber wenn sie doch vielleicht in Not ist?»
«Aber stell dir vor, wenn sie’s nicht ist», fuhr Gigi fort, «wenn sie vielleicht wirklich nur ein bisschen herumstrolcht und du hetzt ihr die Polizei auf den Hals. Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, wenn sie dich dann zum letzten Mal anschaut.»
Beppo sank auf einen Stuhl am Tisch nieder und legte das Gesicht auf die Arme.
«Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll», stöhnte er, «ich weiß es einfach nicht.»
«Ich finde», meinte Gigi, «wir sollten auf jeden Fall bis morgen oder übermorgen warten, ehe wir was unternehmen. Wenn sie dann immer noch nicht zurück ist, können wir ja zur Polizei gehen. Aber wahrscheinlich ist bis dahin alles längst wieder in Ordnung und wir lachen alle drei über den ganzen Unsinn.»
«Meinst du?», murmelte Beppo, den auf einmal eine steinerne Müdigkeit übermannte. Für den alten Mann war es heute ein bisschen viel gewesen.
«Aber sicher», antwortete Gigi und zog Beppo den Schuh von dem verstauchten Fuß. Er half ihm auf das Lager hinüber und packte den Fuß in ein nasses Tuch.
«Wird schon wieder werden», sagte er sanft, «wird alles wieder werden.»
Als er sah, dass Beppo schon eingeschlafen war, seufzte er und legte sich selbst auf den Fußboden, seine Jacke als Kissen unter den Kopf geschoben. Aber schlafen konnte er nicht. Die ganze Nacht musste er an die grauen Herren denken. Und zum ersten Mal in seinem bisher so unbekümmerten Leben überfiel ihn Angst.

Aus der Zentrale der Zeit-Spar-Kasse war der Befehl zum Großeinsatz gegeben worden. Sämtliche Agenten in der großen Stadt hatten Anweisung erhalten, jede andere Tätigkeit zu unterbrechen und sich ausschließlich mit der Suche nach dem Mädchen Momo zu beschäftigen. In allen Straßen wimmelte es von den grauen Gestalten; sie saßen auf den Dächern und in den Kanalisationsschächten, sie kontrollierten unauffällig die Bahnhöfe und den Flugplatz, die Autobusse und die Straßenbahnen – kurzum, sie waren überall.
Aber das Mädchen Momo fanden sie nicht.

«Du, Schildkröte», fragte Momo, «wo führst du mich eigentlich hin?» Die beiden wanderten eben durch einen dunklen Hinterhof.
«KEINE ANGST!», stand auf dem Rücken der Schildkröte.
«Hab ich auch nicht», sagte Momo, nachdem sie es entziffert hatte. Aber sie sagte es mehr zu sich selbst, um sich Mut zu machen, denn ein wenig bang war ihr schon.
Der Weg, den die Schildkröte sie führte, wurde immer sonderbarer und verschlungener. Sie waren schon durch Gärten gelaufen, über Brücken, durch Unterführungen, Toreinfahrten und Hausflure, ja, einige Male sogar schon durch Keller. Hätte Momo gewusst, dass ein ganzes Heer von grauen Herren sie verfolgte und suchte, sie hätte vermutlich noch viel mehr Angst gehabt. Aber davon ahnte sie nichts und deshalb folgte sie geduldig und Schritt für Schritt der Schildkröte auf ihrem scheinbar so verworrenen Weg. Und das war gut. So wie die Schildkröte vorher ihren Weg durch den Straßenverkehr gefunden hatte, schien sie nun auch genau vorauszuwissen, wann und wo die Verfolger auftauchen würden. Manchmal kamen die grauen Herren schon einen Augenblick später an einer Stelle vorüber, an der die beiden eben gewesen waren. Aber sie begegneten ihnen niemals.
«Ein Glück, dass ich schon so gut lesen kann», sagte Momo ahnungslos, «findest du nicht?»
Auf dem Rückenpanzer der Schildkröte blinkte wie ein Warnlicht die Schrift: «STILL!»
Momo verstand nicht warum, aber sie befolgte die Anweisung. In geringer Entfernung gingen drei dunkle Gestalten vorüber.
Die Häuser des Stadtteils, in dem sie jetzt waren, wurden immer grauer und schäbiger. Hohe Mietskasernen, an denen der Verputz abbröckelte, säumten die Straßen voller Löcher, in denen das Wasser stand. Hier war alles dunkel und menschenleer.

In die Zentrale der Zeit-Spar-Kasse kam die Nachricht, dass das Mädchen Momo gesehen worden sei.
«Gut», war die Antwort, «habt ihr sie fest? »
«Nein, sie war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Wir haben ihre Spur wieder verloren.»
«Wie kann das sein?»
«Das fragen wir uns selbst. Irgendwas stimmt da nicht.»
«Wo befand sie sich, als ihr sie gesehen habt?»
«Das ist es ja gerade. Es handelt sich um eine Gegend der Stadt, die uns völlig unbekannt ist.»
«Eine solche Gegend gibt es nicht», stellte die Zentrale fest. «Offenbar doch. Es ist – wie soll man sagen? – als ob diese Gegend ganz am Rande der Zeit liegt. Und das Kind bewegte sich auf diesen Rand zu.»
«Was?», schrie die Zentrale. «Verfolgung aufnehmen! Ihr müsst sie fassen, um jeden Preis! Habt ihr verstanden?»
«Verstanden!», kam die aschengraue Antwort.

Zuerst dachte Momo, es sei die Morgendämmerung; aber dieses seltsame Licht war so plötzlich gekommen, genau genommen in dem Augenblick, als sie in diese Straße eingebogen waren. Hier war es nicht mehr Nacht, aber es war auch nicht Tag. Und diese Dämmerung glich weder der des Morgens noch der des Abends. Es war ein Licht, das die Konturen aller Dinge unnatürlich scharf und klar hervorhob und doch von nirgendwo herzukommen schien – oder vielmehr von überallher zugleich. Denn die langen schwarzen Schatten, die sogar die kleinsten Steinchen auf der Straße warfen, liefen in ganz verschiedene Richtungen, als würde jener Baum dort von links, dieses Haus von rechts und das Denkmal da drüben von vorn beleuchtet.
Übrigens sah das Denkmal selbst auch recht sonderbar aus. Auf einem großen würfelförmigen Sockel aus schwarzem Stein stand ein riesengroßes weißes Ei. Das war alles. Aber auch die Häuser waren anders als alle, die Momo je gesehen hatte. Sie waren von einem fast blendenden Weiß. Hinter den Fenstern lagen schwarze Schatten, sodass man nicht sehen konnte, ob dort überhaupt jemand wohnte. Aber irgendwie hatte Momo das Gefühl, dass diese Häuser gar nicht gebaut waren, um bewohnt zu werden, sondern um einem anderen, geheimnisvollen Zweck zu dienen.
Diese Straßen waren vollkommen leer, nicht nur von Menschen, sondern auch von Hunden, Vögeln und Autos. Alles schien reglos und wie in Glas eingeschlossen. Nicht der kleinste Windhauch regte sich.
Momo wunderte sich, wie schnell sie hier vorankamen, obgleich die Schildkröte eher noch langsamer ging als bisher.

Außerhalb dieses seltsamen Stadtteils, dort wo Nacht war, jagten drei elegante Autos mit leuchtenden Scheinwerfern die zerlöcherte Straße entlang. In jedem saßen mehrere graue Herren. Einer, der im vordersten Wagen saß, hatte Momo entdeckt, als sie in die Straße mit den weißen Häusern eingebogen war, wo das seltsame Licht anfing.
Als sie jedoch diese Ecke erreicht hatten, geschah etwas höchst Unbegreifliches. Die Autos kamen plötzlich nicht mehr vom Fleck. Die Fahrer traten aufs Gas, die Räder jaulten, aber die Autos liefen am Ort, etwa so, als ob sie auf einem fahrenden Band stünden, das mit gleicher Geschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung lief. Und je mehr sie beschleunigten, desto weniger kamen sie vorwärts. Als die grauen Herren das merkten, sprangen sie fluchend aus den Wagen und versuchten Momo, die sie weit in der Ferne gerade noch erkennen konnten, zu Fuß einzuholen. Sie rannten mit verzerrten Gesichtern und als sie endlich erschöpft innehalten mussten, waren sie im Ganzen gerade zehn Meter weit vorangekommen. Und das Mädchen Momo war irgendwo in der Ferne zwischen den schneeweißen Häusern verschwunden.
«Aus», sagte einer der Herren, «aus und vorbei! Jetzt kriegen wir sie nicht mehr.»
«Ich begreife nicht», meinte ein anderer, «warum wir nicht mehr vom Fleck gekommen sind.»
«Ich auch nicht», antwortete der erste, «die Frage ist nur, ob man uns das als mildernde Umstände für unser Versagen zugute halten wird.»
«Sie meinen, man wird uns vor Gericht stellen?»
«Na, belobigen wird man uns ganz bestimmt nicht.»
Alle beteiligten Herren ließen die Köpfe hängen und setzten sich auf Kühler und Stoßstangen ihrer Autos. Sie hatten es nicht mehr eilig.

Schon weit, weit fort, irgendwo im Gewirr der leeren, schneeweißen Straßen und Plätze, ging Momo hinter der Schildkröte her. Und gerade, weil sie so langsam gingen, war es, als glitte die Straße unter ihnen dahin, als flögen die Gebäude vorüber. Wiederum bog die Schildkröte um eine Ecke, Momo folgte ihr – und blieb überrascht stehen. Diese Straße bot einen völlig anderen Anblick als alle vorigen.
Es war eigentlich mehr ein enges Gässchen. Die Häuser, die sich links und rechts aneinander drängten, sahen aus wie lauter zierliche Paläste aus Glas, voller Türmchen, Erkerchen und Terrassen, die undenkliche Zeiten auf dem Meeresgrund gestanden hatten und nun plötzlich aufgestiegen waren, von Tang und Algen überhangen und mit Muscheln und Korallen bewachsen. Und das Ganze spielte sanft in allen Farben wie Perlmutter.
Dieses Gässchen lief auf ein einzelnes Haus zu, das seinen Abschluss bildete und quer zu den übrigen stand. In seiner Mitte befand sich ein großes grünes Tor, das kunstvoll mit Figuren bedeckt war.
Momo blickte zu dem Straßenschild hinauf, das sich gleich über ihr an der Wand befand. Es war aus weißem Marmor und auf ihm stand in goldenen Lettern:

NIEMALS-GASSE

Momo hatte mit Schauen und Buchstabieren nur ein paar Augenblicke gesäumt, dennoch war die Schildkröte nun schon weit voraus, fast am Ende der Gasse vor dem letzten Haus.
«Warte doch auf mich, Schildkröte!», rief Momo, aber sonderbarerweise konnte sie ihre eigene Stimme nicht hören.
Dagegen schien die Schildkröte sie gehört zu haben, denn sie blieb stehen und schaute sich um. Momo wollte ihr folgen, aber als sie nun in die Niemals-Gasse hineinging, war es ihr plötzlich, als ob sie unter Wasser gegen einen mächtigen Strom angehen müsse, oder gegen einen gewaltigen und doch unspürbaren Wind, der sie einfach zurückblies. Sie stemmte sich schräg gegen den rätselhaften Druck, zog sich an Mauervorsprüngen weiter und kroch manchmal auf allen Vieren. «Ich komm nicht dagegen an!», rief sie schließlich der Schildkröte zu, die sie klein am anderen Ende der Gasse sitzen sah. «Hilf mir doch!»
Langsam kam die Schildkröte zurück. Als sie schließlich vor Momo saß, erschien auf ihrem Panzer der Rat: «RÜCKWÄRTS GEHEN!»
Momo versuchte es. Sie drehte sich um und ging rückwärts. Und plötzlich gelang es ihr, ohne jede Schwierigkeit weiterzukommen. Aber es war höchst merkwürdig, was dabei mit ihr geschah. Während sie nämlich so rückwärts ging, dachte sie zugleich auch rückwärts, sie atmete rückwärts, sie empfand rückwärts, kurz – sie lebte rückwärts!
Schließlich stieß sie gegen etwas Festes. Sie drehte sich um und stand vor dem letzten Haus, das die Straße quer abschloss. Sie erschrak ein wenig, weil die figurenbedeckte Tür aus grünem Metall von hier aus nun plötzlich ganz riesenhaft erschien.
«Ob ich sie überhaupt aufkriege?», dachte Momo zweifelnd. Aber im selben Augenblick öffneten sich schon die beiden mächtigen Torflügel. Momo blieb noch einen Moment lang stehen, denn sie hatte über der Tür ein weiteres Schild entdeckt. Es wurde von einem weißen Einhorn getragen und auf ihm war zu lesen:

DAS NIRGEND-HAUS

Da Momo nicht besonders schnell lesen konnte, waren die beiden Torflügel schon wieder dabei, sich langsam zu schließen, als sie fertig war.
Sie huschte rasch noch hindurch, dann schlug das gewaltige Tor mit leisem Donner hinter ihr zu.
Sie befand sich jetzt in einem hohen, sehr langen Gang. Links und rechts standen in regelmäßigen Abständen nackte Männer und Frauen aus Stein, welche die Decke zu tragen schienen. Von der geheimnisvollen Gegenströmung war hier nichts mehr zu bemerken. Momo folgte der Schildkröte, die vor ihr her krabbelte, durch den langen Gang. An dessen Ende blieb das Tier vor einem sehr kleinen Türchen sitzen, gerade groß genug, dass Momo gebückt durchkommen konnte.
«WIR SIND DA», stand auf dem Rückenpanzer der Schildkröte. Momo hockte sich nieder und sah direkt vor ihrer Nase auf der kleinen Tür ein Schildchen mit der Aufschrift:

MEISTER SECUNDUS MINUTIUS HORA

Momo holte tief Atem und drückte dann entschlossen auf die kleine Klinke. Als das Türchen sich öffnete, wurde ein vielstimmiges musikalisches Ticken und Schnarren und Klingen und Schnurren von drinnen hörbar. Das Kind folgte der Schildkröte und die kleine Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.

(Aus: Michael Ende: Momo. K. Thienemanns
Verlag, Stuttgart 2002)

 

Didaktisierungsvorschlag

Leseverstehen – globales Lesen

1. Lesen Sie nur den ersten Abschnitt des Kapitels.
Stellen Sie sich vor, Sie sind Beppo: Wie werden Sie das Amphitheater vorfinden? Was werden Sie weiter tun?

2. Lesen Sie das Kapitel und vergleichen Sie anschließend mit Ihren Vermutungen.

Leseverstehen – selektives Lesen

3. Welcher Abschnitt des zehnten Kapitels führt die Handlung welcher Figuren fort?

4. Schauen Sie sich in Gruppen (Gruppe 1: Beppo; Gruppe 2: Momo; Gruppe 3: die grauen Herren) die einzelnen Abschnitte noch einmal an. Was passiert? Tragen Sie Stichpunkte in die Tabelle ein.

 

Beppo

Momo

die grauen Herren

Inhalt: Was passiert?

 

 

 

 

 

 

 

 

5. Berichten Sie anschließend für Ihre Figur im Plenum und ergänzen Sie die Tabelle mit den Informationen zu den anderen Figuren.

Reflexion, Interpretation

6. Beschreiben Sie die Wirkung dieser Parallelhandlungen auf den Leser. Wie ist die Dynamik dieses Kapitels?

7. Suchen und notieren Sie die sprachlichen Mittel, mit denen die Stadt und die Niemals-Gasse beschrieben werden und stellen Sie sie gegenüber.

Stadt

Niemals-Gasse

Menschen hasten, jagen in riesigen Massen
...
hell erleuchtete Plätze und Straßen
...
Omnibusse dröhnen
...

schneeweiße Straßen
...

 

8. Welche Wirkung wird erzielt?
– Warum muss man Ihrer Meinung nach langsam oder gar rückwärts gehen, um schnell vorwärts zu kommen?
– Warum führt Ihrer Meinung nach eine Schildkröte Momo zu Meister Hora?
– Was assoziieren Sie mit den Bezeichnungen «Niemals-Gasse» und «Nirgend-Haus»? Warum wurden sie Ihrer Meinung nach gewählt?
– Erinnern Sie sich an Gigis Gedanken. Warum fühlt er sich wie gelähmt? Inwiefern unterscheiden sich Spiel und Ernst?

Sprechen: Rollenspiel

9. Arbeiten Sie zu zweit. Oft denkt man etwas anderes, als man sagt. Schauen Sie sich das Gespräch zwischen Beppo und Gigi an. Notieren Sie die Aussagen von Beppo und Gigi und überlegen Sie, welche Gedanken die beiden während des Gesprächs gehabt haben könnten, z. B.:

Beppo

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Gigi

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Setzen Sie nun fort...

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10. Tragen Sie anschließend im Plenum vor. Achten Sie darauf, z. B. mithilfe Ihrer Stimme Gesprochenes und Gedachtes unterschiedlich darzustellen.

Wortschatz

11. Mit welchen sprachlichen Mitteln wird in diesem Kapitel die Kategorie der Angst dargestellt? Ergänzen Sie.

sich wie gelähmt fühlen

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12. Was bedeutet die Redewendung «auf dem Spiel stehen»?

13. Suchen Sie im (phraseologischen) Wörterbuch weitere Ausdrücke (Redewendungen), die das Wort «Spiel» beinhalten und erklären Sie sie.


Wortschatz, Schreiben

14. Kapitel 10 ist spannend wie ein Krimi, es gibt sogar eine Verfolgungsjagd durch die Stadt. Versuchen Sie mithilfe des Lernwortschatzes selbst einen Mini-Krimi zu verfassen. Folgende Wörter werden Ihnen bestimmt dabei helfen.

jmdn. warnen vor (Dat.) • entkommen (Dat.) • auf dem Spiel stehen • kein Auge zutun • ausweichen (Dat.) • ahnen • sich rächen an (Dat.) für (Akk.) • in Not sein • verworren • die Spur verlieren • um jeden Preis

 

Wortschatz

15. Markieren Sie die Wörter aus der Wortliste im Text und überprüfen Sie, ob Sie die Bedeutung des Wortes kennen. Wenn Sie ein Wort nicht kennen, schauen Sie im Wörterbuch nach und notieren Sie die Bedeutung.

16. Übersetzen Sie die Sätze ggf. ins Russische.

17. Bilden Sie Beispielsätze mit den Wörtern der Wortliste.

Lernwortschatz

1. jmdn. warnen vor (Dat.)
2. der Betreffende
3. entkommen (Dat.)
4. auf dem Spiel stehen
5. kein Auge zutun
6. ausweichen (Dat.)
7. etw. ahnen
8. sich rächen an (Dat.) für (Akk.)
9. gelähmt
10. annehmen
11. sonst
12. vernünftig
13. in Not sein
14. verworren
15. die Spur verlieren
16. um jeden Preis
17. vom Fleck kommen
18. beschleunigen

Fortsetzung folgt